Dialektik der Antikapitalismen

Anstöße zur Diskussion

Spes contra spem -Hoffen, wenn alle Hoffnung vergangen ist

Spes contra spem -
Hoffen, wenn alle Hoffnung vergangen ist

I.

Kapitalistische Vergesellschaftung ist selbstverständlich. Wie immer man sie belobigen oder beweinen mag. Das ist es, was sich im 20. Jahrhundert über alle Katarakte hinweg, teilweise mit Hilfe dieser Katarakte herausgepaukt hat: die von Marx schon kapitallogisch begriffene Weltordnung.
Schon zu früheren Zeiten, besonders seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts hat das machende Ausmaß globalisierter Realität erstaunt. Globalität als zuständliche Größe und weitere Globalisierung als dynamische Veränderung sind jedoch seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts derart vorangetrieben worden, dass nun erstmals allen grabentiefen Ungleichheiten zum Trotz von einer kapitalistisch involvierten Welt gesprochen werden muss. Diejenigen Länder oder fast ganze Kontinente wie Afrika (Dick Barnet sprich zurecht vom "forgotten continent"), die noch nicht oder nicht mehr ›mitkommen‹ werden ihren kapitalistisch marginalisierten, dem Scheine nach autochthonen Gewaltbalgereien mit UN-Tränen überlassen. Das ist der hauptsächliche Grund - zusammen mit dem damit einhergehenden Ende "realsozialistischer" Herrschaftsversuche -, der Eric Hobsbawm dazu veranlasste, vom kurzen 20. Jahrhundert zu reden, eingeklemmt zwischen den Ausbruch des 1. Weltkriegs und die den Zerfall konstatierende Selbsttoterklärung der Sowjetunion 1991. Es wird durch die restlose Kehre zur etablierten und sich verfeinernd ausfällenden Globalisierung beendet. Dieser globale, in seinen Inklusionen exkludierende, in seinen Eingrenzungen ausgrenzende Kapitalismus ist jedoch kein gnädig toleranter ›Sieger‹, der diverse politisch ökonomisch herrschende "Glaubensarten" zuließe. Er ist midasgemäß unerbittlich, unersättlich und selbst ohne andere Chance. Sprich: kapitalistische Vergesellschaftung ist im Gegensatz zu ihren politisch ökonomischen, meist ihren politologischen Schönrednern strikt anti-plural. Sie ist. Also expandiert sie. Konsequent soll sie weiter gelten. Tertium non datur.
Diese inklusive Exklusivität zeichnet sich im Hinblick auf die Schar ihrer meist zerstreuten und randständigen Kritikerinnen und Kritiker unter anderem dadurch aus: - dass ihre verschieden mächtigen Repräsentanten quer durch alle Institutionen, die im engeren Sinne ›ökonomischen‹ nicht einmal an erster Stelle, von ihrem gesetzesförmigen Naturcharakter überzeugt und in diesem Sinne als Theologen, notfalls auch inquisitorisch weltweit aktiv sind. Es gibt nur eine Wahrheit als Resultante des hoch vermachteten, von kollektiven Quasiakteuren sichtbar betriebenen Weltmarkts und seiner "trickle down effects" bis hinunter zur Fülle der Lokalitäten und ihrer menschlichen Atome; - dass kapitalistische Entwicklung als antiutopische Utopie für die übergroßen Mehrheiten aller Gesellschaften ›glaubwürdig‹ und verhaltenswirksam vertreten werden kann: als würden kapitalistischer Arbeitsmarkt-, kapitalistische Sozial-, Bildungs- und Entwicklungswidersprüche samt ihrer eingelagerten Konflikte und einer weltweit verteilten Geopolitik der Armut über kurz oder lang qua überall exerzierten Marktöffnungen und über kurz oder länger eintretenden Wachstumsschüben ebenso behebbar sein wie behoben werden. In diesem Sinne wirken gerade die habend Herrschenden den nichthabend Nichtherrschenden gegenüber vorbildhaft positiv. Sie zeigen, dass wir "in the long run" nicht, wie Keynes kundig bemerkte, alle tot sind, sondern, koste es, was es wolle, auf einer dicker werdenden Humusschicht des Wohlstands zu leben vermögen (und an den ›Kosten‹ verrecken immer die anderen);
- dass der Kapitalismus ohne Alternative die aufgeherrschte Mobilität und Flexibilität habituell verinnerlichen macht. Konkurrierendes Versagen im mehrstufigen Wettlauf wird als eigenes Versagen erfahren. Es führt dazu, das eigene chancengeringe Trimm-dich noch intensiver zu betreiben, auf dass eine Entpolitisierung im Sinne des Gegenteils der Bildung von Assoziationen und der Teilnahme an Gegenaktionen die Regel wird; - dass die Gegenaktionen ›von unten‹ in der Regel bald stecken bleiben und - wichtig genug - allenfalls die harten Reibungsverluste kapitalistischer Konkurrenz oder des Mangels an Möglichkeiten, daran auch nur teilzunehmen, von verstreuten lokalen Gruppen gemildert werden. Versuche, kapitalistische Herrschaftsökonomie ›von oben‹ zu ändern, wenn es gelungen ist, für alternativ akzentuierte Gruppen und Einzelne Regierungsbeteiligungen zu ergattern, werden im Rahmen vom Weltmarkt und ›Zwängen‹ rasch mehr oder minder restlos kooptiert.
Das antikapitalistische Engagement wird von den herrschenden kapitalistischen Verhältnissen und ihren diversen Saugnäpfen geradezu mühelos eingemeindet. Noch oppositionelle Argumente und Versuche werden kapitalistisch eingemeindet. Das geschieht nicht automatisch. Überall auf dem ungleichen Globus sorgen interessierte Gruppen dafür samt ihren meist staatlich, notfalls auch polizeilich geförderten Interessen, dass die Bildung von Assoziationen gehemmt, blockiert und möglichst dissoziativ entbildet werde. Dass keine gegenhegemonialen Ideen mehr und mehr Menschen ergreifen können. In diesem Sinne gibt es weltweit, staatlich und lokal ein hegemoniales Management auf mehreren Ebenen. Die Wirkungen antikapitalistischer Emeuten und Verhaltenssplitter sind nicht zu unterschätzen. Gleicherweise aber wäre es töricht, gering zu achten, wie verhaltenswirksam die weithin abstrakt vorgegebenen Strukturen und Institutionen definieren. Die negative Vergesellschaftung ›lebt‹ zum einen gerade von ihrer dissoziativen Kraft. Zum anderen gewinnt sie eine unendliche Kette von Motiven daraus, dass Erfolge nicht ausbleiben: in der Konkurrenz im Einzelnen und den Klassen der Habenden und Herrschenden je nach Ländern kollektiv verschieden. Das Leistungsmotiv von schon vor der Wiege bis nach der Bahre und seine positiven Sanktionen für diejenigen, die es schaffen, macht das Paradoxon der nicht gesellschaftlichen Gesellschaft möglich. Es handelt sich um eine allgemeine "Versportlichung" (darum ist, nebenbei gesagt, das, was im längst kapitalistisch professionalisierten Sport bis hinunter zum Kindersport passiert, alles andere als nebensächlich). Die "Objektivität" kapitalistischer Verhältnisse macht die menschlichen Subjekte durchgehend zu abhängigen Variablen. Also versteht sich die kapitalistische Vergesellschaftung von selbst. Überall besteht sie. Alles durchdringt sie. Das, was ihr antikapitalistisch entgegensteht, kann nur im kapitalistisch gesetzten Rahmen in schier verschwindenden Minderheiten antreten; dem davon bestimmten Spielfeld und seinen Regeln.

