Nadja Rakowitz über Lampedusa in Hamburg und ver.di
»Keiner schaut gnädig herab
auf unseren Zug, aber auf uns herabschauen tun sie schon. Wir flohen, von keinem
Gericht des Volkes verurteilt, von allen
verurteilt dort und hier.«
(Elfriede Jelinek: »Die Schutzbefohlenen«)
Anfang Oktober sind vor der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa über 360 Flüchtlinge an einem einzigen Tag ertrunken. Für ein paar Tage hielt die öffentliche Empörung und Trauer über dieses »Unglück« an – bei manchen echt, bei vielen geheuchelt. Denn gerade deutsche PolitikerInnen tragen – vermittelt über das Dublin II-Abkommen, aber auch über die Wirtschaftspolitik – mit Schuld an diesen Toten. Und an den geschätzten 25 000 weiteren, die in den letzten 20 Jahren im Mittelmeer ertrunken sind, weil sie es nicht an die ›rettenden‹ Ufer von Lampedusa in Italien, Lesbos in Griechenland oder eine der Kanarischen Inseln in Spanien geschafft haben. Doch selbst wenn ihnen das gelingt: Flüchtlinge, die sich an Land retten, machen sich strafbar.1 Fischer, die einem untergehenden Boot zu Hilfe eilen, machen sich der Beihilfe zur illegalen Einwanderung schuldig. Es gibt auf dem Meer hervorragend ausgerüstete Schiffe der Grenzagentur Frontex, die in ihrem offiziellen Auftrag, »die Außengrenzen zu sichern«, viele der Nussschalen abdrängen und zur Umkehr nach Nordafrika zwingen. Im Mittelmeer und besonders in Lampedusa zeigt sich die menschenverachtende Politik der EU, die ein migrationspolitischer Aktivist so zusammenfasste: Die Flüchtlinge, die in Lampedusa landen, werden so lange in ihre Heimatländer zurückgeschoben, bis sie bei einem weiteren – dem letzten – Fluchtversuch ertrinken.
Und die EU bekam im letzten Jahr den Friedensnobelpreis für ihre Friedens-Politik… Angesichts der aktuellen Ereignisse hat, so die taz vom 7. Oktober 2013, der französische Außenminister Laurent Fabius immerhin angekündigt, dass Paris die Flüchtlingsfrage »sehr wahrscheinlich« auf die Agenda des EU-Gipfels Ende Oktober setzen werde. Doch vorgesehen seien nur eine Aussprache, keine Beschlüsse. Vor allem Berlin stehe auf der Bremse und verlange »ein schärferes Vorgehen gegen Schlepper«.2 Die EU zieht derweil ihre ganz eigene Lehre aus dem Drama von Lampedusa – und kauft mit Eurosur für geschätzte 244 Millionen Euro3 ein System zur Überwachung »problematischer Menschenströme«. Drohnen und Satelliten sollen Flüchtlinge schneller orten.4 Doch wozu dient diese noch schnellere Ortung? Im Lichte der bisherigen Frontex-Praxis, aufgefundene Flüchtlinge zurückzuschieben und Hilfe für in Seenot Geratene zu unterbinden, lässt sich bezweifeln, dass es sich bei dem konstatierten Mangel an Rettungseinsätzen um ein Problem fehlender technischer oder personeller Kapazitäten handelte. Das hat inzwischen sogar der SPIEGEL kritisiert, der doch seit Jahrzehnten mit »Das Boot ist voll«-Titelblättern seine ganz eigene Hetze gegen Flüchtlinge und »Asylanten« betreibt…
»Lampedusa in Hamburg«
Eine ganz andere Debatte über Lampedusa wird seit einigen Wochen bei ver.di in Hamburg geführt: Seit dem Frühjahr 2013 leben auf den Straßen Hamburgs oder als Notbehelf in Kulturzentren, der St. Pauli-Kirche und einer Moschee mehr als 300 Kriegsflüchtlinge aus Libyen. Sie hatten zusammen mit mehr als 50000 anderen in dem Land, das vor der NATO-Intervention 2011 für afrikanische Verhältnisse gut entwickelt war, gearbeitet und stammen zum Großteil aus deutlich ärmeren Staaten des Kontinents. Aufgrund der NATO-Bombardements und der Massaker, die dort an Schwarzafrikanern verübt wurden, mussten sie Libyen verlassen und flohen über das Mittelmeer nach Lampedusa. Dabei ertranken mehr als 2 500 Flüchtlinge, insgesamt erreichten rund 55 000 Italien. Die dortigen Behörden gaben ihnen humanitäre Aufenthaltstitel und forderten sie nach dem Auslaufen eines EU-Fonds im Jahr 2012 auf, die Flüchtlingsunterkünfte in Richtung Norden zu verlassen.5 Ca. 300 von ihnen schafften es nach Hamburg, ca. 200 sind in Berlin über die Stadt verteilt – einige von ihnen leben in einem Protestcamp auf dem Oranienplatz in Kreuzberg.
