Die Überwachungsmafia und die Sicherheitsgesellschaft

& in (17.08.2007)

Rezension zu Pär Ström: Die Überwachungsmafia. Das gute Geschäft mit unseren Daten (2005) und Tobias Singelnstein, Peer Stolle: Die Sicherheitsgesellschaft. Soziale Kontrolle im 21. Jahrhundert (2

Mit dem Buch "Die Überwachungsmafia" will der schwedische Journalist Pär Ström einen detaillierten Überblick geben, wo wir wann, wie, von wem und warum ausspioniert werden. Er widmet sich damit einem der drängendsten Problembereiche der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung. Das Buch besteht aus zwei Hauptteilen, von denen sich der erste der Darstellung der vielen technischen und institutionellen Möglichkeiten von Überwachung widmet. Der zweite gibt sich philosophisch und versucht, grundlegendere Fragen zu beantworten. Den mit "Elektronische Überwachung und Spionage" überschriebenen Hauptteil zu lesen, ist recht lohnend. Die 16 Kapitel sind ein Kompendium der Überwachung. Den roten Faden bildet des Autors Suche nach Stellen, an denen wir digital fingerprints hinterlassen - allzu oft ohne es zu bemerken und ohne Einfluss auf die Verwendung der Daten zu haben. Der Autor beschränkt sich dabei nicht auf die Beschreibung des Status quo des ohnehin allgemein Verbreiteten und Durchgesetzten, wie der Videoüberwachung oder die Erstellung von Käuferprofilen durch Kundenkarten. Pär Ström sucht nach sich abzeichnenden Entwicklungen und zeigt die realisierbaren Möglichkeiten, deren Einführung uns bald drohen könnte. Die einzelnen Kapitel widmen sich den Themen wie "Profilerstellung von Flugpassagieren", "Echelon - das globale Überwachungssystem", "Wie U-Bahnen und Autos sie ausspähen werden", "Mikrochips im Körper und sonstige Standortüberwachung", "Kameraüberwachung mit Gesichtserkennung und Verhaltensdeutung", "Biometrische Personenerkennung", "Computer, Telefon und Fernsehen protokollieren die Aktivitäten der Nutzer", "Elektronische Überwachung am Arbeitsplatz", "Spionageprogramme auf dem Vormarsch", "Verräterische Hintertüren", "Mikrochips in Waren senden Informationen" usw. Vielleicht klingt manche Kapitelüberschrift etwas marktschreierisch. Dem Autor allerdings ist dies nicht vorzuwerfen, die Entwicklungen selbst sind umso reißerischer. Man denke nur an die Kinder, deren Eltern mittels einer Funksignale ausstrahlenden Uhr rund um die Uhr im Internet überwachen, wo die Kleinen sich aufhalten. Man denke an die Angestellten, die, wenn sie ihren Job im Hochsicherheitsbereich behalten wollen, dazu gezwungen werden, sich einen Identifikationschip unter die Haut spritzen zu lassen. Man denke an die Autofahrerinnen und - fahrer, deren Mietwagen plötzlich nicht mehr weiterfährt, weil er als Reaktion auf eine leichte Geschwindigkeitsübertretung per Funk ausgestellt wurde. Man denke an die Personen, die wegen einer Namensübereinstimmung mit nur des Terrorismus Verdächtigen unabänderlich auf einer US-amerikanischen no fly list landen. Mögen diese Beispiele noch erträglich klingen, was ist dann mit der permanenten Überwachung von E-Mails, der Speicherung sämtlicher Telefon- und Internetverbindungen? Die zunehmenden technischen Möglichkeiten können ganz schnell zu handfesten Nachteilen gereichen, wenn beispielsweise Versicherungen mittels gekaufter Daten Risiken abschätzen und Menschen, die mal Herzmittel gekauft