II.

Nötige antikapitalistische Lernprozesse. Sollen Lernprozesse nicht von vornherein kapitalistisch absorbiert werden mit tödlichem Ausgang für alle auf radikale Alternativen bezogene Konzeptionen und/oder Protestformen, sind Folgerungen erforderlich. Sie sind immer erneut zu erproben. a) Am Anfang steht das Erfordernis zusätzlicher Analyse. Gäbe es das marxsche Werk nicht, man müsste es neu erfinden. Damit man verstehe, was kapitalistisch der Fall ist. Zugleich aber gilt: man muss mit verbessertem, Brechts Verfremdungstechnik verstärkenden ethnologischem Blick die Gegenwart kapitalistischer Vergesellschaftung wahrnehmen. Sonst widerspräche man all dem, was historisch materialistische Analyse ausmacht.
b) Die Bedeutung der Erstreckungen und Quantitäten. Jeder Spatz pfeift es seit 200 Jahren immer kecker und kreischender von den Rinnsteinen: Kapitalismus, moderne Verkehrswirtschaft, wie Max Weber sich auszudrücken beliebte, zeichnet sich durch seine "economies of scale", durch seine Produktions-, Zirkulations- und Reproduktionsprozesse auf großer Stufenleiter aus. Die Stufenleitern werden länger und länger, vermittelter und vermittelter. Massenproduktion; produktivistische Expansionen der tendenziellen ›All-Ver-Warung‹, Große Maschinerien - siehe Marx dazu besonders einsichtsvolle Faszination in den Grundrissen -, nationale, internationale, globale Märkte ... wer nennt die Ausdehnungen, bezeichnet ausufernde Vergegenständlichungen und vergegenständlichte Menschen, die kapitalistisch jeden Tag neu zusammenkommen?! Im Kapitalismus nichts Neues also? Nein und ja. Die Kontinua sind prägsam. Dennoch macht es mehrere Differenzen ums Ganze, ob die Globalisierung eine inhärente Tendenz darstellt. Ob beispielsweise britische Kapitalisten und Staat Hand in Hand im seinerzeit ersten "workshop of the world" - trefflich dazu Hobsbawms Büchersequenz - Ende des 19. / Anfang des 20. Jahrhunderts fast singulär, über ein höheres Niveau von FdI (= Foreign direct investments) verfügten oder ob im letzten Schub seit den Siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine Form der Globalität erreicht wird, die die gesamte bewohnte Erde zu ihren Rhythmen Tanzen macht.
c) Globalisierung, Wachstum und Introversion. Globalisierung bedeutet Zunahme der Abstraktion. Auch für diese Beobachtung gilt, dass Abstrahierung, also Abstraktion als ein Prozess kapitalistischer Vergesellschaftung eignet - fast im Oxymoron ausgedrückt: das Merkmalslose wird Merkmal. Das ›Uneigentümliche‹ wird zur Eigentümlichkeit. Das lateinische Verbum abstrahere bedeutet zunächst dies. Abstrahere heißt "absehen von" oder "berauben". Beides meint: absehen von Besonderem oder, deutlicher, des Eigentümlichen berauben. Das abstrakte Mittel nimmt seinerseits mehrere Funktionen an. Aus einem Mittel wird wenigstens ein Mit-Subjekt versachlichter Art. Sein Name mit (fast) allen Möglichkeiten im Rucksack: Geld - vgl. erneut die Geldkapitel in den Grundrissen als erste Einführung.
Zum einen: ein sich totalisierender Welt-›Markt‹ - die weniger ironisch als kognitiv nötigen Anführungszeichen sind immer mitzudenken - bedarf auch im Kontext des expansiven ›Real‹- oder Industriekapitals und seiner weltweiten Produktionsstätten eines abstrakten Mittelziels (fast einer aristotelischen Formursache ähnlich), das dieser aktuell höchsten aller irdisch realisierbaren Abstraktion korrespondiert: das ist das vollends aller irdischen Schwere, allem Eigenwert ledige virtuelle Geld. Dieses Geld aber, das nun eine allein globalkapitalistisch erträgliche Leichtigkeit des Seins gewonnen hat, kann gerade aufgrund seiner selbst innerkapitalistischen Abgehobenheit, seinen quasisubjektiven Funktionen als Orientierungs- und Regulierungseinheit eine Eigendynamik entwickeln, die aller üblichen Haushaltspolitik entfleucht.
Die extreme Dissoziation, von Ulrich Beck und anderen Toren "Individualisierung" genannt (mit der impliziten Annahme, bei diesen abstrakten Individuen handele es sich um gehfähige, mit allen Organen ausgestattete, bewusstseins- und entscheidungsfähige Personen), schafft eine neue global vereinzelte Interessenbindung, einen in ihr steckenden a-sozial-abstrakten gesellschaftlichen Zusammenhalt. Viele wichtigen Untersuchungen habe ich nicht zur Kenntnis genommen, die diesen Fragen im Zusammenhang kapitalismuskritisch, nicht kapitalismusmimetisch nachgehen. So hoffe ich wenigstens vermuten zu dürfen. Auf meinem unzureichenden Stand des Wissens scheint es mir jedoch ein beträchtliches Defizit, wie wenig die Kapitalanalyse nach Marx Anstrengungen eines gewiss nicht simplen Begriffs der spezifischen Eigenarten dieses globalen Kapitalismus unternimmt - Marx sah diese Entwicklungen erst anheben. Der fragmentarisch gebliebene Dritte Band des Kapitals drückt das u.a. aus.
