Unsere Klassengesellschaft

Verdeckte und offene Strukturen sozialer Ungleichheit

Rezension zu: Joachim Bischoff, Sebastian Herkommer, Hasko Hüning: Unsere Klassengesellschaft. Verdeckte und offene Strukturen sozialer Ungleichheit, VSA-Verlag Hamburg 2002, 242 S. (17,80 EUR)

"Unsere Klassengesellschaft" - ein merkwürdiger Titel, auch wenn er auf einen zustimmend zitierten Zeit-Artikel rekurriert. Das besitzanzeigende Pronomen mutet anstößig an - wem gehört die Klassengesellschaft? Treffender ist da schon der Untertitel. Im öffentlichen Diskurs ist verbreitet die Rede davon, daß zu wenig Ungleichheit herrsche, daß gerade zu viel Gleichheit alle Probleme des Sozialstaates und des "Standortes Deutschland" verursache. Soziale Ungleichheit zu benennen und zu kritisieren mutet unzeitgemäß an gegenüber einem Zeitgeist, der nicht nur von liberalen und konservativen Apologeten der Ungleichheit beherrscht wird, sondern dem auch auf dem 3. Weg herumirrende Sozialdemokraten huldigen, etwa, wenn sie die Renten- oder Krankenversicherung entsolidarisieren oder längerfristig Arbeitslose dauerhaft ausgrenzen bzw. verhartzen.

Wie die Autoren konstatieren, ist es eben die derzeit stattfindende neoliberale Revolution, die Klassengegensätze und Klassen überhaupt wieder offen zutage treten läßt. Betrieben wird von Bischoff et al. eine parteiliche Soziologie der sozialen Ungleichheit, deren Stärke in einer soliden kritischen Auseinandersetzung mit anderen Konzeptionen besteht. Indem im historischen Längsschnitt sowohl Empirie und Theorie der sozialen Ungleichheit aufgearbeitet als auch gängige soziologische Ungleichheitsanalysen verglichen werden, schaffen die Autoren die Basis für eine - freilich recht nüchterne und ernüchternde - Empfehlung für eine Politik gegen die zunehmende Ungleichheit. Gerichtet an die Gewerkschaften wird das Ende der Bescheidenheit bei der Tarifpolitik, der Kampf um die Stärkung der Gewerkschaftsrechte inner- und außerbetrieblich, eine Verbreiterung der Finanzierungsbasis der sozialen Sicherungssysteme sowie eine Reanimation von genossenschaftlichen und gemeinwirtschaftlichen Alternativen zur kapitalistischen Produktion gefordert, kurz: es wird die Agenda linker (Sozial-)Politik beschrieben.

Da Prognosen immer schwierig sind (vor allem, wenn sie sich auf die Zukunft beziehen), sind - für soziologisch bzw. politökonomisch vorgebildete Leser/innen - die soziologischen Texte mit größerem Gewinn zu rezipieren. Erleichtert würde dies freilich durch eine redaktionelle Straffung des von Wiederholungen, teilweise ausufernden Marx-Zitaten und Inkongruenzen nicht freien sowie nicht überzeugend gegliederten Buches.

Im einleitenden, von Sebastian Herkommer verantworteten Kapitel wird unter der Überschrift "Die Aktualität der Klassenanalyse" zunächst der soziologische Diskurs zur Ungleichheitsforschung rekonstruiert. Es gehe darum, so das Fazit, angesichts teilweise quer zu alten Klassenspaltungen verlaufenden Ungleichheiten, "den Unterschied zwischen Ausbeutung und Ausgrenzung" zu klären. (S. 21) Dazu müsse das traditionell theorielastige marxistische Instrumentarium der Klassenanalyse erweitert werden, indem es von einem Denkmodell zur Anleitung für empirische Untersuchungen umgebaut werde. Dazu sollen "bürgerliche" Schichtenanalysen und Milieustudien in eine sozioökonomisch orientierte Klassenanalyse integriert werden. Dieser strategischen Zielsetzung ist wohl geschuldet, daß gelegentlich umstandslos und offenbar synonym sowohl von "Klassen" als auch von "sozialen Schichten" gesprochen wird, u. a. dann, wenn der Zusammenhang von Klassenanalyse und Politik verhandelt wird.