haben, von Lebensversicherungen ausschließen, oder wenn Banken aufgrund des bisherigen Kaufverhaltens oder alter Schulden Konten verweigern. An der Basis für solches Gebaren stricken wir alle jeden Tag mit, wenn wir unsere meist digitalen Spuren ablegen, die data miner später auswerten - im Internet, im Geschäft, im Bankautomaten, in der Kameraüberwachungszentrale - ohne auch nur die Chance zu haben, dies zu umgehen. Ausführlich stellt Pär Ström all dies dar. Was dem Buch aber fehlt, ist eine Deutung und Einordnung der vielen beschriebenen Phänomene in gesellschaftliche Entwicklungstendenzen. Der Autor erkennt durchaus das Gewinnstreben von Firmen als zugkräftigen Motor des Überwachungsausbaus. Er sieht das Ausmaß an Überwachung aber v. a. als Maß für das Pendeln von Gesellschaften zwischen den Polen Überwachungsstaat und Anarchie, wobei westliche Gesellschaften sich derzeit dem ersteren nähern. Die Befürchtung des Autors, dass wir eines Tages in einem Überwachungsstaat à la George Orwells 1984 aufwachen, sind Ausdruck dieser Sicht. Doch die Spezifik heutiger Überwachung (Orwell kritisierte eher den Stalinismus) ist wohl metaphorisch besser mit several little and big sisters umschrieben. Nicht die totale Zentralität der Macht in der Hand einer Kontrollinstanz ist heute kennzeichnend, sondern die umfassende, aber dezentralisierte Kontrollierbarkeit. Das Paradigma dahinter ist der Neoliberalismus, das in der Krise des Postfordismus scheinbar allein selig machende Paradigma, einer Mischung aus mehr Markt, mehr "Selbstverantwortung" und somit schließlich mehr Selbstkontrolle. All die Überwachungstechnologien und -gesetze sind also nicht nur ein kontinuierlicher materieller Eingriff in das Leben der Menschen, sondern sie sind in ihrer Dezentralität und Allgegenwart Mittel der Gouvernementalität, der Versuch der Subjektivierung der Kontrolle, letztlich ihrer Verlagerung in entsprechend angepasste Individuen hinein. Ein Blick in Foucaults "Überwachen und Strafen" kann beim Verständnis der vielen Phänomene ordnen helfen. Der Fokus da ist Überwachung als Mittel von Kontrolle, ein Blickwinkel, den auch die kritischen Kriminologen Tobias Singelnstein und Peer Stolle in "Die Sicherheitsgesellschaft. Soziale Kontrolle im 21. Jahrhundert" einnehmen. Sie liefern über die Aufzählung und Skandalisierung von Einzelphänomenen hinaus eine umfassende Beschreibung und Kritik gegenwärtiger sozialer Kontrolle. Dabei gehen sie davon aus, dass soziale Kontrolle immer ein Ausdruck der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse ist. Singelnstein/Stolle orientieren sich an den Arbeiten des britischen Kriminologen David Garland ("The Culture of Control"), der Veränderungen im britischen Strafrechtssystem vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Transformationsprozesse analysiert hat. Zunächst gehen die Autoren auf den gesellschaftlichen Wandel ein, der die USA, Großbritannien und - zeitlich versetzt - Kontinentaleuropa erfasst hat, um vor diesem Hintergrund die Herausbildung der neuen Formation sozialer Kontrolle zeigen zu können. Sie beschreiben, wie die Globalisierung und Internationalisierung der Marktbeziehungen, die Flexibilisierung der Arbeits- und Sozialverhältnisse, die Privatisierung staatlicher Aufgaben, der Umbau desWohlfahrtsstaates und die Übertragung des Primats der Ökonomie auf