Zum anderen: Globale Entgrenzung findet am Globus ihre Grenze. Das bedeutet im Unterschied zu den "alten" Imperialismustheorien der vorletzten Jahrhundertwende, die noch eher krisensüchtig Kolonialisierungen durch kapitalistische Länder im Sinne der Externalisierung kapitalistisch angelegter Krisen zu begreifen suchten, dass alle Externalisierung nur noch in Form der Internalisierung erfolgen kann (s. ein wenig ausführlicher von mir in der ProKla, 2003). Nun werden die noch nicht durch die "open door policies" herrschender Ökonomien geöffneten Länder dem ›Markt‹ restlos zugänglich zu machen gesucht. Diese mehrdimensionale kapitalistische Durchdringung, eine Aufhebung aller gesellschaftlichen Bereiche in Form der Dissoziation und der Verengung auf sich "rechnende" Interessen, kann als tendenziell unbegrenzte Sublimierung kapitalistischer Abstraktion verstanden werden. Zusätzlich drängt die Frage, was diese Entwicklung über die humanen Kosten hinaus an veränderten Konfliktpotenzialen in sich berge.
d) Aus dem Ruder gelaufen: (gesellschaftliche) Statik und Dynamik. Ein augenöffnender Aufsatz Adornos (1962) handelt von diesen beiden widersprüchlichen, aber nicht dichotomen gesellschaftlichen Aggregatzuständen und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung. Unschwer einzusehen ist, dass eher statisch verharrende Gesellschaften, in denen der lokale/regionale Raumbezug dominiert, der Vormoderne zuzuordnen sind, eher dynamische, also linear zeitlich in die Zukunft gerichtete der Moderne. Sowohl primär statisch wie primär dynamisch akzentuierte Gesellschaften haben ihre Gefahren, die in Sachen "statisches Gesellschaftskonzept" dann katastrophal aktuell werden, wenn eine "moderne Verkehrsgesellschaft" statisch vorwärts gezwungen werden soll. Der Nazismus mit seinen dynamischen Instrumenten, von der Partei als "Bewegung" an bis zur "Endlösung" als menschensäubernder Raumnahme "blut- und bodenverhafteter Arier", fand darin seine hauptsächlichen terroristischen Eigenarten. Von "Moderne" zu reden, heißt auch, von Erfindungen sprechen. Karl Mannheim hat in den dreißiger Jahren die moderne Sequenz durch eine Verbenfolge kurzzufassen gesucht: "finden, erfinden, planen." (Mannheim 1958, 175ff) John McDermott hat später an Stelle des kapitalistischen Marktprinzips im 19. Jahrhundert, laissez faire, laissez aller, das gesetzt, was Mannheim unter "planen" verstanden hat: laissez innover (McDermott 1975). Verführe man inhaltsanalytisch quantitativ, ließe sich feststellen, dass der Ausdruck "Innovation" tatsächlich die Schlüsselgröße der letzten Jahrzehnte darstellt. Zum wiederholten Male trifft zu: die Bedeutung strikt technischer, neuerdings technologischer Innovationen mit erheblichen gesellschaftlichen Effekten ist kapitalismusalt - siehe ebenfalls erneut Marx zur Großen Maschinerie in den Grundrissen. Wollte man beschreiben, wie sich Herrschaft vergrößert, in alle menschlichen Regionen gedrungen, beschleunigt und intensiviert hat, man könnte es an ihren kommunikativen Schüben tun: vom ersten Straßenbau, der Eisenbahn, dem Straßen- und Autobau gegenwartwärts bis zu den heute defnierenden Informations- und Kommunikationstechnologien. Nur bei prinzipiell ›unberührter‹ Kapital-Herrschaft werden die sozialen Voraussetzungen und Folgen schier enthemmt produziert, die Technologien, also nicht nur als Instrumente begrenzte Techniken, als ihre sozialen Bedingungen benötigen. Die Quadriga der Arbeitsmarkt-, der Forschungs-, der Bildungs- und der Sozialpolitiken, wie sie in den letzten Jahrzehnten unbeschadet aller Varianten nicht zuletzt von den kapitalistisch und militaristisch führenden Staaten gefahren wird, demonstriert die rücksichtslose Instrumentalisierung der Unterworfenen (= Subjekte) techno-logischen Kapitals. Die wieder enger verfingerten Vorkehrungen innerer und äußerer Sicherheit sollen u.a. dafür sorgen, die dissoziierten, wenngleich quantitativ massenhaften Verluste technologischen Fortschritts, soÂ’s nottut, in präventiver Repression zu entsorgen. Die funktionale Superabstraktion ermöglicht die Technologien. Ohne sie wären die globalisierten Tatsachen - als die faits sociaux dÂ’aujourdÂ’hui! - heute nicht wirksam und nanotechnologisch weiterzuentwickeln. Hinzu kommt erneut die Veralltäglichung technologischer Neuerungen als Sozialersatz bis in den Intimbereich.
Ist angesichts der kapitalistisch bestimmten Dynamik der Technologisierung in Form und Funktion der sozialistisch weithin vertretene produktivkräftige Technik-/
Technologieglaube noch angebracht? Kaum! Auf den Zaubermeister Goethes, der den inkompetenten Lehrling ablöst, wird man nicht mehr zurückgreifen können dürfen. Die Technologien sind nicht kapitalismusfrei zu haben.

