Strolling down the Class Avenue

Mit Badiou an den Intersektionen zur Hauptstraße

Der folgende Beitrag von Mai-Anh Boger besteht aus sechs Straßen-Notizen, die jeweils mit einer (kritischen) Rückfrage an den Diskurs um Klassismus einhergehen. Den durch den Entstehungskontext bedingten Skizzencharakter hat die Autorin beibehalten.

Wir kehren hier am Prado in Marseille an sechs Kreuzungspunkten ein und fragen mit drei Texten von Alain Badiou im Gepäck nach Klassenverhältnissen

1) in einer Jazz-Kneipe

2) am höchsten Punkt, von dem aus man die alle Milieus verschlingende und verbindende Hauptstraße überblickt

3) an der Grenze zur Gentrifizierung, an der es ein bisschen chicer wird (oder zu werden droht?)

4) in einer Boutique für Frauen, in der kaum eine Frau selbst zahlt

5) am Strand, an dem einen maximal-colorisierte Touris sowie Einheimische daran erinnern, dass weiß keine Hautfarbe ist

6) in einer Abwesenheitsnotiz.

Danach folgt ein zwei-schrittiges Fazit.

1) Klassismus - Die Diskriminierung der Vielen?

Stell dir vor, es ist Jazz-Abend und niemand geht hin: "Ist ja auch die Stadt des (französischen) HipHop", sagt die eine. "Ja, Jazz wird da sehr offen ausgelegt. 99% davon sind eher jazzistisch…"

Muss man nicht so eng sehen, also.

Erster Gedanke: Quantifizierungen gelingt es selten, eine besondere Qualität zu transportieren, (wieder) ein Zeichen im emphatischen Sinne zu werden. Eine der Ausnahmen von dieser Regel wurde durch Occupy geliefert - egal, was man von dieser Bewegung ansonsten halten mag. Sie hat eine Zahl zum Emblem gemacht: 99%.

Zweiter Gedanke: Die Nachsilbe ›-ismus‹ wird derzeit in zwei Kontexten verwendet:

1) Sie wird an herrschaftliche Differenzlinien angehängt, um die jeweilige Form von Diskriminierung zu bezeichnen, wie in Sexismus, Rassismus, Ableismus usw.

2) Sie wird als derogativer Nachsatz, gewissermaßen zur Verballhornung an einen etablierten Terminus angehängt - in der Regel, um eine gewisse Distanz zu diesem einzuräumen oder aber, um ihn für passé zu erklären, ihn zu einer abgeschlossenen Epoche zu machen. Spricht jemand z.B. von Postmodernismus statt von Postmoderne, wird er sich den entsprechenden philosophischen und künstlerischen Linien wahrscheinlich eher fern fühlen. Mitunter dient das Anhängsel -ismus der Persiflage, der sarkastisch-scharfzüngigen Spitze gegen etwas oder sogar der Diffamierung; und wenn eine sagt, das heute Abend sei kein Jazz, sondern Jazzismus gewesen, lässt man ihr diese Wortschöpfung als humoreske Kunstkritik durchgehen.

und 1 und 2 und Frage: Was also soll es bedeuten - Klassismus? Ergibt es Sinn, eine Diskriminierungsform auszurufen, von der 99% betroffen sind?

Oder kommuniziert dieser Terminus (aus Versehen? unbewusst?), dass das ernstzunehmende Sprechen über Klasse passé ist, einer vergangenen Epoche entspringt, während die Theorien von heute, die noch von Klasse sprechen, sich lediglich in dem Sinne dem Klassistischen widmen, in dem das Konzert heute Abend jazzistisch war?

2) Eine Straße ohne Klasse

Vom höchsten Punkt aus sieht man überteuerte Geschäfte und völlig heruntergekommene Ecken im Wechsel. Wahrlich, diese Straße hat keine Klasse!

Über jemanden oder etwas zu sagen, es "habe keine Klasse" gilt als Beleidigung. Aber warum?

