Bundesaußenminister Sigmar Gabriel beklagte nach dem sizilianischen G7-Gipfel Ende Mai dessen magere Ergebnisse und meinte im ZDF: „G7 war mal der Ursprung der westlichen Welt.“ Da irrte der gute Mann. Wenn er die gewichtigen Schriften des staatstragenden Historikers der Berliner Republik, Heinrich August Winkler, gelesen hätte, wüsste er, dass die Ursprünge der „westlichen Welt“ bei den alten Griechen, dem Römischen Reich, der Papstkirche und den Kreuzzügen liegen.
Aber auch in einem zeitnahen Sinne zeigte der Minister hier lediglich seine Unbildung. In der Formierung des Westens gegen die Sowjetunion im Zuge des Kalten Krieges kamen zuerst die deutsche Spaltung, dann die NATO-Gründung und danach die der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, aus der die EU wurde. Die Initiative für die Gruppe der Sieben (G7) hatten Bundeskanzler Helmut Schmidt und der damalige Präsident Frankreichs, Valéry Giscard d'Estaing, bei einem Kamingespräch im französischen Schloss Rambouillet 1975. Dortselbst fand im November 1975 ein erstes Treffen von sechs Staaten statt, neben der BRD und Frankreich die USA, Großbritannien, Italien und Japan. Später wurde Kanada beteiligt. Im Hintergrund standen der Zusammenbruch des internationalen Finanzsystems von Bretton Woods – USA-Präsident Richard Nixon hatte 1971 die Goldbindung des Dollars aufgekündigt, die seit Einführung fester Wechselkurse 1944 das System getragen hatte; 1973 wurde es offiziell beerdigt – sowie die Ölkrise 1973, die die westlichen Wirtschaften erschütterte.
Die Gründer hatten eine kleine Runde von Staats- und Regierungschefs im Sinn, die sich informell treffen und in Ruhe über drängende Fragen der Weltwirtschaft und des internationalen Finanzsystems reden. Später kamen Themen der Außenpolitik, der internationalen Beziehungen, der Bevölkerungsentwicklung, der Umwelt und andere hinzu. Zwischendurch hatte man Russland hinzugezogen, ihm nach der Krise um Ukraine und Krim aber den Stuhl wieder vor die Tür gestellt. „Der Westen“ war wieder unter sich. Mit der Zeit nahm das Treffen barocke Ausmaße an: je wichtiger ein Staatenlenker, desto größer der ihn begleitende Hofstaat. Im Laufe des jeweiligen Jahres gab es Zusammenkünfte der verschiedenen Ressortminister und langwierige Verhandlungen über Abschlusskommuniqués.
Das auch von den deutschen Wahrheitsmedien in Bezug auf das diesjährige G7-Treffen gern benutzte Wort von den „sieben führenden Industriestaaten“ verschleiert allerdings die realen Kräfteverhältnisse in der Welt. In der Liste der Staaten nach dem nominalen Bruttoinlandsprodukt (Schätzungen des Internationalen Währungsfonds für 2016, Stand April 2017) liegen sie zwar alle unter den ersten zehn: die USA auf Platz 1, Japan auf Platz 3 (nach China), 4. Deutschland, 5. Großbritannien, 6. Frankreich, 8. Italien (hinter Indien) und 10. Kanada, nach Brasilien. Die Liste nach Kaufkraftparität sieht jedoch anders aus. Da liegt China bereits auf Platz 1, 2. USA, 4. Japan (hinter Indien), 5. Deutschland. Es folgen Russland, Brasilien, ferner Indonesien, 9. Großbritannien, 10. Frankreich, 12. Italien (nach Mexiko) und schließlich – nach der Türkei, Südkorea, Saudi-Arabien und Spanien – 17. Kanada. So sind die G7 heute gleichsam ein Schutzbund zur Verteidigung der verbliebenen Positionen der alten Mächte aus dem nordatlantischen Raum gegen die übrige Welt, vor allem die aufstrebenden neuen Wirtschaftsmächte aus dem Süden.