Die Flüchtlinge in Hamburg wollten nicht Asyl beantragen, sondern den Status von Kriegsflüchtlingen bekommen. Nach Angaben ihrer Anwältin bietet Paragraph 23 des Aufenthaltsgesetzes die Möglichkeit der sofortigen Anerkennung als Kriegsflüchtlinge aus humanitären und völkerrechtlichen Gründen.6 Der Hamburger Senat lehnte drei exemplarische Anträge auf Anerkennung als Kriegsflüchtling im Oktober explizit ab und verweigert jede Kommunikation mit der Gruppe »Lampedusa in Hamburg«. Er sieht keine andere Möglichkeit als eine Abschiebung nach Italien oder Asyleinzelverfahren.7
In der schon im Sommer verfahrenen Situation trat im Juli ver.di in Hamburg auf den Plan: Auf einen Schlag nahm der Fachbereich »Besondere Dienstleistungen« die Flüchtlinge in die Gewerkschaft auf. In einer Pressemeldung vom 10. Juli 2013 erklärte der ver.di-Fachbereichsleiter für »Besondere Dienstleistungen«, Peter Bremme: »Wir heißen die Flüchtlinge willkommen und wollen die Beschäftigten in Hamburg mit den neuen Mitgliedern aus Libyen in einen Dialog bringen, um die Forderungen der Flüchtlinge auf eine breitere Basis zu stellen. Wir unterstützen ausdrücklich die Forderungen der Geflüchteten aus Libyen auf Wohnung, freien Zugang zum Arbeitsmarkt, freien Zugang zu Bildung, freien Zugang zu medizinischer und sozialer Versorgung und freier Wahl des Aufenthaltsortes bzw. Wohnortes innerhalb der EU.« Die als Gruppe »Lampedusa in Hamburg« bekannt gewordenen Flüchtlinge hätten in Libyen gearbeitet als Ingenieure, Journalisten, Automechaniker, Bauarbeiter oder Friseure und nie die Absicht gehabt, nach Deutschland zu kommen. Der Krieg gegen Libyen habe ihnen dann keine andere Wahl gelassen. »Hamburg hat die Chance zu zeigen«, so Bremme weiter, »dass eine hanseatische ›Willkommenskultur‹« die Menschen nicht nach Nützlichkeitsaspekten sortiert. Die Politik kann den Weg frei machen durch Aktivierung des § 23 Aufenthaltsgesetz. Das ermöglicht den Flüchtlingen legalen Aufenthalt in Hamburg.«8
Weiter wird in der Pressemeldung die Grundsatzerklärung von ver.di 2010 zitiert: »Alle Menschen sollen frei von Armut und Not, von Ausbeutung und Unterdrückung leben. Sie haben das Recht auf körperliche und seelische Unversehrtheit, auf menschenwürdige Arbeits- und Lebensbedingungen, auf Anerkennung und Respekt (…) Wir laden dazu ein, sich mit uns gemeinsam für diese Werte und Leitbilder einzusetzen und die Zukunft zu gestalten.«9 Aber nicht nur diese Erklärung scheint das fortschrittliche gewerkschaftliche Engagement von ver.di Hamburg zu stützen, sondern auch der ver.di-Vorsitzende, Frank Bsirske, der noch im Jahr 2011 den Kampagnenaufruf »gemeinsam« des Flüchtlingsrats Baden-Württemberg mit einigen zentralen Forderungen zur Flüchtlingspolitik, wie z.B. nach einer »großzügigen Aufnahme von Flüchtlingen« und einer »fairen Bleiberechtsregelung« unterschrieben hatte, »weil das eine Frage der Menschlichkeit ist.«10
Man sollte meinen, dass solche Bekenntnisse nichts anderes bedeuten können, als Peter Bremme und seinen KollegInnen im Fachbereich 13 in Hamburg den Rücken zu stärken und falls nötig in Kauf zu nehmen, dass bestimmte Formalia z.B. beim Gewerkschaftseintritt, die der komplizierten Realität der ArbeitsmigrantInnen möglicherweise nicht gerecht werden, dann eben großzügig ausgelegt werden müssen. Schon mit der ebenfalls vom Fachbereich 13 initiierten gewerkschaftlichen Anlaufstelle MigrAr zeigte ver.di in Hamburg, dass sie im Sinne der Sache bereit sind, Satzung und andere Regularien so auszulegen, dass sie auch den prekärsten Beschäftigten, den Scheinselbständigen und durch alle Ritzen deutschen Arbeits- und Sozialrechts gefallenen Arbeitenden gewerkschaftlichen Schutz anbieten wollen. Das Beispiel machte in ganz Deutschland Schule. Inzwischen gibt es solche Anlaufstellen z.B. auch in Frankfurt a.M., Berlin, München und Köln; an anderen Orten befinden sich welche im Aufbau.