Es mangelt an einer Figur der Umkehrung. Bitte lesen Sie folgende Umkehrformen aufmerksam durch und füllen Sie die Lücke durch Analogiebildung:

race Über einen Fremden zu sagen, er "habe keine Kultur", meint, dass er "unkultiviert" sei oder einer "niederen oder primitiven" Kultur entstamme und fällt unter Rassismus. Umgekehrt aber gilt: Die Betonung, etwas habe keine Rasse, hänge an keiner Farbe, frage nicht nach Haut und Herkunft, gilt als anti-rassistische Äußerung (und optional als humanistische): "Humanity as such is colorless".1

gender Über jemanden zu sagen, es sei ein geschlechtsloses Neutrum, war einst ganz eindeutig negativ: es, das (noch) kein Geschlecht hat, war entweder noch bzw. nur ein Kind oder aus anderen Gründen nicht für ganz voll zu nehmen. Die Umkehrung jedoch gilt nicht erst seit queerfeministischen Zeiten als revolutionär: das Männliche nicht für neutral halten, sondern das tatsächlich Geschlechtslose, das wahrhaft Universale suchen. Im Allgemeinen gilt: Das Suchen nach dem wahrhaft Universalen geht stets mit einer Kritik des Pseudo-Neutralen, des Unmarkierten und Normalisierten einher. Was nun aber mit dem redlichen Versuch, keine Klasse zu haben?

"Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen, d.h. Bourgeois zu werden. Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde",2

schreibt Marx über die Bourgeoisie. Sie kann nichts sehen, sich nichts vorstellen, nichts dulden, das nicht der eigenen Klasse entspricht - sich dadurch zum universalen Maßstab erhebend.

Ermöglicht werden müsste, abseits dieser Klasse zu bestimmen, was es bedeutet, keine Klasse zu haben. Ich würde gerne sagen können: "Humanity as such is classless", ohne dass dies wie ein schlechter elitärer Witz klingt. Eine solche Verschiebung von Bedeutungen und Konnotationen gelingt nur durch kollektiven Wandel innerhalb einer Sprachgemeinschaft. Lass es uns gemeinsam üben! These und zugleich Schlachtruf des Tages:

Die Menschheit hat keine Klasse.

3) class X class‘ - Der Kettenbruch

Ein Mann zeigt auf ein Haus: "Schau mal, das haben sie auch neu gemacht. Und wenn du da die Straße runterschaust - da haben die alles saniert; die ganzen Fassaden, guck mal wie die jetzt glänzen!". Ja, es ist dieselbe Straße - und doch nicht mehr die Straße, in der er als Kind aufgewachsen ist. Beide haben einen sog. "sozialen Aufstieg" durchlebt. So kann auch er sich fragen, ob er "noch derselbe" ist.

Die Sache mit dem Arbeiterkind an der Universität bedarf der Inneren-Kind-Arbeit, wie man in der Psychoanalyse sagt (z.B. bei Luise Reddemann). Ab einem gewissen Alter wird es schlicht peinlich, sich als Kind zu bezeichnen - jedenfalls, wenn damit auf die konkrete familiale Abstammung verwiesen werden soll statt auf die bedeutsamere und symbolisierende Frage, wessen geistiges Kind man geworden ist, nachdem man erwachsen genug war, sich dies auszusuchen.

Der Begriff bzw. der gesamte Diskurs um das Arbeiter-Kind hat etwas Anti-Existentialistisches. Eribon schreibt dies ganz explizit, wenn er sich in der Spur Bourdieus dem Vorwurf gegenüber Sartre anschließt, dass dessen existentialistisches Phantasma zu bourgeois sei, um von einem Arbeiter geteilt werden zu können.3 Doch hat er eine Sache nicht gesagt bzw. seinerseits nicht geteilt, die de Beauvoir und Fanon in ihren (Gegen-) Entwürfen mit und gegen Sartre hochgehalten haben:

"Man ist nicht als Arbeiterkind geboren, sondern man wird dazu gemacht. Nichts zwingt mich dazu, mich selbst an mein proletarisches Erbe zu fesseln",

so würden die analogen Formen lauten - und sie klingen etwas schief. Daher eignen sich diese Analogien gut dazu, die Differenz zwischen diesen Differenzlinien zu erkunden (class vs. race & gender).

Das Arbeiterkind beharrt auf dem, als was es (angeblich, vermeintlich) geboren wurde, wo es hineingeboren wurde. Es kann daher gefragt werden, ob die Selbstbezeichnung "Arbeiterkind" vielleicht viel weniger den Beginn eines Empowermentprozesses beschreibt als vielmehr seine Verwerfung: An welcher Stelle bricht die Analogie? Warum lassen sich die Empowerment-Formeln nicht auf die class-Achse übertragen?

