Der Westen & Russland – zum Diskurs

Lässt sich das in der NATO inzwischen vorherrschende Zerrbild vom aggressiven, bedrohlichen Russland eigentlich noch steigern?
Zumindest Bemühungen in dieser Richtung sind nicht zu übersehen.
Da „begründet“ Vittorio Hösle, seines Zeichens Philosoph, ausgerechnet in den renommierten Blättern für deutsche und internationale Politik, dass „Russland heute gefährlicher ist als die alte Sowjetunion“ und bemüht dafür fünf Gründe. Allesamt etwa von diesem Zuschnitt: Stalin – fast möchte man sagen: der gute Stalin – hatte „dem trotzkistischen Expansionismus eine Absage erteilt“, Russland heute hingegen habe „deutliche imperialistische Ambitionen: Es will das alte Territorium der Sowjetunion wiederherstellen“. Das reicht Russland aber offenbar noch nicht, denn Hösle spekuliert munter darüber, was passierte, „sollte Russland einer jener sechs EU-Staaten angreifen, die nicht Nato-Mitglieder sind“, also etwa – Zypern (sic!).
Hösle lehrt zurzeit in den USA. Vielleicht hat das dort besonders krude Russlandbild auf ihn abgefärbt. Vielleicht war es aber auch andersherum, und der designierte Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs des US-Militärs, Joseph Dunford Jr., hat Hösle gelesen und daraus (am 9. Juli bei seiner Bestätigungsanhörung im US-Senat) seine Einschätzung abgeleitet, dass Moskau „die größte Bedrohung unserer Nationalen Sicherheit darstellt“.
In der allgemeinen, teils schrillen Kakophonie haben es bedachte, nüchterne Stimmen nicht leicht, sich Gehör zu verschaffen. Doch es gibt sie nach wie vor.
Der frühere französische Verteidigungs- und spätere Innenminister Jean-Pierre Chevènement konstatierte kürzlich in Le Monde diplomatique: „Putins Vision für Russland ist nicht imperial, sondern national: Modernisierung und Wahrung der Sicherheitsinteressen, wie sie jeder Staat hat.“
August Hannig, von 1998 bis 2005 Präsident des BND, schrieb in einem Namensbeitrag für Die Welt: „Im Hinblick auf die gegenwärtige verfahrene Lage dro­hen wir, die strategische Dimension der Beziehung (zu Moskau – Ergänzung W.S.) aus den Augen zu verlieren. Russland ist sowohl aufgrund seiner Geschichte als auch seiner kulturellen Prägung ein eu­ropäisches Land und lebt mit uns gemeinsam in einem ‚europäischen Haus‘.“
Und der ehemalige BMVg-Staatssekretär und vormalige Chef des Stockholmer Internationalen Friedensforschungsinstitutes (SIPRI), Walther Stützle, erinnerte in der Senderreihe „Streitkräfte und Strategien“ auf NDR Info daran, „dass es keine stabile Sicherheitsordnung in Europa geben kann, ohne die Einbeziehung Russlands“. Seiner Auffassung soll hier uneingeschränkt zugestimmt werden, dass es „höchste Zeit [wird], zu einer Diskussion zu kommen über ein neues, gesamteuropäisches Sicherheitssystem, in dem die Europäische Union die Vereinigten Staaten von Amerika und Russland gemeinsam die Chance realisieren, die sie 1990 hatten und zwischenzeitlich verspielt haben. Nämlich Krieg von der nördlichen Halbkugel dauerhaft zu verbannen.“

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In der Mai-Ausgabe der Zeitschrift WeltTrends hat Werner Ruf, emeritierter Professor für Internationale Politik, sehr zu Recht darauf verwiesen, dass im Westen noch so oft behauptet werden könne, das Offenhalten eines NATO-Beitritts der Ukraine sei nicht gegen Russland gerichtet – in Moskau müsse dies als Bedrohung gewertet werden. Nicht zuletzt weil Georgien und Moldau die nächsten Kandidaten sein könnten.
Henry Kissinger und Zbigniew Brzezinski haben vor diesem Hintergrund bereits vor einiger Zeit die Idee entwickelt, den Ukraine-Konflikt durch eine Neutralisierung des Landes und damit westlicherseits durch den Verzicht, Kiew in die NATO zu inkorporieren, zu lösen. Brzezinski dazu dieser Tage gegenüber der Welt: Seiner Ansicht nach würde „die beste Kompromissformel darauf hinauslaufen, dass die Ukraine sich am Status Finnlands orientiert“.
Einen ähnlichen Ansatz, der vonseiten Österreichs in die Diskussion gebracht worden war, hatte der russischen Außenminister Sergej Lawrow bereits im April als konstruktiv bewertet.