Nach dieser Vorgeschichte war die Aufnahme von über 300 Flüchtlingen durch den FB 13 in Hamburg also für uns ehrenamtliche MitarbeiterInnen in MigrAr und auch viele andere ver.di-Mitglieder eine konsequente Weiterentwicklung der fortschrittlichen, den heutigen prekären Arbeits- und Lebensbedingungen angemessenen Gewerkschaftspolitik. Viele brachten das mit Gratulationsmails an den Vorsitzenden von ver.di Hamburg, Wolfgang Abel, und an Frank Bsirske auch zum Ausdruck. Schon Ende 2009 hielt der damalige ver.di-Landesbezirksvorsitzende, Wolfgang Rose, auf einer Demonstration für das »Recht auf Stadt« eine solidarische Rede zu Flüchtlingen ohne gesicherten Aufenthalt, die zu zitieren sich lohnt:
»Ich will heute über eine Gruppe von Menschen in Hamburg reden, die diese soziale Spaltung in besonders brutaler Härte erleben. Ich spreche von den so genannten Illegalen, von den Papierlosen, von den Flüchtlingen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus. Das sind Menschen, die hoffen, der Not in ihren Heimatländern entkommen zu sein und in der reichsten Stadt Deutschlands eine Existenz, eine Lebensperspektive und vielleicht auch ihr ganz persönliches Glück zu finden. Sie leben mitten unter uns, aber nur wenige kümmern sich um sie. (…) Je brutaler die globalisierte Wirtschaft mit den Menschen umspringt, sie zu reinen Kostenfaktoren und zu einer Art Wegwerfware macht, desto dringender müssen wir gegen diese fortschreitende Ökonomisierung des Lebens angehen. Die solidarische Unterstützung der Menschen ohne Papiere ist für uns als Gewerkschaft die notwendige und praktische Antwort auf die Verschärfung des globalen Wettbewerbs. Und ich erwarte, dass auch der Hamburger Senat sich nicht hinter irgendwelchen Bundesgesetzen verschanzt, wenn es darum geht, dieses Elend zu beenden und Menschen, die in Not zu uns kamen, dauerhaft zu Hamburgerinnen und Hamburgern zu machen.« (Wolfgang Rose am 18. Dezember 2009)
Solche Worte wären heute, wo die SPD-Alleinregierung in Hamburg mittels racial profiling Jagd auf Lampedusa-Flüchtlinge macht, dringender denn je. Heute aber rechtfertigen die gewählten Repräsentanten in Partei und Gewerkschaften diese Politik oder ziehen es vor zu schweigen. Eine offizielle ver.di-Kritik der rassistischen Kontrollen gegen die eigenen Mitglieder täte der Debatte aktuell sicher gut.
»Betriebshygiene«11
»Wir versuchen, fremde Gesetze zu lesen … Ihr sagt uns einmal dies, und dann sagt
ihr uns das, und nichts können wir
gerecht werden, doch gerecht seid ihr
ja auch nicht«.