Das diesbezügliche Spezifikum der class-Differenz liegt in der hegemonial gewordenen Vorschrift, die Limitationen des eigenen Seins zu überschreiten, sie aufzuheben. Während man aus weiblicher und/oder Schwarzer Perspektive sinnhaft sagen kann, dass es darum gehe, sich gegen die Vorstellung zu wehren, man könne dies oder jenes nicht, weil man eine Frau und/oder Schwarz ist, findet man in der neoliberalen Aufforderung, vom Tellerwäscher zum Millionär zu werden, da einen angeblich doch nichts davon abhalten könne, ein gegenläufiges Narrativ. Angeblich, so flüstert diese Hegemonie unter dem Bann meritokratischer Illusionen, stünde uns allen doch alles offen. Bei race und gender hingegen ist der Schuldige immer schon ausgemacht: es sei unsere Weiblichkeit, unsere Schwärze, die uns beschränkt mache; das sei eben so und wir sollten dies doch einfach akzeptieren. Bei class hingegen ist jener der loser, der behauptet, er sei in irgendetwas beschränkt, nur weil er nicht mit einem goldenen Löffel im Mund geboren wurde.

Aus kapitalismuskritischer Perspektive fragen wir: Was will das identitätspolitisch engagierte Arbeiterkind, wenn es keinen Kommunismus will? - …

Sichtbar machen, dass seine Limitationen nicht ernst genommen werden?

Was bedeuten würde: die Anerkennung der eigenen Beschränktheit einfordern.

Es klingt polemisch. Aber ich glaube, genau diese Facette könnte subversives Potential haben - wenn man es denn bewusst täte: den Machbarkeitswahn unterbrechen, sich dem Aufstiegsimperativ verweigern, etwas Anderes begehren als die Anerkennung der eigenen Kompetenzen und Fähigkeiten. Schamlos limitiert sein - mit Betonung auf schamlos: Ich kann nicht - und ich werde mich nicht dafür schämen. Dieses nicht-mehr-Können ist sogar von der kapitalistischen Ordnung gewollt, also wozu darüber im Erdboden versinken?

Diesen Pfad zu verfolgen wäre jedoch etwas anderes als für bessere oder leichtere Aufstiegsmöglichkeiten innerhalb der gegebenen kapitalistischen Ordnung zu kämpfen. Es hieße, sie zu ruinieren - aus Liebe zum eigenen inneren Kind. Was könnten wir mehr tun, als nicht mehr tun zu können?

Den Gedanken an einen weißen Mann, der im Frieden damit ist, kein Bourgeois zu sein, und der sich auch nicht als "Arbeiterkind" bezeichnen lässt, finde ich unheimlich sexy. Ja, dieser Mann ohne Klasse, er wäre mein Spartacus.

4) class X gender - Der Fahrstuhl neben der Aufstiegsleiter

Da ist eine jener Boutiquen, von denen du weißt, dass die statistische Wahrscheinlichkeit dafür, dass eine Frau darin ihr selbst verdientes Geld ausgibt - dass also Oprah dort shoppen geht - bei 1% liegt. Ich gehe weiter und schreibe in mein Heft:

These: Die Frau hat ein besonderes Potential dazu, keine Klasse zu haben.

Begründung: Aus weiblicher Perspektive steht die berühmte "Leiter des sozialen Aufstiegs" neben einem Fahrstuhl. Dekoriert ist dieser mit einem Schild mit der Aufschrift: "Nur für Emanzen außer Betrieb". Die übrigen trägt er auf dem traditionellen Weg des Aufstiegs durch Heirat komfortabel nach oben. Die einzige Beschwerlichkeit auf dieser Reise besteht darin, dass es sich um einen jener Fahrstühle mit einem Spiegel darin handelt. Zudem liegt eine Frau, die auf diese Weise oben angekommen ist, am Ende stets unten.

