Deutsche Projektionen

Hefteditorial iz3w 380 (September/Oktober 2020)

Am 11. Juli wurden in Potočari bei Srebrenica acht Männer beigesetzt, die vor 25 Jahren dem Genozid in Srebrenica zum Opfer gefallen waren. Jedes Jahr werden im Rahmen einer Gedenkfeier Opfer beigesetzt, die erst jetzt identifiziert werden. Das liegt unter anderem daran, dass einige Massengräber während des Bosnienkrieges mehrfach umgebettet wurden.

Dieses Jahr fielen die Gedenkfeierlichkeiten wegen der Corona-Krise kleiner aus als für den 25. Jahrestag ursprünglich geplant. Aufgrund des »runden« Anlasses bekam das Thema dennoch zumindest kurz Aufmerksamkeit in den deutschen Medien, die sich sonst kaum für die Region und die Folgen des Bosnienkrieges von 1992–1995 interessieren.

In der Berichterstattung fiel oft einiges durcheinander. Ein kennzeichnender Satz, hier aus tagesschau.de, über das größte Kriegsverbrechen im Jahr 1995 lautet: »Beim Massaker von Srebrenica starben über 8.000 muslimische Jungen und Männer.« Daran ist vieles ungenau bis falsch. Die Zahl der identifizierten Opfer erhöht sich bisher jedes Jahr, da forensische Teams weiter an den Massengräbern forschen. Bisher konnten sie 8.372 Personen identifizieren, darunter 570 Frauen und Mädchen. Der Satz setzt also die Gesamtzahl der Opfer zu niedrig an und macht weibliche Opfer unsichtbar.

Zudem arbeitet der Satz mit zwei problematischen Begriffen. Zunächst: »muslimisch«. Tatsächlich war die Mehrheit der Opfer muslimisch. Wenn gleichzeitig die Täter jedoch als »serbisch« bezeichnet werden, geraten die Ebenen durcheinander: Die Opfer werden nach ihrer Religion benannt, die Täter nach ihrer Ethnie. Richtig wäre, von bosniakischen Opfern und serbischen Tätern zu sprechen. Oder, wenn man denn möchte: von muslimischen Opfern und christlichen Tätern.

Das mag sich nach Haarspalterei anhören, wenn man aber in der Auseinandersetzung mit dem Bosnienkrieg nicht Stereotype reproduzieren will, ist ein differenzierter Blick zentral. Dazu gehört auch der Sachverhalt, dass Religion in vielen innerstaatlichen Konflikten (etwa auch in Nordirland) als Marker fungiert, um sich von einer anderen Gruppe abzugrenzen. Gerade wenn es, wie in Bosnien, keinen anderen Marker wie beispielsweise Sprache gibt.

Der zweite problematische Begriff im Beispielsatz ist das Wort »Massaker«. In den letzten Jahren gab es eine durchaus fragwürdige Tendenz dazu, jegliches Massensterben als »Genozid« zu bezeichnen. Warum aber wird ausgerechnet Srebrenica als Massaker bezeichnet, wo es doch von UN-Gerichten als Genozid klassifiziert wurde?

Damit ist man mitten in der Auseinandersetzung um die Definition des Genozid-Begriffes und die Relativierung von Genoziden, die im Fall Srebrenica auch die internationale und deutsche Linke betrifft. Die UN-Konvention definiert Genozid als »Handlung, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören«. Diese Definition hat ihre Probleme, etwa, dass sie Verfolgung aus politischen Gründen nicht abdeckt. Aber sie ist die einzig international anerkannte Definition. Wichtig ist, dass schon die Absicht zum Genozid strafbar ist, weshalb das Argument, dass eine bestimmte Opferzahl nicht »groß genug« für einen Genozid sei, hinfällig ist.

In Bezug auf Srebrenica wird letzteres Argument manchmal angeführt. So schrieb das linke Jacobin Magazine aus den USA zum 20. Jahrestag des Genozids, dass Srebrenica kein Genozid gewesen sei, da beispielsweise die Massaker in Indonesien 1965/66 nicht als solcher klassifiziert wurden, obwohl dort mehr Menschen starben. Dabei handelte es sich überwiegend um Kommunist*innen – die verfolgte Gruppe wurde also politisch definiert und fällt nicht unter die Genozid-Definition der UN. Diese UN-Definition nicht explizit zu kritisieren und Massaker gegeneinander aufzurechnen ist jedoch analytisch falsch und es instrumentalisiert die Opfer.

Diese Relativierung war auch in der deutschsprachigen Linken verbreitet. Ähnlich wie bei Jacobin, wo Srebrenica zuerst als Rechtfertigung für US-Interventionen gelesen wird und der Analyserahmen der US-Imperialismus ist, ist die Auseinandersetzung mit den Jugoslawienkriegen in der deutschen Linken von Projektion geprägt. Nach der Wiedervereinigung war die Kritik am deutschen Nationalismus zentral. Das war richtig, daraus aber eine kritiklose Solidarität mit Serbien abzuleiten, war es nicht. Ebenso falsch war es, die Schablone des Zweiten Weltkriegs auf die Konflikte der 1990er Jahre zu legen. Das führte zu einer Solidarisierung mit einem serbisch-jugoslawischen Regime, das nominell sozialistisch war und als Statthalterin der Unterdrückten ausgemacht wurde. Der Konflikt wurde nicht analysiert, sondern entsprechend der Bedürfnisse der Linken im eigenen Land betrachtet. Das kann nur falsch sein.

Dagegen sollte man einen Genozid als solchen benennen und sich auch abseits von tragischen Jahrestagen mit Jugoslawien und seinen Nachfolgestaaten zu befassen. Zumal viele Jüngere kaum etwas über die damaligen und aktuellen Auseinandersetzungen in dieser Europaregion wissen.

die redaktion