Im zweiten, wesentlich umfangreicheren Kapitel entwickelt Joachim Bischoff den Klassenbegriff weiter, freilich unter starker Betonung ökonomischer Aspekte. Er besteht darauf, daß trotz aller zugestandenen Individualisierung die deutsche Gesellschaft immer noch primär durch die Teilung der Arbeit konstituiert werde, Ökonomie mithin für die meisten Gesellschaftsmitglieder bestimmend für ihren Status und ihre Lebenschancen sei. Auf der Erscheinungsebene zahlen alle mit Geld, aber dessen Erwerb ist konkurrierend organisiert, im Kern immer noch aus abhängiger Erwerbsarbeit oder aus verwertetem Kapital. Mit anderen Worten: Hinter der sich in der Verfügung über Geld ausdrückenden sozialen Ungleichheit sind Klassenverhältnisse verborgen. Diese differenzieren sich gegenüber der von Marx untersuchten Epoche aus und verändern sich gerade durch die Informationsrevolution erheblich. Die anders als im Fordismus nicht mehr ausschließlich an vergegenständlichte Arbeit, sondern tendenziell zunehmend an die Intelligenz von Informations- und Kommunikationsexperten gebundene Produktivkraft stehe nach wie vor unter der Verfügungsmacht des Kapitals resp. der "herrschenden Klasse".

Der im ersten Kapitel angedeutete und als nach wie vor existent angesehene Zusammenhang zwischen Klassenlage und Wahlverhalten wird in Kapitel 3 vertieft. Untersucht wird der Einfluß der sozioökonomischen Lebenswelt auf das Bewußtsein der Individuen.

Hasko Hüning steuert das 4. Kapitel (Gender- Frage) bei. Es wird hier der sozialistisch-feministische Diskurs nachgezeichnet, indem Klassenund Geschlechterverhältnisse verglichen werden. Kann als besonders emanzipiert gelten, daß auch dieser Aspekt von einem Mann bearbeitet wurde? Daß die Gleichberechtigung der Frau derart unverwirklicht sei wie hier angeprangert, liest Mann so scharf selten formuliert, und es widerspricht auch den Erfahrungen des Rezensenten. Wir sind in der Geschlechterfrage zwar sicher nicht am Ziel, jedoch erheblich weiter als in diesem Text dargestellt.

Während Hüning die Klassenanalyse um die Genderperspektive ergänzt, erweitert Herkommer die nationale Sichtweise um eine europäische, indem er sich mit einflußreichen Makrosoziologien auseinandersetzt (Kapitel 5). Es handelt sich um Einführungen in kritischer Absicht u.a. in Arbeiten von Ralf Dahrendorf, Stefan Hradil oder Michael Vester und Reinhard Kreckel. Der kürzlich verstorbene geistige Vater von Attac, Pierre Bourdieu, wird als entscheidender Inspirator für eine Erneuerung der verflachten marxistischen Klassenanalyse gewürdigt. Bourdieus "zentrale These, daß der Raum der Lebensstile ein Raum der symbolischen Distinktionen ist und dem Raum der ökonomisch-sozialen Bedingungen sowohl Ausdruck verleiht als ihn auch zugleich reproduziert ..., hält daran fest, daß ein ... Vermittlungszusammenhang besteht zwischen den materiellen Verhältnissen und Beziehungen auf der einen Seite und ihrer Wahrnehmung und symbolischen Darstellung auf der anderen. Mit dieser These ist aber die große Chance verbunden, endlich Abschied zu nehmen von der in der marxistischen Tradition vielfach praktizierten Ineinssetzung von ›Klasse‹ als Kürzel für das bestimmte Ausbeutungsverhältnis zwischen Kapital und Arbeit (Kernstruktur) und ›sozialer Klasse‹ als einer realen Großgruppe mit weitgehend gleichartigen Erfahrungsgrundlagen und kollektivem, womöglich revolutionärem Bewußtsein der einzelnen Klassenmitglieder." (S. 141)

Mit der abschließenden Skizze "Klassenanalyse heute" wird zum 6. Kapitel übergeleitet. Auch dieser Text besteht vornehmlich in der Kritik eines anderen Ansatzes, nämlich des von Michael Vester u. a. entwickelten Konzeptes Sozialer Milieus. Lesefreundlich wäre es, wenn die Autoren ihre vor Weiterentwicklung der Klassentheorie abschließend geschlossen vorgestellt hätten. Das scheiterte möglicherweise daran, daß versucht wurde, zu viele Aspekte zu bearbeiten. Die im Untertitel angekündigte Offenlegung verdeckter und offener Strukturen sozialer Ungleichheit wird geleistet, die Weiterentwicklung marxistischer Soziologie erfolgt jedoch nur ansatzweise.

in: UTOPIE kreativ, H. 153/154 (Juli/August 2003), S. 775-776

Inhalt UTOPIE kreativ, H. 153/154 (Juli/August 2003)