Der soziale Status der Frau hängt nach wie vor an ihrem Ehemann - oder an seiner Absenz. Ob ich eine bürgerliche Frau bin, hängt nicht an meinem Beruf oder Einkommen, sondern an dem meines Mannes. Habe ich keinen, bin ich entweder jung, also "noch" nicht verheiratet, oder deviant (alleinerziehende Mutter; lesbisch; eine alte Schachtel, vermutlich gestört…). Die Frau mag Einkommen haben und/oder sogar erben können, aber auf eigentümliche Weise hat sie noch immer keine Klasse, die unabhängig von der Frage wäre, welchem Mann sie gehört - einem Vater (da sie ja noch ein (Arbeiter-)Kind ist) oder eben einem Ehemann. In diesem Sinne ist die Frau dazu prädestiniert, auszufüllen, was es bedeutet, keine Klasse zu haben.

5) class X race - Nomadische Geschäfte

Da geht dieser Typ am Strand rum und verkauft Süßigkeiten. Manche davon verschenkt er aber auch einfach - bevorzugt, indem er sie hübschen Frauen ins Bikini-Dekolleté wirft oder sie mit herben Witzen garniert. Manchmal macht er auch einen zu herben Witz, lässt sich dann von der Frau schimpfen und entschuldigt sich damit, dass er die Süßigkeit zur Wiedergutmachung verschenkt. Meistens aber trifft er den Ton, die richtige Stimmung. Der Mann neben mir kauft sich ein Mini-Tütchen Nüsse für einen Euro und rechnet durch, wie viele davon man täglich verkaufen müsste, um von diesem Job leben zu können. "Geht auf", sagt er: "wenn er nicht zu viele davon verschenkt!"

Ich bewundere den Verkäufer und frage mich kurz, warum. Seine Stimme durchdringt den Lärm-Teppich des Strandes und fügt sich zugleich scheinbar nahtlos in diese Welt ein - und in meine Strandlektüre von Badiou. Vom "nomadischen Proletariat" ist da die Rede, wie meistens. Und ich zähle in meinem Kopf, wie viele Schwarze Verkäufer heute schon an mir vorbeigewandert sind in der Hoffnung auf ein Geschäft an jenem Strand, der sich am Ende unserer Hauptstraße befindet. Ich lese weiter: Badiou zeichnet nach, wie sich das Vokabular im Sprechen über diese nomadischen Arbeiter*innen in Frankreich verschoben hat. Zunächst nannte man sie schlicht "Arbeiter" - wie man auch in Deutschland von "Gast-Arbeitern" sprach. Dann war die Rede von "Immigranten" und nun zuletzt von "Migranten"4. Man müsse das als Verfallskurve lesen, sagt er, und zu dem Punkt zurückkommen, an dem wir wieder von "Arbeiter*innen" sprechen statt die "Einheit der Menschheit" zu verkennen, wie er andernorts schreibt.5 Interessant an dieser Kreuzung von Migrations- und Klassenfragen ist folgende doppelte Rotation: In dem Buch über wandernde Arbeiter*innen, über die sog. "Migranten", schreibt er also, wir sollten über Klasse sprechen. Und in der Rede an die Jugend über Klassenverhältnisse schreibt er, dass man am Rassismus und jener sog. Migrationsfrage erkennen könne, wie sehr wir Menschen noch am Anfang unserer Geschichte stehen. Dringend und zuvorderst müsse man sich dieser Aufgabe widmen. Nach der neolithischen Revolution habe es keine zweite mehr gegeben, die unseren Umgang mit dem Anderen markant verändert hätte: "Wir bewegen uns immer noch innerhalb dieser Parameter. Wir sind Neolithiker".6

Zwei Gedanken dazu:

1) Was ist das für eine gewitzte Strategie im Umgang mit Kreuzungen? Je nachdem in welchem Raum er spricht, lehrt er also, entweder die eine oder die andere Straße als Hauptstraße zu sehen und anzuerkennen. Die Kreuzung wird so zum Rotationsort. Leicht wird den Leuten die Straße, aus der sie kommen, zur Hauptstraße ihres Denkens. Politische Bildung - verstanden als Motivation zu einer Blickwende - vollzöge sich dann dort, wo es möglich wird, zumindest probeweise eine andere Straße zum Zentrum und Ausgangspunkt zu machen als jene, von der man immer schon ausgeht.