immer mehr gesellschaftliche Bereiche zu einer stärkeren Ausdifferenzierung der sozialen Lagen und einer zunehmenden sozialen Desintegration und Verunsicherung geführt hat. Diese strukturellen Prozesse werden zusätzlich von Akteuren und Ideologien beeinflusst, zum Beispiel moralisch-religiösen Konservativen (vor allem in den USA) und neoliberalen Konzepten. Als Folge dieser Entwicklungen verändert sich das Kontrollsystem. Während es bislang auf Integration und Resozialisierung abzielte, heißt das neue Paradigma Risikologik. Diese Logik prägt die gegenwärtige Formation sozialer Kontrolle und ist Grundlage für eine alles durchdringende Rationalität der Sicherheit. Es geht nicht mehr um die Problembearbeitung und Konfliktlösung, sondern die Normabweichung wird als erwartbarer, technisch zu regulierender Sachverhalt aufgefasst. Mit der Etablierung dieser Risikologik korrespondiert die Zunahme von gesellschaftlicher Verunsicherung durch die Prekarisierung der Lebensverhältnisse. Beides zusammen führt zu einem stark steigenden Sicherheitsbedürfnis. Angesichts dieser Bedeutung von Sicherheit bezeichnen Singelnstein/Stolle die neue Formation sozialer Kontrolle als "Sicherheitsgesellschaft", deren Konturen Aldo Legnaro bereits 1997 als "spezifische gesellschaftliche Organisation zur Herstellung von Ordnung" beschrieben hat. Obwohl Singelnstein/Stolle die gegenwärtige Formation sozialer Kontrolle kritisieren, gehen sie davon aus, dass soziale Normen und Regeln grundsätzlich notwendig, jedoch wesentlich von den jeweils herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen bestimmt sind. Zur kritischen Analyse der Sicherheitsgesellschaft ziehen Singelnstein/Stolle konflikt- und hegemonietheoretische Ansätze heran sowie den Etikettierungsansatz und den Ansatz der Gouvernementalität (Foucault) und arbeiten zwei Grundzüge einer Kritik heraus: Zum einen führt Sozialkontrolle zu einer Absicherung gesellschaftlicher Strukturen, die Ausdruck wie Bedingung von Ungleichheit, Ungerechtigkeit, Herrschaft und Macht sind. Zum anderen erfahren die Mechanismen sozialer Kontrolle eine Verlagerung vom sozialen Nahraum hin zu professioneller Kontrolle. Dabei gewinnen Mechanismen mit subtilmanipulativem Charakter an Bedeutung, d. h. Macht setzt auf Zustimmung und Akzeptanz und tritt nicht offen als Herrschaft zutage. Mit einem Kapitel über eine alternative Perspektive von sozialer Kontrolle beenden die beiden Autoren das Buch. Singelnstein/Stolle setzen der Macht- und Herrschaftsförmigkeit ein Leitbild entgegen, "das einerseits individuelle Freiheit befördert und andererseits einen sozialen Interessenausgleich und eine Lösung von Konflikten zwischen den Individuen ermöglicht" (S. 119). Im Mittelpunkt steht jedoch eine negative Kritik der Sicherheitsgesellschaft, die die gesellschaftlichen Bedingungen und die herrschende Rationalität der Sicherheit in den Blick nimmt. Die derzeit gebräuchliche Kritik der "Sicherheitsgesellschaft" ist nach Singelnstein/Stolle jedoch nicht dazu geeignet, die Perspektive einer alternativen Sozialkontrolle in die wissenschaftliche und öffentliche Diskussion einbringen zu können, oftmals erscheint sie sogar als Legitimation der gegenwärtigen Formation. Wer beispielsweise Kosten und Effizienz bestimmter Maßnahmen (z. B. Videoüberwachung) kritisiert, kritisiert die Formen der Umsetzung