III.

MarxÂ’ Bemerkung, dass ›das Kapital‹ eine soziale Beziehung darstelle, ist bekanntlich keine randständige Fußnote. Sie ist für die Kritik der politischen Ökonomie zentral. Aus dieser emphatisch politisch-sozialen Einsicht gegen alle naturalistischen Fetischisierereien sind jedenfalls in Richtung des globalisierten Kapitalismus unzureichende Konsequenzen gezogen worden. Wie unzureichend diese sind, ist auf den ersten Blick daran zu erkennen, wie die innere Ausdifferenzierung kapitalistischer Gesellschaftsformation, mit Bourdieu ausgedrückt, in ökonomische, politische und kulturelle Kapitalverhältnisse, als handele es sich um eigene Größen, verdinglicht und systematisiert worden ist.
Erste Konsequenz: nicht im Sinne der reichlich analysearmen und in die herrschende Gesellschaft wohl eingepackten akademischen Fächer verstanden, hat alle Kritik politischer Ökonomie (vom unerreichten Adam Smith bis zu den hinter mathematisierenden Formeln verborgenen neoklassischen Ideologen) als eine Kritik der politischen Soziologie zu beginnen und zu verfahren. Sprich: durchgehend sind Macht- und Herrschaftsverhältnisse, ist die nicht anthropologisch zu naturalisierende, aber historisch anthropologisch allemal naheliegende Suche und Sucht nach individuellen und kollektiven Oberhänden in der immer erneuerten Struktur gesellschaftlicher Ungleichheiten wahrzunehmen und in allen alternativen Formen zu beachten. Dauernde Macht- und Herrschaftsverhältnisse werden schon mit den ersten Arbeitsteilungen installiert: die Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen und, noch durchgehender, die Teilung zwischen eher kopfarbeitenden und eher handarbeitenden Tätigkeiten. Der nicht angeborene, aber überaus nahe liegende Drang ›oben zu wohnen‹ erklärt, warum in aller Regel unter den ungleichen gesellschaftlichen Bedingungen, in denen alle sozialisiert werden, Ungleichheit selbst für die nicht zum Skandal wird, die ›unten wohnen‹, wo sie ›die schweren Ruder der Schiffe‹ bewegen müssen. Nahezu alle Formen der Anerkennung, das dichte Gespinst positiver und negativer Sanktionen weben mit dem Mittel der Ungleichheit. Nicht soziale Gleichheit, sondern Ungleichheit versteht sich in nahezu allen Gesellschaften fast von selbst: Ungleichheit ist Trumpf. Am penetrantesten ist dies ohne Frage in der kapitalistischen Gesellschaft der Fall. Ihr Alpha und Omega sind ungleiche gesellschaftliche Verhältnisse, deren Reproduktion und deren neue Produktion. Will man sozialistisch-anarchistisch prinzipielle Gleichheit der Lebensbedingungen, den ersten Grund möglicher Demokratie, erreichen, bedarf es, wie die ungewöhnliche Anarchistin Simone Weil trefflich bemerkte, nicht allein besonderer Anstrengungen der Begründung. Es bedarf auch unablässig eigener organisatorischer Anstrengungen (Kramer/Sigrist 1978). Pierre Clastre hat solche Anstrengungen schon an Jäger- und Hirtengesellschaften beobachtet. Sie scheinen ›gewusst‹ zu haben, dass alle Herrschaft materielle Ungleichheiten im weiten Sinne nur zuspitzt. Keine Weise der Vergesellschaftung beruht von der ersten Prämisse an, ich wiederhole mich, so sehr auf Ungleichheit, der Produktion von Ungleichheit und dem vergesellschaftenden Kitt von Ungleichheit wie die kapitalistische. Diese durchgehende Charakteristik gilt für die neoliberal dominierte Globalisierung der aktuellen Stufe am meisten.
Sie ist gerade nicht ›ökonomisch‹ im Sinne eng zweckrationaler Effizienz zu begreifen, sondern als Macht- und Herrschaftstatsache an erster Stelle. Das Adjektiv "neoliberal" darf freilich nicht dazu verführen, anzunehmen, es habe sich zu "altliberalen" Zeiten oder zu Zeiten, da sozialpolitisch Unterschiede grosso modo besser abgefedert wurden, prinzipiell anders verhalten. Die Vergesellschaftung qua Ungleichheit ist es zugleich (die sich in viele Ungleichheiten ausdifferenziert), die das Interesse an kapitalistischer Vergesellschaftung nicht nur ›oben‹ anhält. Dort freilich zuerst und vor allem. Das ist es, was all die vielfachen Konkurrenzen am Laufen hält: das Streben nach ungleichen Positionen mit all ihren weniger in-, als vielmehr exkludierenden Folgen. Nur wenn die vieldimensionalen Politiken der Attraktion und Differenzierung qua Ungleichheit begriffen werden - als efficient and dignified functions zugleich -, ist die Stärke kapitalistischer Vergesellschaftung zu ermessen.
Zweite Konsequenz: Die Erörterungen über das "Verhältnis" von "Staat" und "Kapital", von "Ökonomie" und "Politik" sind Legion. Sie halten an. Analytisch ärgerlich ist hierbei jedoch nicht nur das "Entitätengerede". In die Irre führt mehr noch die ›ewige‹ sozialdemokratische, sozialpolitische und meist auch sozialwissenschaftliche Annahme, ›der‹ Staat sei so weitgehend eigenfundiert, unbeschadet seiner abhängigen Eigenart als "Steuerstaat", dass darauf zu setzen lohne, ›ihn‹ zu beeinflussen, wenn nicht zu ›erobern‹. Dann könne es gelingen, der primär ökonomisch begriffenen kapitalistischen Dynamik die schlimmsten Reißzähne zu kappen. Ohne luhmannesk ein evolutionistisches Gesetz moderner Ausdifferenzierung hochzuschreiben, wäre es falsch, den eigenen funktionalen Stellenwert der ausdifferenzierten Tandempartner zu verkennen, wie sie formell privat als Ökonomie und formell öffentlich als Staat zuerst ausgefällt worden sind. Die "Staat" genannten, allenfalls in ihren Frühzeiten personal einheitlich gebündelten Institutionen zeichneten sich, einmal etabliert, durch ihr blutig errungenes Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit, den darin beschlossenen Anspruch allgemeiner Geltung und die sie bewirkende allgemeine Legitimation aus. Darum wird bis heute auch ›links‹ staatlich, öffentlich und allgemein bis zur neueren, neoliberal komplementären Debatte um die "öffentlichen Güter" allzu oberflächlich miteinander gleichgesetzt. Die Logik der Interessen, die die beiden nah, aber nicht aus einer Wurzel entstandenen hauptsächlichen Rationalisierungsinstitutionen der Moderne ausdifferenziert entwickeln machte, sobald sie etabliert "siamesisch" wurden - ich lasse das "kulturelle Kapital" und seine Produktionsformen dazwischen außer acht -,
gilt in veränderten Formen und Funktionen in Zeiten globalen Kapitalismus gleicherweise. Wie immer es jedoch mit der begrifflich falschen "Autonomie" staatlicher Institutionen ohne Autarkie sein Bewenden gehabt haben mag, in diesen Zeiten global verdichteter und verschärfter Konkurrenz anzunehmen, ohnehin ausgeleierte und vielfach porös gewordene staatsbezogene Politik ließe sich kapitalismussubversiv oder auch nur hauchzart antikapitalistisch umpolen - eine solche Ansicht schöner Illusion (und Rationalisierung im freudschen Sinne) lässt sich wirklichkeitswissenschaftlich nicht begründen. Um ein langes Argument abzuhacken: wer Kapitalismuskritik sagt und von Staatspolitik in ähnlich nötiger radikaler Kritik schweigt, sollte auch erstgenannte vergessen. Das, was staatliche Politik heute in den Ländern lange etablierter (National-)Staaten auszeichnet, ihr innen- und außenpolitisches Konkurrenzmanagement, ihre weltweiten sicherheitspolitischen Ausgriffe bis zum "nation-building", ihre sicherheitspolitischen Formierungen dessen, was noch an "Innenpolitik" bleibt - einschließlich härter gewordener Inklusions- und Exklusionsformen -, die staatliche Politik "national" und "international" belegt, einschließlich des in seinen Formen entrechtlichten Rechts, dass politisch staatliche Umstrukturierungen wenigstens so umfänglich nötig wären wie politisch-ökonomische. Beide können nicht reformhomöopathisch sequenziert werden.