2) Wir sind Neolithiker - das bedeutet nichts anderes als: Die ganze Menschheit ist primitiv. Eine noch völlig unterentwickelte, geistig verkümmerte Rasse, die bis dato nicht mehr vollbracht hat, als den rassistischen Umgang mit dem Anderen noch zu verschärfen und ihn in eine kapitalistische Ordnung zu gießen statt ihn aufzuheben. Das ist nichts anderes als eine alternative Formulierung für "Die Menschheit hat keine Klasse". Noch immer ist das Leben des Neolithikers ein erschreckend animalisches - bestimmt durch Kriege, geleitet von niederen Triebregungen. Kein Wunder, dass die Verführung, das Primitive auf bestimmte Gruppen innerhalb dieser einen Menschheit zu projizieren, so groß ist.

6) Abwesenheitsnotiz: Grenzen der Gehfähigkeit und Gangbarkeit

Nach einer Woche in dieser Stadt habe ich noch immer keinen einzigen Rollstuhl gesehen und auch keine Oma mit Rollator - und weiß sehr genau, warum. "Mit dem ganzen hui-hui-hui-", sagt der Mann eine auf- und abwandernde Hügellinie in die Luft malend, "da willste nicht wohnen, wenn du berollt unterwegs bist" - und fürwahr: auch Inline-Skates, Skateboards oder ähnliche Beräderungsoptionen habe ich kein einziges Mal gesehen. Der Hügelerklimmungen bei 30 Grad im Schatten müde, gehe ich ins Wasser. Wo sie wohl wohnen? Die Alten, die Gehschwachen, die Berollten und Anders-Verkehrenden? In den Schloss-ähnlichen weißen Häusern? Ja, da ist eine künstlich planierte Hochebene für die Hochwohlgeborenen! Die 1% eben… Die übrigen 99? Draußen auf dem Land?

Wie weit und wohin kann man gehen mit der Betrachtung der Intersektionen?

Die Frage, ob "Klassismus" im deutschsprachigen Gehör nicht auch als Verballhornungs-ismus gehört werden kann/muss/darf, verweist auf die Notwendigkeit einer Transposition, die mehr ist als nur eine Übersetzung. So lernten wir eingangs, dass die Diagnose, etwas oder jemand "habe keine Klasse" von der Dame mit Perlenkette ausgesprochen anders vernommen wird als aus dem Mund einer roten Zora des Meeres. Zudem funktioniert das Wortspiel mit dem englischsprachigen Original classism nicht. Es ist angewiesen auf ein europäisches Gehör. Daher die Notwendigkeit, an den Intersektionen zu transponieren: (Subjekt-)Positionsreflexion und Übersetzbarkeit bedingen einander in und auf diesem Zwischen der Kreuzung.

Marseille hat eine lange marxistische Tradition. Für den US-amerikanischen Kontext wiederum lässt sich spekulieren, ob der dort weit verbreitete Anti-Kommunismus bzw. die Verteufelung marxistischer Theorie eine diskriminierungstheoretische Zuspitzung des topos zu politisch-strategischen Zwecken nahelegt: Wird etwas leichter gangbar, einfacher in den Diskurs einführbar, wenn man Klasse zu einer Differenzlinie gleich den anderen intersektionalen Kreuzungslinien - race, gender, dis/ability - macht? Immerhin wird class auf diese Weise nicht (ganz) vergessen, sondern mitgelistet. Würde eine solche Strategie auch im deutschsprachigen Kontext einen Weg eröffnen? Von Klassismus sprechen, um sich in den Diskurs um Diskriminierung einzuklinken, der derzeit beliebter ist als das Sprechen über Klasse?

Die Methode der intersektionalen Reflexion ergießt sich nicht darin, eine Achse an die andere zu hängen (à la: Aber was ist mit migrantischen Arbeiterkindern? Und was ist mit behinderten Arbeiterkindern?), wenn auch sie dies umfassen kann - und in diesem Fall auch tat. Wichtiger ist es, sich präzise nach der eigenen Situierung und Perspektivierung zu fragen - und nach der des anderen (Textes) - und sich immer wieder zu re-situieren, den topos zu re-perspektivieren, ihn so lange zu drehen und zu wenden bis er zum u-topos wird, also zum Senfkorn einer Utopie, in der sich alle Mosaiksteine unter einem Zeichen, das für-wahr-gehalten werden will und das also universal ist, verbinden. Wir fragen:

Geht das so (auf)? Das ist die Leitfrage eines praxeologisch-phänomenologischen Verständnisses von Intersektionalität. Geht das? Und wohin kommt man damit? Kann man als Frau oder auch aus Trans*Inter*Non-binary-Perspektive auf dieselbe Weise davon sprechen, ein Arbeiterkind zu sein wie cis-Männer es tun? Oder wäre es gangbarer, dem eigenen (queer)feministischen Erbe die Treue zu halten, das die jeweiligen geschlechterspezifischen Klassenfragen kennt, auf der eigenen Straße, dem eigenen Parkett zu bleiben? Verliere ich mich unter dem Zeichen "Klassismus"? Holt mich jemand an dieser Kreuzung ab? Das ist die alte Frage der von Crenshaw entworfenen Konzeptmetapher der Kreuzung: Wer trifft da auf mich, stößt mir oder auf mich zu? Wer holt mich da ab? und zugleich: Will ich die Richtung, die Perspektive wechseln? Zwischen dem Passiven des gekreuzt-Werdens und dem Aktiven des sich Re-Situierens weilt das Ungewisse, das Offene.

Von Zwischen zu Zwischen migriert das nomadische Proletariat; und auch seine politischen Bewegungen tun es: sie versammeln sich mal unter jenem Zeichen und mal unter diesem - je nachdem, welcher Weg gangbar erscheint. Oder berollbar? Beschwimmbar?

Fazit: Eine andere Topographie…

Das Meer weiß um diese Möglichkeit einer anderen Karte, einer beweglicheren Topographie: Die Straßen des Meeres formieren sich durch die Winde, im Befahren-Werden und bleiben stets flüssig. Vielleicht ist hier gestern eine Straße gewesen? Vielleicht ist hier eine neue Hauptstraße im Kommen?

Wenn mich das Mediterrane eines gelehrt hat, dann vielleicht dieses Bild am Horizont zu sehen: Die Kreuzungen, das Zwischen kommt zuerst. Von dort aus entstehen die Wege. Es klingt paradox, läuft, rollt, geht, schwimmt aber genau so: Am Anfang kommt etwas dazwischen - das Zwischen. Und dann er_findet man Wege, um irgendwie rumzukommen, über die Runden zu kommen, seine Runden drehen zu können. Von der Kreuzung aus gedacht entstehen die Wege. Es sind die Straßen, welche die partikularen Lösungen darstellen. So rotieren sich die Perspektiven: Vielleicht ist Rassismus die Hauptstraße, der kardinale Weg der Unterdrückung und Klassismus nur eine Ableitung daraus? Die These, die Badiou in seiner Rede an die Jugend festhält, behauptet genau dies: Die Einheit der Menschheit, die Tatsache, dass - wie ich vorschlage, es zu phrasieren - die Menschheit eine gemeinsame Rasse ohne Klasse ist, soll durch die unterdrückerische Bewegung verleugnet werden. Insbesondere herrscht eine regelrechte Obsession bezüglich der Unterdrückung liebender Verbindungen:

"Rassisten haben, wie Sie wissen, schon immer sexuelle Beziehungen, ganz zu schweigen von der Ehe, zwischen Angehörigen der höheren Rassen und denen der niedrigeren Rassen gefürchtet und verboten, die jedoch wegen der unterirdischen Arbeit der Einheit der Menschheit als ständige Versuchung existierten. Sie erließen schreckliche Gesetze, damit Schwarze niemals Zugang zu weißen Frauen oder Juden zu vorgeblich arischen Frauen hatten. Diese in der Geschichte der rassistischen Strömungen bestimmbare Besessenheit versuchte also, das Offensichtliche zu leugnen, nämlich die ursprüngliche Einheit der Menschheit, und dehnte sich im Übrigen auf andere Unterschiede aus, wie etwa auf soziale Unterschiede."7