VorSatz 581 Essay ULRICH BUSCH Agenda 2010 - das deutsche Programm für einen Gesellschaftsumbau 583 PDS - Wege aus der Krise THOMAS FALKNER Politik als Chance 592 MICHAEL CHRAPA Parteireform als Aufbruch? 603 STEFFEN KACHEL Zum Spannungsfeld von PDS und Parlamentarismus 609 JÖRN SCHÜTRUMPF Krisenhafte Kommunikation. Thesen 614 HEIKO HILKER Politische Kommunikation und PDS 617 ERHARD CROME PDS. Ansichten einer Krise 628 Nachhaltigkeit & Soziale Gerechtigkeit REINART BELLMANN, HUBERT LAITKO, KLAUS MEIER Generationengerechtigkeit: Die Verknüpfung ökologischer und sozialer Zielstellungen im Nachhaltigkeitskonzept 635 JOACHIM H. SPANGENBERG Soziale Nachhaltigkeit. Eine integrierte Perspektive für Deutschland 649 GÜNTHER BACHMANN Warum Nachhaltigkeit ? 662 KLAUS WARDENBACH Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert. Der World Summit in Johannesburg 666 CHRISTA WICHTERICH Nachhaltigkeit und neoliberale Globalisierung aus feministischer Sicht 670 RONALD HÖHNER Der Stempel von Rio 675 GERHARD BANSE Integrative nachhaltige Entwicklung und Technikfolgenabschätzung 680 EDGAR GÖLL Nachhaltigkeitspolitik - Beispiele aus Europa 692 ELISABETH VOSS Wie nachhaltig ist die aktuelle Arbeitsmarktpolitik? 696 Ernst Bloch: Hoffnung muß gelernt werden VOLKER CAYSA Bloch - (k)ein toter Hund 698 ROGER BEHRENS Aktualisierung des Ungleichzeitigen. Anmerkungen zur Prozeßlogik einer mehrschichtigen Dialektik 707 MICHAEL BRIE Zwischen Wärmestrom und Kälteschock 720 Politik & Zeitgeschichte JÜRGEN JAHN Geraubte Jahre. Der Lebensweg des Bernhard Steinberger 741 WOLFRAM ADOLPHI Verweigertes Gedenken 751 Festplatte WOLFGANG SABATH Die Wochen im Rückstau 758 Bücher & Zeitschriften Siegfried Freick: Die Währungsreform 1948 in Westdeutschland. Weichenstellung für ein halbes Jahrhundert (WOLFGANG TRIEBEL) 760 Wolfgang Schivelbusch: Die Kultur der Niederlage. Der amerikanische Süden 1865 - Frankreich 1871 - Deutschland 1918 (STEFAN BOLLINGER) 761 Jörg Huffschmid: Politische Ökonomie der Finanzmärkte. Aktualisierte & erweiterte Neuauflage Bernard Cassen, Susan George, Horst Eberhard Richter, Jean Ziegler u. a.: Eine andere Welt ist möglich! (ULRICH BUSCH) 763 Rainer Rupp, Burchard Brentjes, Siegwart-Horst Günther: Vor dem dritten Golfkrieg (ANJA LAABS) 765 Gerhard Roth: Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert (ALJOSCHA JEGODKA) 767 Hans-Dieter Heumann: Deutsche Außenpolitik jenseits von Idealismus und Realismus. Mit einem Vorwort von Hans-Dietrich Genscher (STEFAN BOLLINGER) 768 Arne Heise (Hrsg.): Neues Geld - alte Politik? Die EZB im makroökonomischen Interaktionsraum (ULRICH BUSCH) 770 Erhard Meueler Lob des Scheiterns. Methoden- und Geschichtenbuch zur Erwachsenenbildung an der Universität (EVELIN WITTICH) 772 Hartmut Häußermann, Andreas Kapphan: Berlin: von der geteilten zur gespalteten Stadt? Sozialräumlicher Wandel seit 1990. (TERESA ZAVALA) 773 Vida Obid, Mirko Messner, Andrej Leben: Haiders Exerzierfeld. Kärntens SlowenInnen in der deutschen Volksgemeinschaft (MARTIN SCHIRDEWAN) 774 Joachim Bischoff, Sebastian Herkommer, Hasko Hüning: Unsere Klassengesellschaft. Verdeckte und offene Strukturen sozialer Ungleichheit, (FRIEDHELM WOLSKI-PRENGER) 775 Christian Höffling: Korruption als soziale Beziehung, Forschung Soziologie. (ARNDT HOPFMANN) 777 Ulrich Klemm: Lernen ohne Schule. Argumente gegen Verschulung und Verstaatlichung von Bildung. (ANDREAS MERKENS) 778