IV.

Vorsicht vor allem vor geschichtsphilosophisch imprägnierten Identifikationen. Eine lange Geschichte. Voll der Ambivalenzen. Zu vergessen, dass Identifikationen mit einem kollektiven Dritten, wie der dauernd fehlende Helmut Gollwitzer (1983) einmal hervorhob, ungeheure Kräfte freisetzen können und verändernde, wahrhaft umwälzende Politik erst ermöglichen, wäre töricht. Töricht und unentschuldbar naiv wäre es gleicherweise, man beachtete nicht genau, worauf sich die "projektive Identifikation" bezieht - wie Freud sich ausdrückte (vgl. u.a. Massenpsychologie und Ich-Analyse): ob auf den autoritären Nationalstaat oder auf eine sozialistische Zukunft (Narr 1999). Darauf hob Gollwitzer vor allem ab. Nach all den Geschehnissen des unsäglichen 20. Jahrhunderts, des deutschen Nazismus und seiner "Endlösung" an erster, abgehobener Stelle ist jedoch abgrundtiefes Misstrauen gegenüber allen Variationen der Geschichtsphilosophie angezeigt. Solches Misstrauen ist gleicherweise gegenüber Identifikationen angezeigt, die - und seien es die blütig versprechendsten Bewegungen, Theorien und Konzepte -, auf der Annahme übersozialer Evolutionen und Revolutionen gründen. Hinter Walter Benjamins Thesen "Über den Begriff der Geschichte", wie er sie kurz vor seinem Selbsttod angesichts der internationalen Nazihatz im grenznahen spanischen Portbou formulierte (nach etlichen Jahren endlich mit einem Denkmal versehen), gibt es für die "Nachgeborenen", die bessere Chancen hatten, kein Zurück. Dort heißt es unter anderem: "Die Vorstellung eines Fortschritts des Menschengeschlechts in der Geschichte ist von der Vorstellung ihres eine homogene und leere Zeit durchlaufenden Fortgangs nicht abzulösen. Die Kritik an der Vorstellung dieses Fortgangs muss die Grundlage der Kritik an der Vorstellung des Fortschritts überhaupt bilden" (1991, 701). Dass eine solche Fortschrittspauschale heute mehr denn je der antiutopischen Utopie globalen Kapitalismus in weltweit dissonantem Konzert zugrunde liegt, lohnt fast nicht weiter zu erwähnen. Für diejenigen aber, die sich antikapitalistisch wähnen und engagieren, ist es unabdingbar, sich von keinem entfernt entwicklungsautomatischen Gesummse mehr betören und zum schuldigen Toren machen zu lassen. Dazu gehört, dass es nicht mehr angeht - die Toten mögen die Toten begraben, also keine besserwisserische Fundamentalkritik nach hinten! -, sich auf Ausläufer einmal "realsozialistisch" gezäumter Parteien und der von ihnen durchherrschten Staaten im Sinne hoffender Spekulationen einzulassen. Von letzterem ist das aspekte- und informationsreiche China-Heft, das als fülliger Argument-Band gerade erschienen ist, nicht frei. Meine Genossinnen und Genossen mögen verzeihen. Dass niemand so arrogant sein darf, genau zu wissen, was kommen wird, ist eines. In diesem Sinne ist aller Zukunft eine gewisse Plastizität oder, im sozialwissenschaftlichen Jargon, eine gewisse Kontingenz eigen. Ein anderes ist es aber, just die gegenwärtige herrschaftsvolle, human exzessiv kostenreiche Durchkapitalisierung Chinas und seine globale Rolle noch anders zu verbuchen, als wir dies, wenn dieser einvernehmende Plural der ersten Person gestattet ist, mit anderen Länder- und Kontinentexempeln der globalen Durchkapitalisierung tun. Verschiedene, beispielsweise lateinamerikanische Varianten ›nachholenden‹ Anschlusses an die weltweite Kapitaldynamik müssen gewiss genau beobachtet werden. Mir hat es vor allem Bolivien angetan. Mit antikapitalistischen Brechungen hat dies aber nichts zu tun. Das ist das Merkzeichen globalen Kapitalismus heute, bis zum Wehtun nüchtern zu konstatieren: dass die kapitalistische Dynamik Opfer um Opfer produziert, aber keine "Bewegung" aus sich entlässt, die sie im Sinne qualitativ anderer Entwicklung zu überwinden vermöchte. Dieses weltdeckende factum brutum schließt im Zuge einer Kritik der politischen Soziologie ineins mit einer Kritik der politischen Ökonomie die Kritik an undurchdachten Annahmen ein, die auf einen technologischen oder ökologischen Automatismus setzen. Als könne aus der Informations- und Kommunikationstechnologie - der prätentiös-hohle Schinken Empire von Negri/Hardt macht Andeutungen in dieser Richtung - sozialistisch radikaldemokratische Weltgestaltung gewonnen werden. Als führten die ökologischen Katastrophen, nicht zuletzt die Kämpfe um ausrinnende Ressourcen irgendwann doch fast naturwüchsig zu transkapitalistischen, wenn nicht sozialistischen Gesellschaftsformen (Elmar Altvater, dem ich viele Einsichten im Verlauf seiner jahrzehntelangen Kapitalismusanalyse verdanke, scheint mir in diese Richtung trügerischer Hoffung zu tendieren). Irrige Annahmen, unter ökologisch Engagierten nicht selten, bestünden auch umgekehrt darin, es gehe primär