Wer schweigt, ist vielleicht nur unsicher

Kommentar zum Problem der linken Überidentifikation

Beim folgenden Text handelt es sich um einen Diskussionsbeitrag. Katharina König und Kathrin Vogler haben jeweils Repliken veröffentlich.

Die Antisemitismus-Linkspartei-Debatte hatte sich schon beruhigt, da legte Samuel Salzborn in der Jungle World (Nr. 30/2011) nach: „Wer schweigt, stimmt zu.“ Das ist falsch. Die Ausgabe machte wieder einmal mit einem witzigen Titelblatt auf („Zwei Parteien-Lösung vor dem Durchbruch“). Doch im Innern verteidigte Samuel Salzborn, ein Verfasser der Studie, in der der Linken ein konsensualer antizionistischer Antisemitismus vorgeworfen wird, mit allem Ernst seine Positionen. Verschiedene Kritiker_innen hatten angemerkt, dass wohl nur eine Minderheit „ständig ihre Israelfeindschaft kundtut“ (ebd. S. 3). Aus Sicht der Politikwissenschaft, so Salzborn, zählten (divergierende) Meinungen von Parteimitgliedern aber nicht, wenn sie sich nicht in Taten (gegen den Antizionismus) äußerten. Es gelte: „Wer schweigt, stimmt zu.“ Doch ist diese These haltbar? Salzborn weist seinen Kritiker_innen zwar Fehler nach, doch die Auseinandersetzung mit den eigentlichen Gegenargumenten wird umgangen. Wieder einmal — und dies scheint mir konstitutiv für die Diskussion — wird mit identifikatorischem Beharren die Chance auf Beteiligung an einem kollektiven Diskussionsprozess verspielt.

Kritiklose Überidentifikation

Die Verfasser der Studie und die berichtenden Medien legen einerseits den Finger in eine Wunde, die dringend der weiteren kritischen Erörterung bedarf, indem sie darauf hinweisen, dass auch Linke nicht vor Antisemitismus gefeit sind und dass Antisemitismus von links sich in Gestalt des Antizionismus materialisieren kann. Dies haben Autoren wie T. Haury, K. Holz oder M. Kloke für die Geschichte der insbesondere anti-imperialistischen Linken nicht nur in Deutschland nachgewiesen. In meiner eigenen Arbeit („Die Linke, Israel und Palästina“, Berlin 2008) habe ich untersucht, wie der Israel-Palästina-Konflikt, aber auch andere Ereignisse wie der Irakkrieg zu Katalysatoren einer Radikalisierung von Positionen werden können, in denen die Identifikation mit Konfliktakteuren in eine Überidentifikation umschlagen kann. Diese ist gekennzeichnet durch die Verwischung der Grenzen zwischen sich selbst und einer identifizierten Opfergruppe sowie die kritiklose Unterstützung dieser Seite und die ebenso homogenisierende Ablehnung der jeweiligen anderen Seite, was bis hin zu antisemitischen und rassistischen Differenzkonstruktionen reichen kann und damit zum Aufgeben des linken Universalismus. Ausgehend von einem in der Geschichte der Linken weit zurückreichenden zionismuskritischen Bias, kommt es zu solchen Positionen nicht zuletzt in der Palästina-Solidaritätsbewegung. Zu Recht wird Teilen der Linken daher eine Israel-Obsession vorgeworfen. Diese kann sich in Solidarisierungen mit der Hamas äußern — trotz deren Antisemitismus (der dann bestritten oder bagatellisiert wird) und ihrer Mordanschläge. Sie zeigt sich in einer mangelnden historischen Sensibilität, die die moralischen Imperative und spezifischen, insbesondere jüdischen Befindlichkeiten, die von der Shoah ausgehen, ignoriert. Sie zeigt sich in einer Dämonisierung Israels und in Verschwörungstheorien.