Ruf formuliert nun folgende drei denkbare Kernpunkte:

  • Die Ukraine erklärt, nach dem Vorbild Österreichs und der Schweiz, ihre immerwährende Neutralität. Sie verpflichtet sich, keinem militärischen Bündnis beizutreten und keine Stationierung fremder Truppen auf ihrem Territorium zuzulassen. Das impliziert eine Sonderregelung für die Krim.
  • Russland, die USA und die EU garantieren als Signatarmächte eines solchen Abkommens die Neutralität der Ukraine.
  • Die Ukraine verpflichtet sich zur Wahrung der Menschen- und Minderheitenrechte insbesondere für die russischsprachige Bevölkerung im Osten des Landes. Auch hier böte der österreichische Staatsvertrag modellhafte Lösungen.

Solche Überlegungen werden aber von der westlichen Diplomatie bisher konsequent ignoriert und von den Medien überwiegend totgeschwiegen, was Ruf zu der Schlussfolgerung brachte: „Damit stellt sich die Frage, ob vonseiten des Westens überhaupt ein Interesse an einer auf Ausgleich basierenden Lösung besteht.“

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Zumindest für die USA gibt es deutliche Indizien, die in dieser Hinsicht zu immer neuen Zweifeln Anlass geben.
Da findet es etwa Joseph Dunford Jr. sinnvoll, zweckmäßig, vernünftig (reasonable), tödliche Waffen an die Ukraine zu liefern, und das ist natürlich kein Grund, ihn nicht zum Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs zu ernennen. Im Gegenteil. Dunford muss vom US-Senat bestätigt werden, und der Chairman von dessen Streitkräfteausschuss, der republikanische Senator John McCain, fordert seit langem solche Waffenlieferungen.
Allein im Juni fanden zwanzig militärische Manöver mit US-Beteiligung in und um Europa statt – und zwar parallel. Die meisten davon in der Nähe russischer Grenzen. Auch US-Atomwaffenträger vom Typ B-52 waren direkt beteiligt.
Die Zahl der Manöver nannte US-Verteidigungsminister Ashton Carter während seines ersten Deutschland-Besuches, bei dem er zugleich verkündete, dass die USA Panzer und anderes schweres Kriegsgerät für eine US-Brigade im Baltikum, in Polen, Rumänien, Bulgarien und möglicherweise auch Ungarn stationieren werden. In den Medien war dabei von bis zu 5.000 US-Soldaten die Rede; Die Welt nannte die Zahl 7.000. „Der Großteil der Brigade wird zunächst im oberpfälzischen Grafenwöhr stationiert“, wusste Der Spiegel. Was da wie Zukunft klang, war aber offenbar nur schlechte Übersetzung des Magazins, denn laut FAZ hatte Carter tatsächlich gesagt, „die betreffenden Panzer und Waffen seien gegenwärtig (Hervorhebung – W.S.) in amerikanischen Standorten in Deutschland stationiert“.
Darüber hinaus haben die USA vor einigen Wochen Überlegungen über mögliche neue US-Kernwaffen in NATO-Staaten in die Öffentlichkeit lanciert; so sprach Frank Rose, im State Department zuständig für Rüstungskontrolle, von der „Stationierung landgestützter Marschflugkörper in Europa“.
Zur Erinnerung: Solche Cruise Missiles gehören zu jenen nuklearen Mittelstreckenwaffen (INF) kürzerer und längerer Reichweite (500 bis 5500 Kilometer), die mit dem sowjetisch-amerikanischen INF-Vertrag von 1987 verboten und hernach von beiden Seiten abgerüstet worden waren.
Bereits seit einigen Jahren werfen die USA Russland zwar vor, mit Waffentests gegen diesen Vertrag verstoßen zu haben; Beweise dafür wurden bisher jedoch nicht vorgelegt. Durchsickern ließ man jedoch, dass es sich um einen russischen Marschflugkörper mit der Bezeichnung R-500 und eine ballistische Rakete mit der Bezeichnung RS-26 handeln soll. Ersterer mit einer Reichweite um die 500 Kilometer, letztere soll große Teile des europäischen NATO-Gebietes abdecken können. Beim letzten Ministertreffen der Nuklearen Planungsgruppe der NATO, in der die USA regelmäßig mit allen anderen Paktstaaten (außer Frankreich) konferieren, kam man allerdings zu dem Schluss, dass keine Vertragsverletzung seitens Moskaus vorliege.
Interessant in diesem Zusammenhang ist eine Spiegel-Meldung aus den letzten Tagen: „Die Bundesregierung hat nach Angaben des Auswärtigen Amtes sowohl die US- wie die russische Regierung ‚wiederholt‘ aufgefordert, Gespräche über die Einhaltung des INF-Vertrages […] fortzusetzen. Damit erteilt die Große Koalition amerikanischen Erwägungen, atomare Mittelstreckenwaffen (INF) in Europa zu stationieren, indirekt eine Absage. […] Inzwischen versuchen die USA allerdings die deutschen Verbündeten zu beruhigen. Schon aus Kostengründen werde man eher auf andere Sanktionen zurückgreifen als auf eine Stationierung von Marschflugkörpern.“
Mag sein, dass die deutschen Verbündeten sich dadurch beruhigen lassen, obwohl sich dies spätestens angesichts der US-Lügen zur Rechtfertigung des Irak-Krieges sowie im aktuellen NSA-Skandal als grob fahrlässig erweisen könnte. Denn offenbar befasst man sich im Pentagon derzeit ja mal wieder mit Überlegungen, den Atomkrieg doch noch führbar zu machen – konkret mit „Counterforce“-Szenarios, also mit Überlegungen, den Einsatz sowjetischer Nuklearsysteme durch Überraschungsangriffe auf ihre Stationierungsorte zu verhindern. Das machte der AP-Korrespondent Robert Burns nach einer Anhörung, die vor dem Unterausschuss für Strategische Streitkräfte des US-Senats am 15. April 2015 stattgefunden hat, öffentlich. In der Anhörung hatte Robert Scher, Mitarbeiter im Pentagon und dort für Atomwaffen zuständig, sich über drei militärische Optionen für den Fall eines Scheiterns des INF-Vertrages geäußert. Das Video von dieser Anhörung weist zwar an der entscheidenden Stelle einen kurzen (manipulierten?) cut auf, die Aussage Schers ist gleichwohl eindeutig: „Da wäre zum einen die aktive Verteidigung der Orte in Europa, die Raketen bei einem Verstoß gegen den INF-Vertrag erreichen könnten. Zum anderen überlegen wir, wie wir es schaffen könnten, die Raketen in ihren Basen in Russland (Hervorhebung – W.S.) [cut]. Und drittens gehen wir von der Überlegung aus, dass es nicht nur darum geht, diese Kapazitäten anzugreifen (Hervorhebung – W.S.), sondern dass wir auch prüfen sollten, was wir innerhalb von Russland selbst in einen Bedrohungszustand versetzen könnten.“
Zurück zur möglicherweise fahrlässigen Beruhigung der Deutschen. In der Logik von „Counterforce“-Überlegungen wäre die Vornestationierung amerikanischer Nuklearwaffen oder auch konventioneller Hochpräzisionssysteme in Europa natürlich militärisch sinnvoll: Je dichter dran an ihren russischen Zielen, desto größer im Falle des Falle die Chance zur Überraschung.
Auch dieses Problem behält man wohl besser im Auge.