darum, sparsamer mit den Ressourcen umzugehen, das Kyoto-Protokoll und seine daraus folgenden Praktiken zu intensivieren und andere Energien beispielsweise aus der Sonne zu nutzen, die bis jetzt noch ohne negative externe Effekte gelten, danach folge eine andere Vergesellschaftung fast von allein. So oft ich selbst die auf die wundervolle Rosa Luxemburg zurückgehende, ihr jedenfalls in der Regel zugeschriebene Drohalternative zitiert habe - an die Wand der Gegenwarten geschrieben: Entweder Sozialismus oder Barbarei -, so sehr muss zum einen konstatiert werden, dass auf die schlimmste aller Barbareien, den Nazismus, seine "Endlösung", seinen Zweiten Weltkrieg und anders den sowjetischen Kulackenmord, die Moskauer Prozesse, Gulag u.a. nicht mehr gewartet werden muss und darf - von den täglichen barbarischen Akten, vom liberalen Westen inszeniert und/oder geduldet nicht zu reden. Zum anderen darf die luxemburgische Schreck- und Warnungsformel nicht ihrerseits geschichtsphilosophisch ausgelegt werden. Als gäbe es doch so etwas wie "Weltgerechtigkeit" und stellten sich notfalls Menschen über Menschen den selbstverschuldeten Untergängen, den "normal accidents" (Charles Perrow) und den a-normal ones entgegen.

V.

Keine ausgemalten Alternativen, aber fortgesetzte historisch erfahrene Phantasien nicht-kapitalistischer Vergesellschaftungsformen tun not. So früheren sozialistischen und kommunistischen Bewegungen sinnvoller Weise, um des eigenen Lernens willen, ›Vorwürfe‹ gemacht werden können, so ist Kritik vor allem an deren nicht zufälliger Formblindheit zu üben (sie gilt weithin auch für die Geschichte moderner Utopien und ihrer divers vorgestellten homunculi). Inhalte zählen. Das mit gutem Grund. Auf die Ziele kommt es an erster Stelle an. Bleiben die Inhalte jedoch ohne die angemessenen Formen (Instrumente, Organisationsweisen, Habitus u.ä.m.), dann fälschen ungeeignete Mittel und Verhaltensweisen die edelsten Absichten. Der Materialismus, der praktisch den Ausschlag gibt, ist also der Materialismus der Formen oder Institutionen. Eine der raren Ausnahmen ist Rosa Luxemburg in ihren lenin-kritischen Äußerungen schon zu Zeiten der "Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie", von ihrer seinerzeit nicht erschienenen Kritik an Lenin und Trotzki und deren Art, die Oktoberrevolution zu gestalten, im Frühjahr 1918 ganz zu schweigen. Dort findet sich die zu Recht berühmte, meist unzureichend zitierte Freiheitsbestimmung. Das meist mangelhafte Verständnis anarchistischer Äußerungen durch Sozialisten/Kommunisten hängt mit ihrer Formblindheit zusammen. An erster Stelle kann die Zielverkehrung am Instrument kollektiver Gewalt beobachtet werden. Hier ankert der große Irrtum des unverändert lesenswerten Buches von Frantz Fanon (Die Verdammten dieser Erde) und des fahrlässigen Vorworts von Jean Paul Sartre.
Unbeschadet lernender Kritik aber, aus der viel Erfahrung und Vorstellungskraft gewonnen werden kann, kommt es heute an erster Stelle darauf an, überlegend auszukundschaften, wie die riesigen Größenordnungen und Extensitäten ökonomisch, politisch, kulturell organisiert werden könnten, um ca. 6 Milliarden Menschen zu behausen, zu ernähren, ihr soziales Geschick verstehen zu machen und sie an demselben teilnehmend mitbestimmen zu lassen. Einen technologischen Ersatz, die durch die Informations- und Kommunikationstechnologien ermöglichten, Bürokratien übertreffenden Superabstraktionen gibt es dafür nicht. Die kapitalistische Gigantomanie unserer Tage, die Riesenaggregate, genannt Nationalstaaten, all das Geschwätz von "global governance", das dann auch noch euphemistisch vorweg mit dem Adjektiv "good" versehen wird, all diese und andere Formen, die Ulrich Beck (1988) trefflich die "organisierte Unverantwortlichkeit" genannt hat, an der EU nah zu demonstrieren, sie machen die experimentoffene Suche nach Formen anderer, human verantwortbarer und das heißt immer radikaldemokratischer, also prinzipiell übersehbarer Organisation zum ersten Gebot unserer Zeit. Wer immer sich antikapitalistisch geriert, sie und er sollten in die Kritik am Kapitalismus immer die grob und feinziselierte Kritik an den Organisationsformen an vorderste Stelle rücken (es sei denn der "Antikapitalismus", vgl. Christina Kaindl in diesem Heft, sei blubo-orientiert). Darüber hinaus bedeutete es nicht, undemokratisch kommenden Generationen die Butter vom Brot klauen zu wollen oder einen stellvertreterpolitischen Paternalismus alt abdankender Leute zu betreiben, wenn wir Kritiker all unsere Phantasie noch und noch stimulierten, über eine Kosmopolis nachzudenken, die radikal plural organisiert wäre: eine konfliktreiche, aber in ihren Aggressionen sublimierte Nachbarschaft der Eigentümlichkeiten und Andersartigkeiten!