Vor dem Hintergrund dieser gleichsam tektonischen Verschiebungen in der Weltwirtschaft erscheint gerade den absteigenden Mächten Westeuropas die Verbundenheit mit den USA als besonders wichtig. Die ist jedoch nicht deshalb fragil, weil Präsident Donald Trump sich rüpelhaft vordrängelt. Die USA handeln unter der Voraussetzung „imperialer Überdehnung“. Die globalstrategische, interventionistische Außenpolitik von Franklin D. Roosevelt bis Barack Obama wird von der neuen Regierung als zu teuer angesehen. Das Motto „America First“ ist konzentrierter Ausdruck der Absicht, eine Anpassung an die veränderte Lage der USA in der Welt zu vollziehen. In diesem Sinne waren die Stationen der Reise Trumps nach Europa Teil eines Ganzen. Zunächst ein kurzes Treffen mit den Staats- und Regierungschefs der NATO in Brüssel, auf dem er sie wie unartige Schüler abkanzelte, weil sie mehrheitlich ihre Hausaufgaben – höhere Rüstungsausgaben – nicht gemacht haben. Klaus von Dohnanyi, 1976-1981 Staatsminister im Auswärtigen Amt, meinte, NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg gehöre entlassen, weil er sich dort wie „der Butler“ des USA-Präsidenten benommen habe. Aber war denn der NATO-Generalsekretär je etwas anderes?
In Brüssel gab es zudem ein Treffen Trumps mit den Spitzen der EU. Da wurde durchgestochen, Trump habe in Zusammenhang mit den deutschen Exportüberschüssen das Wort „bad“ benutzt, was in der Presse sogleich als „böse“ kursierte. Vor der Presse betätigte sich EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker als Sprachmittler. Trump habe „nicht gesagt, die Deutschen benehmen sich schlecht, sondern wir haben ein Problem, wie andere auch, mit deutschen Überschüssen“. Das „wie andere auch“ wurde in den meisten Berichten der deutschen Presse übrigens weggelassen. Man will nicht hören, dass die deutschen Exportüberschüsse ein Problem nicht nur in den Beziehungen zwischen Deutschland und den USA, sondern auch in der EU sind. Der deutsche Leistungsbilanz-Überschuss 2016 betrug 297 Milliarden US-Dollar, China folgte mit 245 Milliarden, während die USA das größte Defizit in Höhe von 478 Milliarden Dollar hatten. Aus dem Handel mit den USA und Großbritannien resultierten 2015 44 Prozent der deutschen Überschüsse. So ist es folgerichtig, dass nicht nur China, sondern auch Deutschland in den Fokus der von Trump ins Visier genommenen Außenpolitik geraten ist – nicht als „Freund“, sondern als Gegner.
Danach folgte der G7-Gipfel in Taormina. Da musste Trump nicht viel rüpeln. In Worten und Zeichensprache hatte er in Brüssel bereits alles vorbereitet. Dass dort nicht herauskam, was sich Merkel und andere EU-Politiker so dachten, war abzusehen. Aus deutscher Sicht betrieb Donald Trump „Verweigerungsstrategie“ in Sachen Bündnistreue, Welthandel und Klimapolitik. Allenthalben wurden Verwerfungen im Verhältnis Deutschlands und der EU zu den USA konstatiert. Kanzlerin Merkel meinte im bayerischen Bierzelt: „Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei.“ Deshalb gelte: „Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in die eigene Hand nehmen.“ Daran arbeitet die deutsche Regierung aber schon länger. Trump ist nicht der Grund, sondern die Gelegenheit, dies weiter voranzutreiben.
Zunächst meldeten sich Stimmen in Deutschland, Merkel sei zu forsch aufgetreten. Während die üblichen Trump-Gegner in Washington gleich wieder die Notglocke zu läuten versuchten. Tatsächlich hatte Merkel auch jetzt wieder die „Freundschaft“ zu den USA betont. Das Weiße Haus dagegen bestritt einen Konflikt, im Gegenteil: Die Äußerungen Merkels, dass die Europäer ihr Schicksal nun „in die eigene Hand nehmen müssen“, bezeichnete Präsidentensprecher Sean Spicer als „großartig“. Sie entsprächen genau dem, „was der Präsident gefordert hat“. Merkels Worte seien Beleg dafür, dass Trump „Ergebnisse erzielt“.
SPD-Spitzenkandidat Martin Schulz versuchte wieder, sich vor Merkel zu stellen, obwohl niemand den Eindruck hatte, dass sie das braucht. Trump käme im Stile eines „autokratischen Herrschers“ daher; es gehe nicht an, dass er die Bundeskanzlerin in einer „derart demütigenden Weise behandelt“. Und weiter, Originalton: „Eine solche Behandlung müssen wir empörend zurückweisen.“ Da wäre anzumerken: „Schulz! Das ist wieder eine Bildungsfrage.“ Es könnte richtig heißen: „Das ist empörend! Wir weisen es zurück!“ Oder: „Wir sind empört und weisen diese Behandlung zurück!“ Oder meinte er: „Es ist empörend, dass wir diese Behandlung zurückweisen!“ Was wissen wir nun, bei diesem Kandidaten?