Wir Neolithiker haben die Menschheitsgeschichte also bis dato dazu genutzt, den Rassismus und Antisemitismus zu erfinden und nach Badiou haben wir dieses Prinzip auf die übrigen Differenzverhältnisse "ausgedehnt" (s.o.). Es gibt also diesen "Rassismus", der sich auch gegen Leute aus der eigenen Bevölkerungsgruppe richten und über diese sagen kann, sie hätten "keine Kultur" - obwohl sie aus rassistischer Perspektive aus derselben Kultur kommen - und diesen Rassismus, den wollen wir nun Klassismus nennen. Eine diskriminierungstheoretische Verkürzung oder genial? Wir werden es nicht erfahren, wenn wir diesen Weg nicht erfinden, ihn durch Begehen schaffen und ausprobieren, wohin er führt. Und so subsummiert auch Badiou - nach Dekaden der Arbeit als gestandener Marxist - die Frage nach dem Klassenverhältnis unter das Zeichen des Rassismus und der Diskriminierung, wenn er resümiert, dass es darum gehe, dass "man sich gegenüber allen Formen von Rassismus und Diskriminierung - der Trennung der Menschen nach Rasse, Nationalität, Religion oder nach Klassenzugehörigkeit - zur Einheit der Menschheit als solcher bekennt".8 Gerade weil er sich auf eine Kapitalismuskritik und somit auf die Frage der Eigentumsverhältnisse fokussiert, betont er vehement, dass die "Priorität" der politischen Arbeit auf "dem riesigen Wanderproletariat" liegen müsse, das man gemeinhin als "geflüchtet" bezeichnet: "Das ist die einzige im eigentlichen Sinne politische Aufgabe der Stunde"9 - nicht das Arbeiterkind. Schwimmen wir also ins Offene:

… führt zu einem anderen Verständnis von Klassismus

"Klassismus" sei in diesem Experiment definiert wie folgt:

Klassismus ist die erste und wirkmächtigste Ableitung aus rassistischen Verhältnissen. Sie vervollständigt und totalisiert die kapitalistische Lebensweise der Kriegsführung und der Beraubung und Ausbeutung des Fremden durch Ergänzung um die Ausbeutung der Eigenen.

Seither sind 99% der Welt die Anderen.

Klassismus beschreibt die im Rahmen einer Nation hochgehaltene Ideologie, dass auch die Nicht-Fremden ausbeutbar gemacht werden müssen, um die kapitalistische Ordnung zu perfektionieren. Als Trostpflaster für diese zweite Form von Diskriminierung bietet man ihnen an, sie weiterhin von der primären Form von Rassismus zu verschonen, sie als weiße Subjekte zu privilegieren.

Folgerichtig ist der Kampf gegen Klassismus von weißen Subjekten dominiert. Im besten Fall gelingt ihnen von dieser Nebenstraße aus die Aufhebung des ent-fremd-eten Bewusstseins der anderen weißen Subjekte:

Das ent-fremd-ete Bewusstsein des unter dem Zeichen des Weiß-Seins (als Anerkennung, dass man zu den Eigenen, den Nicht-Fremden gehöre) verführten Proletariats besteht in der Verleugnung der Tatsache, dass es - ganz unabhängig von Hautfarbe und Herkunft - von Rassismus mitbetroffen ist und dies nicht bemerkt, da es die Falschen für "die Eigenen" hält.

Daher ist es Zeit, sich zu ent-ent-fremden, wieder fremd zu werden.

Anmerkungen

1) Alain Badiou 2017: Black - The brilliance of a non-color, Cambridge, Malden, MA: 104.

2) MEGA-Zitat aus Alain Badiou 2020: Traut den Weißen nicht!, Wien: 37.

3) Didier Eribon 2017: Gesellschaft als Urteil. Klassen, Identitäten, Wege, Frankfurt am Main: 79.

4) Alain Badiou 2020 (s. Anm. 2): 18ff.

5) Alain Badiou 2019: Rede an die Jugend - 13 Thesen zur Politik, Wien.

6) Ebd.: 13.

7) Ebd.: 14f.

8) Ebd.: S.15. Unterstrichen wird dies (auch) bei Badiou durch die Betonung, dass die Phase des Kolonialismus dem Kapitalismus vorausging; die rassistische (Um-)Ordnung der Welt ging in diesem Sinne der klassistischen Ausweitung dieses Prinzips historisch voraus (s. ebd.: 44).

9) Ebd.: 57f.

Mai-Anh Boger, Dr. phil., ist Akademische Rätin an der Universität Regensburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Philosophien der Differenz und Alterität, Psychoanalyse und das Politische.