und deren Begleitumstände und nicht die konkreten Maßnahmen. Dabei läuft er Gefahr, sich unfreiwillig an der Effektivierung staatlicher Sicherheitsstrategien zu beteiligen. "Die Sicherheitsgesellschaft. Soziale Kontrolle im 21. Jahrhundert" ist eine gelungene Beschreibung der Entwicklung gegenwärtiger sozialer Kontrolle. Die Verwendung des Begriffs "Sicherheitsgesellschaft" zur Analyse der gegenwärtigen Formation kann dabei überzeugen. Eine besondere Bereicherung sind die Zusammenfassungen, die als kurze Überblicke über bestimmte wissenschaftliche Diskurse oder theoretische Ansätze gelesen werden können. Die abschließenden alternativen Argumentationen sind leider sehr allgemein gehalten. Überhaupt hätten Beispiele an der einen oder anderen Stelle zum besseren Verständnis des Textes beigetragen. So bleibt das Buch in seiner Anlage ein theoretisches, das durch die wissenschaftliche Sprache dem einen oder der anderen nicht-wissenschaftlichen Leserin oder Leser Durchhaltevermögen abverlangen wird. Schade, wo die Autoren sich doch im Vorwort wünschen, dass ihr Buch über den wissenschaftlichen Bereich hinaus Beachtung finden möge. Dies ändert jedoch nichts daran, dass man Menschen, die einen kritischen Überblick suchen, das Buch uneingeschränkt empfehlen kann. Pär Ström: Die Überwachungsmafia. Das gute Geschäft mit unseren Daten, München, Wien 2005, 340 S. (19,90 Euro) Tobias Singelnstein, Peer Stolle: Die Sicherheitsgesellschaft. Soziale Kontrolle im 21. Jahrhundert, VS Verlag für Sozialwissenschaften Wiesbaden 2006, 160 S. (19,90 Euro)

in: UTOPIE kreativ, H. 201/202 (Juli/August 2007), S. 790-792

aus dem Inhalt:
VorSatz; Essay EKKEHART KRIPPENDORFF: Die Wiedergeburt Europas - aber aus welchem Geiste? Gesellschaft - Analysen & Alternativen RICHARD SAAGE: Renaissance der Utopie? INGRID LOHMANN: Was bedeutet eigentlich "Humankapital"? Dokumentierte Geschichte CLARA ZETKIN an MARIA REESE: Â… tote kalte Formeln Â… KÄTE und HERMANN DUNCKER: Eine Rußlandreise im Jahr 7 der Oktoberrevolution ERHARD SCHERNER: "Junger Etrusker erteilt Unterricht". Eine Erinnerung an Alfred Kurella Hannah Arendt im Disput MOSHE ZUCKERMAN: Zur Bedeutung von "Eichmann in Jerusalem" FRANK DEPPE: Hannah Arendt und das politische Denken im 20. Jahrhundert GUSTAV AUERNHEIMER: Revolution und Räte bei Hannah Arendt und Rosa Luxemburg Marxismus THOMAS MARXHAUSEN: Kommunistisches Manifest (Bearbeiteter) Vorabdruck eines HKWM-Stichwortes GÜNTER WIRTH: Marxismus, Glauben, Religion. Notwendige Bemerkungen zu einem Buch von Uwe-Jens Heuer GÜNTER MAYER, WOLFGANG KÜTTLER: Postsowjetische Marxisten in Russland DDR konkret SEBASTIAN STUDE: Halle/Saale 1989 MARIO KESSLER: Heimatlose Linke? Überlegungen zu Fritz Lamm und Leo Kofler Festplatte WOLFGANG SABATH: Die Wochen im Rückstau Bücher & Zeitschriften Pär Ström: Die Überwachungsmafia. Das gute Geschäft mit unseren Daten Tobias Singelnstein, Peer Stolle: Die Sicherheitsgesellschaft. Soziale Kontrolle im 21. Jahrhundert (ANDREAS MARCH, PETER ULLRICH) Hermann und Gerda Weber: Leben nach dem "Prinzip links". Erinnerungen aus fünf Jahrzehnten (FLORIAN WILDE) Peter Bathke, Susanne Spindler (Hg.): Neoliberalismus und Rechtsextremismus in Europa. Zusammenhänge - Widersprüche - Gegenstrategien (HORST HELAS) Stephan Krüger: Konjunkturzyklus und Überakkumulation (Ulrich Busch) Summaries