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Zweifel am Interesse an einer auf Ausgleich mit Russland basierenden Lösung des Ukraine-Konfliktes bleiben nicht zuletzt angebracht im Hinblick auf die aktuelle Führung in Kiew. Ende Mai äußerte sich der Koordinator des Nationalen Sicherheitsrates des Landes, Alexander Turtschinow, darüber, dass Kiew sich mit den USA über die Stationierung von Elementen der globalen Raketenabwehr auf ukrainischem Staatsgebiet konsultieren wolle.

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Dass „der Russe“ angesichts all dessen es sich nicht verkneift, ebenfalls immer wieder mit seinem Säbel zu rasseln, weil die USA sonst womöglich annähmen, er habe die Hosen voll, müssten die Amerikaner eigentlich am besten verstehen.
40 neue atomare Interkontinentalraketen sollen die russischen Streitkräfte noch in diesem Jahr erhalten, hat Putin verkündet. Und eine Welle selbstgerechter Empörung rauschte aus NATO-Politikermündern und durch die Medien übers Publikum: Da seht ihr’s mal wieder – diese Russen!
Im Publikum und wahrscheinlich auch unter den Empörten weiß zum Glück fast niemand, dass diese 40 Trägersysteme Teil der turnusmäßigen, bereits 2012 von Putin auch quantifizierten Modernisierung der strategischen Waffen Russlands (400 neue Interkontinentalraketen bis 2020) sind – übrigens völlig im Rahmen des New-Start-Vertrages. Und die 350 Milliarden Dollar, die Washington in den kommenden zehn Jahren für die Modernisierung seiner Kernwaffen ausgeben will, könnte Putin wahrscheinlich selbst dann nicht locker machen, wenn er das wollte.
Die westliche Scheinheiligkeit ging in diesem Falle selbst Christian Neef zu weit. Der Spiegel-Korrespondent in Moskau und seit langem scharfer Kritiker des russischen Präsidenten und der gesellschaftlichen Entwicklung im Lande leitartikelte: „Die 40 Langstreckenraketen ge­hören zu einem keineswegs neu­en Waffenbeschaffungsprogramm, das die russischen Streitkräfte nach vielen vergeblichen Anläu­fen bis zum Jahr 2020 auf die Höhe der Zeit bringen soll. Die Armee verfügt weder über moderne Feuerwaffen noch über moderne Artilleriegeschosse. Auch Panzer und Flugzeugtrieb­werke sind veraltet. Der gerade in Le Bourget angepriesene Super-Jäger Su-35S kann nicht in Serie gehen. Und auch bei den Raketen längerer Reichweite liegt Russland hinter dem westlichen Standard zurück.“
Allerdings: Putins Säbelrasseln offenbart leider ein ums andere Mal zugleich, dass auch er – wie zu viele seiner Antipoden in den NATO-Staaten – derzeit kein aktiver Partner für eine Deeskalation der Krise zwischen Russland und dem Westen sein will.