VI.

Diesseits und jenseits Kritischer Theorie. Selbstredend sollten Antikapitalisten in Form und Inhalt an Aktivitäten teilnehmen und/oder diese fördern, die darauf ausgehen, globalisierungskritisch zu mobilisieren und zu demonstrieren (vgl. den Beitrag von Ewald Lienen in diesem Heft). Solche "Emeuten", wie sie Marx/Engels in der Deutschen Ideologie am Exempel der Lehrlinge mitten im Spätfeudalismus/Frühkapitalismus genannt haben, haben an sich selbst Sinn. Sie bewahren Denk- und Vorstellungsmöglichkeiten; sie lassen Kritik wenigstens zeitweise zum Habitus werden. Die 11. Feuerbachthese gilt anhaltend wenigstens zusätzlich: "[...] es kömmt darauf an, sie zu verändern", die kapitalistischen Verhältnisse nämlich. Ein schlechter Theoretiker, wer sich rein vom Dreck aller Praxis hält. Schmutzige Hände sind unvermeidlich. Sie sind theoretisch nicht zu säubern. Nur dann wäre das vorstellbar, wenn Theorie "rein" zu sein, also ohne Ambivalenzen auskommen zu können behauptete, ohne das Risiko, auf der herrschafts- und ungleichheits- und ausbeutungsgeneigten Gleitfläche auszurutschen. Ohne die Postulate in diesen Überlegungen zu negieren, gilt jedoch, dass die Wunde aller auf Praxis erpichten Theorie heute nicht mehr andauernd verbunden, vor allem, dass sie nicht geheilt werden kann. Kants hübscher Aufsatz, "Über den Gemeinspruch: das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nichts für die Praxis", kann nicht mehr ungebrochen nacherzählt werden. Wenn die unoriginelle Einsicht in die gegebenen Bedingungen kapitalistischer Herrschaft, ihre Totalisierungen und ihre Dynamik zutrifft - und man verkennte diese Herrschaft historisch materialistisch an freien menschlichen Gesellungen orientiert, ersähe man stehaufmännchengleich Lücken und sich ›alternativ‹ selbstaufhebende Widersprüche oder ›systemwandelnde‹ Konflikte -, dann sind alle praktischen Versuche aufs dringendste zu wünschen und von jedem von uns zu verlangen. Und mögen sie nur einigen Sans Papiers helfen, Studierenden wenigstens brosamenhaft einen Lernprozess mit selbstbewusstem Ausgang ermöglichen oder dem Taylorismus der Altenpflegeheime bei einigen vorzeitig dement gemachten alten Menschen zuwiderhandeln. Schon zu studentenbewegten Zeiten, da Marx von manchen Grüppchen weithin nur halb, nämlich dogmenfetischbedürftig rezipiert worden ist, habe ich mich darüber verwundert, dass manche ihr sozialistisches Verhalten solange aufschieben wollten, bis sich Sozialismus ereigne. Solange wollten sie sich munter und selbst undiszipliniert im Pfuhl kapitalistischer Wonnen wälzen. Ein Verhältnis von Theorie und Praxis jedoch, das antikapitalistische Gesellung nicht nur analytisch und in ihren notwendigen Formen durchdächte, sondern zeigte, wie die kapitalistischen Widersprüche und Konflikte auf eine andere Gesellschaft drängen, die "nur" noch mobilisierend durchgesetzt werden muss, ist nicht mehr möglich. Weder aufgrund analytisch unerbittlicher Theorie, noch infolge umwälzender Praxis, auch wenn man der Drehbühnenmetapher der Revolution, die schon 1789 nicht stimmte und 1917 vollends scheiterte, längst entsagt hat. Bestenfalls gälte Benjamins Umformulierung, dass Revolutionen heute bestenfalls als "Griff nach der Notbremse" verstanden werden könne. Indes, selbst eine "Notbremse", die den globalen Vielfachzug kapitalistischer Dynamik auch nur bremste, ist nicht in Sicht. Ich für meinen Teil bin jedenfalls über die Kritische Theorie von Adorno/Horkheimer nicht hinaus. Mich berührt auch die von Habermas, Honneth und dergleichen geäußerte kritische Kritik am "Negativismus" Adornos nicht. Diese und andere Anti-Negativisten, also bejahende Positivisten, tummeln sich allzu wohlgefällig inmitten des "Projekts der Moderne". In dessen Suchbild verirre ich mich, eines kapitalistisch gesponnenen Ariadnefadens bar. Der große Vorzug weitergrabender "negativer Dialektik" bestünde nicht zuletzt darin, dass den Postulaten, die ich unter II. und III. andeutete, eher entsprochen werden könnte. Der große Vorzug ergäbe sich zusätzlich daraus, dass viele Selbst- und Fremdtäuschungen vermieden werden könnten, die im naiven Immergrün dahinwelken. Allerdings muss Kritische Theorie um ihrer selbst willen, um weiterwirken zu können, ein stückweit überstiegen werden. Oder anders, sie muss ihre implizite Utopie (einschließlich von deren Praxis), die beispielsweise gerade in der "Negativen Dialektik" eine entscheidende, wenngleich fast verborgene Rolle spielt - der Begriff "Utopie" und seine Aura kommen durchaus vor -, ungleich mehr explizieren. Das, was Adorno teilweise erst in seiner "Ästhetik" getan hat, nämlich sein eigenes Maßverhältnis wenigstens zu nennen und zu begründen, das ist generell vonnöten. Wie sollten antikapitalistische Urteilsfähigkeit und damit verbundene Vorstellungskraft weiter betrieben, weiter gelehrt, weiter gelernt und weiter demonstriert werden, wenn nicht immer erneut die Zielgrößen eingedacht würden, die allen Antikapitalismus von grundauf motivieren und beflügeln? Die Ekstase des aufrechten Gangs, Naturrecht und menschliche Würde, Krummes Holz, aufrechter Gang, um Bloch mit Gollwitzer und Kant zu mixen. Sie sind in Inhalten nicht nur, sie sind in chancenreichen Formen kritisch-analytisch und praktisch vorwärts gewandt zu bedenken und zu erproben, wenn anders nicht die vergebliche Suche nach der immer schon verlorenen sozialistisch radikaldemokratischen Gesellschaft in erschlaffender Frustration stattfinden soll.

