Wer immerzu den dominierenden Medien ausgesetzt ist, mochte den im Oktober 2006 nur kurz auftauchenden Meldungen aus dem Bundesamt für Statistik kaum Glauben schenken, die besagten,
hierzulande wachse die Ablehnung der real existierenden Demokratie, während der Sozialstaat und sogar der Sozialismus breite Zustimmung fänden.
In Zusammenarbeit mit dem Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung und dem Mannheimer Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen hatten die Meinungsforscher zunächst nach der Akzeptanz der gegenwärtigen Staatsform der BRD unter der Bevölkerung gefragt. Der Behauptung "Die Demokratie in Deutschland ist die beste Staatsform" stimmten 2005 im Westen fast 30 Prozent nicht mehr zu (71 Prozent dafür) - im Osten wollten gar über 60 Prozent (38 Prozent dafür) von der einst viel begehrten Demokratie des "Freien Westens" nichts mehr wissen. In beiden Landesteilen zeigte sich ein Abwärtstrend, denn fünf Jahre zuvor war die Akzeptanz noch um etwa zehn Prozent größer gewesen (80 Prozent im Westen, 49 Prozent im Osten).
Die Forscher fanden auch heraus, was die wachsende Demokratieverdrossenheit wohl hauptsächlich ausgelöst haben mochte. Die große Mehrheit will nämlich etwas festhalten, was Politiker fast aller Parteien - gefordert und getrieben von den Unternehmerverbänden und einem mächtigen Chor der Medien - ihnen seit gut einem Jahrzehnt nehmen wollen: den demokratischen und sozialen Bundes- und Rechtsstaat nach Grundgesetz-Artikel 20 und 28.
Die Befragten sollten sich zu dem Satz äußern: "Der Staat muß dafür sorgen, daß man auch bei Krankheit, Not, Arbeitslosigkeit und im Alter ein gutes Auskommen hat." 2004 stimmten 84 Prozent zu (im Osten 92 Prozent, im Westen 82 Prozent). Das konnte und durfte doch eigentlich nicht sein. Seit zehn, zwanzig Jahren hatte eine große Koalition aus CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen in immer festerem Ton dem Wahlvolk erklärt und durch Regierungshandeln bekräftigt, daß der Staat "überfordert" sei und sich "das Soziale" so nicht mehr leisten könne. Jeder müsse und solle für sich selbst Vorsorge treffen, ob als Rentner, möglicher Kranker oder Arbeitsloser. Der Staat müsse "mehr fordern" und viel "weniger fördern". Es dürfe nur noch den "aktivierenden Staat" geben und nicht mehr einen "fürsorgenden Sozialstaat". Die Zeitungen waren voll von Klagen über die Soziallasten, die "unsere Wirtschaft" strangulieren. Fachleute aus den Unternehmensverbänden, gelegentlich sogar aus den Gewerkschaften, forderten die Befreiung von den "zu hohen Lohnnebenkosten". Wirtschafts- oder Philosophieprofessoren und auch einige Bischöfe beider Großkirchen trugen das Argument bei, daß "die Freiheit" des Menschen darunter leide, wenn der Staat sich seiner Daseinsvorsorge annahm. "Wir alle" seien doch "mündige Bürger" und könnten und müßten in der "Risikogesellschaft" uns endlich selbstverantwortlich zeigen und so weiter und so fort. Es nützte alles nichts, fast neun von zehn Bundesbürgern beharrten auf dem Sozialstaat, wollten sogar noch einen besser ausgestatteten. Und selbst die Wähler der FDP verlangten im Westen zu 72 Prozent, im Osten gar zu 86 Prozent "ein gutes Auskommen" in allen Lebenslagen, garantiert vom Staat!
Die Regierenden - zumal jene aus der rot-grünen Koalition - wollten es jetzt genau wissen: Würden etwa die Menschen - zumal jene aus dem Gebiet der untergegangenen DDR - zurück wollen in so etwas Schlimmes wie "den Sozialismus"? Das Statistische Bundesamt mußte eine verdeckte Systemfrage stellen, wie sie seit der Wende schon von anderen Meinungsforschern des öfteren gestellt worden war, immer mit erschreckenden Ergebnissen. Die Behauptung, zu der sich die repräsentativ ausgewählten Befragten äußern sollten, lautete diesmal: "Der Sozialismus ist im Grunde eine gute Idee, die nur schlecht ausgeführt wurde."
Das Unglaubliche geschah: 2005, als Deutschland schon 15 Jahre "in Freiheit vereint" war, stimmten 52 Prozent für so etwas Abwegiges wie "Sozialismus" (im Westen 46, im Osten gar 74 Prozent).
Was war da schiefgelaufen? Die Forscher aus dem Bundesamt für Statistik versuchten sich an einer Erklärung, die die Sache aber für die beunruhigten Politiker kaum besser gemacht haben dürfte. Die Meinungswissenschaftler schrieben, sie hätten die Frage absichtlich so gestellt, um jede Assoziation mit dem "realsozialistischem System der früheren DDR" zu vermeiden. Sie hätten festgestellt, daß die drei Viertel der Ostbevölkerung und fast die Hälfte der Westler so etwas wie eine "sozialistische Demokratie" verlangten. Diese verbinde "zentrale Vorstellungen einer liberalen Demokratie wie die Gewährleistung von Freiheitsrechten und kompetitive Wahlen mit Vorstellungen einer ausgeprägten sozialen Gleichheit und Sicherheit sowie direkter Bürgerbeteiligung".
Mehr "Freiheitsrechte" und "direkte Bürgerbeteiligung", gar eine "sozialistische Demokratie" mit "sozialer Gleichheit und Sicherheit" - so hätte die Mehrheit in diesem Lande gern ihre Staats- und Gesellschaftsform, wenn sie demokratisch entscheiden könnte.
Zu fragen bleibt, warum nicht zumindest die sich gerade neu konstituierende Linkspartei eindeutig für eine solche Programmatik eintreten will. Ängstliche Werbestrategen aus der WASG und auch aus der alten PDS raten ernsthaft davon ab, den Begriff "Sozialismus" in das neue Parteiprogramm zu übernehmen. Sie wissen offenbar nicht, was die Bevölkerung denkt. Vom Statistischen Bundesamt könnten sie sich eines Besseren belehren lassen. Mit "Sozialistische Demokratie" würde das Ziel meines Erachtens sogar noch klarer definiert als mit der bisherigen, nach Erklärung, Einschränkung und Entschuldigung klingenden Rede vom "Demokratischen Sozialismus". Oder wollen die Strategen um Bisky, Gysi, Ramelow, Lafontaine und Ernst mehr auf die veröffentlichte Meinung der Herrschenden als auf die Hoffnungen der Beherrschten Rücksicht nehmen?