Selektive Aufmerksamkeit mit jüdischem Opferstatus

Ein großer Teil der Autor_innen, die sich mit dieser Obsession in kritischer Absicht befassen, ist jedoch selbst Produkt eines solchen Prozesses sukzessiver Radikalisierung der Identifikation mit einer Opfergruppe. Nur, dass sich die antideutschen/proisraelischen Positionen aus einer Kritik des linken Antisemitismus heraus gebildet haben und entsprechend die Annahme eines jüdischen Opferstatus für sie konstitutiv und im Verlaufe der 90er Jahre obsessiv wurde. Hauptmerkmal solcher identifikatorischer Positionierungen ist der andauernde Versuch, Ambivalenzen einseitig aufzulösen, was sich u.a. in selektiver Aufmerksamkeit niederschlägt. Und so erklärt sich, dass Antisemitismuskritiker_innen in einer Boykottforderung nur den diskursiven Anschluss an den nationalsozialistischen Judenboykott sehen können (und ihn entsprechend als antisemitisch denunzieren). Sie überlegen nicht, ob der Boykottgedanke aus einer anderen Perspektive betrachtet (Israel hält die palästinensischen Gebiete völkerrechtswidrig mit einer unerträglichen Politik besetzt) nicht auch verständlicher sein könnte. Auch dies gelingt nur durch die Auflösung einer Ambivalenz der Hamas (die eine in ziemlich jeder Hinsicht reaktionäre Organisation ist und doch auch Ausdruck der palästinensischen Besatzungserfahrung). Indem der Antisemitismus, den es unbestritten im palästinensischen Widerstand gibt, nicht als ein, sondern als das konstitutive Moment ausgemacht wird, kann Israel in dieser Konzeption v.a. Opfer bleiben, trotz seiner militärisch, politisch und wirtschaftlich klaren Überlegenheit.

Selektive Beispielwahl ohne methodische Klarheit

Solcherart verfestigte Wahrnehmungsmuster ermöglichen es Autoren wie Salzborn und Voigt, einen antisemitischen Konsens zu unterstellen, obwohl zwei gewichtige Gründe dagegen sprechen. Zum ersten ist, wie das Boykottbeispiel zeigt, kaum eines der kursierenden Kriterien dafür, wo Israelkritik und Antizionismus in Antisemitismus umschlagen, ein eindeutiger Indikator, sondern meist Ausdruck einer Grauzone. Einer Grauzone, in der linke Positionierungen nach rechts anschlussfähig werden können — in Abhängigkeit von den Motiven der Akteure, den diskursiven Kontexten und Rezeptionsmöglichkeiten. Zum zweiten nehmen sie unzulässige Generalisierungen vor. Deren Unzulässigkeit resultiert aber nicht, wie Salzborn unterstellt, aus einem positivistischen Wissenschaftsverständnis oder einer quantitativen Methodologie, sondern daraus, dass die Autoren ohne methodische Aussagen zum Vorgehen und der Beispielauswahl zu ihrer These passende Einzelbelege aufführen (allerdings auch wichtige Kontextinformationen unterschlagen) und viele nicht passende (bspw. zur gegensätzlichen Beschlusslage der Partei) verschweigen oder bagatellisieren.

Mut zur programmatischenAmbivalenz

Meine eigenen (im Übrigen auch der qualitativen Methodologie verpflichteten) Untersuchungen zeigen jedenfalls deutlich eines: wer schweigt, stimmt nicht unbedingt zu, sondern schweigt bspw. auch aufgrund von Diffamierungserfahrungen nach Äußerungen zur Thematik oder aufgrund von inhaltlicher Ambiguität. Manch eineR verweigert sich einer deutlichen Positionierung, weil die Komplexität des Feldes leichtfertiges Parteiergreifen oder Aburteilen verbietet oder weil die Diskussion angesichts gänzlich anderer politischer Prioritäten als Nebenschauplatz begriffen wird. Würde Nichtübereinstimmung in einem issue, wie Salzborns Argumentation nahelegt, die Notwendigkeit des Parteiaustritts implizieren, wäre keine politische Organisation möglich. Aber zum ex-post-Beweis sind die Schweigenden angesichts der aktuellen Debatte tatsächlich gefordert, ihre Ambivalenz in programmatische Beschlüsse und aktive, postidentitäre Politik umzusetzen.