VII.

Gefahr ist im Verzug, dass all die bald zeitweilig munteren, bald jedoch lahmenden Antikapitalismen ein einheitliches ›Schicksal‹ erleiden: sie werden kapitalistisch absorbiert. Von "Bewegungen" will ich aktuell ohnehin nicht reden, ein Ausdruck, der NS-eingedenk vorsichtig und vorbehaltevoll benutzt werden sollte. Dialektik des Antikapitalismus hieße dann höchst banal, dass die Kurz- und Flachgriffe antikapitalistischen Räsonnements und seiner Aktivitäten bestenfalls als so etwas wie besondere kapitalistische Fitness-Studios wirkten. Dass dem so ist oder bis zur Wahrheit die Gefahr droht, hat nicht nur damit zu tun, dass die antikapitalistischen Hasen sich angesichts der immer schon präsenten kapitalistischen Igel totlaufen. Mit ihrem Keuchen können sie allein sich selbst überzeugen, Ungeheures geleistet zu haben. Dass dem so ist, tritt nahezu sachzwangartig solange ein, wie auf der bürokratischen Höhe kapitalistischer Organisationen einschließlich der Nationalstaaten "Alternativen" gesucht werden (als andere Märsche durch die Institutionen). Kann man die unvermeidlich herrschaftlichen, Menschen versachlichenden Größenordnungen nicht unterwandern, klein schlagen und von unten her ersetzen, dann gilt Max Webers antibürokratisches Bürokratiegesetz: indem Bürokratien auf ihrer Höhe mit ihren Zielen und Instrumenten reformiert werden sollen, findet eine bürokratische Mimesis ihrer Kritiker und deren reformierter Vorkehrungen statt.
Ursprünglich wollte ich diese sieben thesenförmigen Erwägungen mit folgender Überschrift versehen: Objekt, Subjekt, Verzweiflung. Damit wollte ich ausdrücken, dass die kapitalistisch objektivierte ›Welt‹ von weltmarkt-›oben‹ bis zum Verhalten vereinzelter Menschen, die in einer Fülle heterogener Lokalitäten zerstreut leben, wollte man sie denn ändern, Verzweiflung hinterlässt (und wenn nicht, dann gegenwärtige Pathologien), ob man von solcher in eigener Person nun erfüllt ist oder nicht. Mir scheint: erst wenn man um den objektiven Charakter antikapitalistischer, sozialistisch gerichteter Verzweiflung weiß, sich nicht betrügt, erst dann ist subjektiv ein Anfang gegeben, zusammen mit anderen, und seien es zunächst nur wenige, aber mit allgemeinem, sprich politischem Anspruch im besten aristotelischen, marxschen, simoneweilschen und hannaharendtschen Verstande wider die objektive Verzweiflung und ihren subjektiv resignativen Umschlag aktiv und anhaltend, mit nicht endendem Humor anzukämpfen.

Literatur

Adorno, Theodor W., "Über Statik und Dynamik als soziologische Kagetorien", in: ders., u. Max Horkheimer, Sociologica II. Reden und Vorträge, Frankfurt/M 1962, 205-22
Beck, Ulrich, Gegengifte. Die organisierte Unverantwortlichkeit, Frankfurt/M 1988
Benjamin, Walter, Gesammelte Schriften, Abhandlungen, Band I-2, Frankfurt/M 1999, 691-704
Gollwitzer, Helmut, "Der Fieden als Menschenrecht", in: Freiheit und Gleichheit. Streitschrift für Demokratie und Menschenrecht, hgg. v. Komitee für Grundrechte und Demokratie, H. 4, Januar 1983, 7-16
Kramer, Fritz, u. Christian Sigrist (Hg.), Gesellschaften ohne Staat, Bd 1: Gleichheit und Gegenseitigkeit, Frankfurt/M 1978
Mannheim, Karl, Mensch und Gesellschaft, Darmstadt 1958
McDermott, John, "Technologie: Das Opium der Intellektellen", in: Wolf-Dieter Narr u. Claus Offe (Hg.), Wohlfahrsstaat und Massenloyalität, Köln 1975, 283-303
Narr, Wolf-Dieter, "Identität als (globale) Gefahr. Zum Unwesen eines leeren Wesensbegriffs und seinen angestrebten Befindlichkeiten", in: Walter Reese-Schäfer (Hg.), Identität und Interesse, Opladen 1999, 101-28
Weil, Simone, Oppression and Liberty, London 1958
dies., Zeugnisse für das Gute, hgg. v. Friedhelm Kemp, München 1990

Aus: Das Argument 269, 49. Jg., 2007, H. 1, 35-47