(Elfriede Jelinek: »Die Schutzbefohlenen«)
Heute weht ein anderer Wind in Hamburg: Sofort nach der Aufnahme der Flüchtlinge kritisierte Wolfgang Abel (und mit ihm die Mehrheit der ver.di-Landesleitung12) Bremme für sein vermeintlich eigenmächtiges Handeln und drohte mit arbeitsrechtlichen Konsequenzen. Gleichzeitig setzte er ver.di-Juristen ans Werk, in den Krümeln zu suchen, um die Sanktionen begründen zu können. Das Ressort Organisationspolitik erstellte ein Gutachten mit folgender Fragestellung: »Unabhängig von der Notwendigkeit der politischen Unterstützung der Personen und den entsprechenden Beschlüssen des Bundeskongresses, die zum Beispiel eine politische Einflussnahme für Personen ohne Papiere oder eine Verbesserung der Lebensbedingungen für Asylsuchende einfordern (A203/A201/A205), stellt sich jedoch insbesondere die satzungs- und organisationspolitische Frage, ob diese Personen auch Mitglied in ver.di werden können.« Das Gutachten kommt zu dem Ergebnis: »Nach der derzeitigen Satzung ist eine Aufnahme der libyschen Flüchtlinge aufgrund der fehlenden Mitgliedschaftsvoraussetzungen – soweit erkennbar – nicht möglich.«13
Nun könnte man mit diesem – durchaus umstrittenen – Ergebnis so oder so umgehen: Als es bei den Erwerbslosen darum ging, ob sie Mitglieder der Gewerkschaft werden können, gab es heftige Auseinandersetzungen darum, ob Erwerbslose der Gewerkschaft etwas ›bringen‹ oder eher ›unproduktive Kostenfaktoren‹ darstellen. Letztlich hatte sich hier die weitsichtigere Position durchgesetzt, die die Mitglieder nicht nur nach ihrem unmittelbaren finanziellen Beitrag taxierte: Eine Satzungsanpassung an die Realität war erfolgt – was allerdings nicht heißt, dass die Gruppe der Erwerbslosen seitdem überall in ver.di als gleichberechtigt anerkannt ist. Bezogen auf die Frage der Aufnahme der Flüchtlinge müsste dies bedeuten: Wenn man das politische Handeln des Fachbereichs 13 für richtig hielte und die Aufnahme der Flüchtlinge begrüßte (wie es eine Mehrheit in ver.di Hamburg gegen die Mehrheit in der Landesleitung wohl auch tut14), dann könnte man alle Energie daran setzen, die Satzung und andere Grundsatzdokumente so zu interpretieren, dass dieses Handeln gedeckt ist, bzw. dafür streiten, dass die Satzung und andere Regularien der Realität angepasst und entsprechend geändert werden.
Stattdessen blieb die Landesleitung stur bei ihrer Linie und beschloss im Oktober, eine Ermahnung für Bremmes »schwerwiegende Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten« auszusprechen. Ausschlaggebend sei seine Anordnung gewesen, für ca. 170 Aufnahmeanträge falsche Eintragungen in der elektronischen Mitgliederverwaltung (MIBS) von ver.di vorgenommen zu haben. Und dies, obwohl der ver.di-Landesbezirksvorstand Hamburg am 5. August 2013 folgendes beschlossen hatte:
1. »Der ver.di-Landesbezirksvorstand unterstützt die jetzt in Hamburg lebenden Flüchtlinge aus Libyen in ihren Forderungen nach Bleiberecht, menschenwürdigen Lebensbedingungen und Chance auf Arbeit zum Lebensunterhalt. Ausdrücklich werden die Forderungen der Geflüchteten aus Libyen nach freiem Zugang auf Wohnung und Arbeitsmarkt, zu Bildung und medizinischer und sozialer Versorgung sowie freier Wahl des Aufenthaltsortes bzw. Wohnortes innerhalb der EU unterstützt. Dafür treten wir im Rahmen der Möglichkeiten des § 23 Aufenthaltsgesetzes gegenüber dem Bürgermeister und dem Senat ein. ver.di-Hamburg vermittelt direkte Kontakte und Gespräche mit den Flüchtlingen und den Betriebsräten, den Vertrauensleuten, den Gremien und den Aktiven in ver.di-Hamburg. ver.di-Hamburg baut ein Bündnis mit anderen zivilgesellschaftlichen Kräften wie den christlichen Kirchen und anderen Glaubensgemeinschaften aus, mit dem Ziel, dass die Forderungen der Wanderarbeiter in Hamburg realisiert werden. ver.di-Hamburg macht ihre Forderungen in der Öffentlichkeit und der Politik, hier insbesondere dem Senat gegenüber deutlich. Wir rufen bei einer noch für den August geplanten Demonstration zur Teilnahme auf.
2. Möglichst zeitnah wird eine Informations- und Diskussionsveranstaltung zum Thema Asylrecht im Grundsatz durchgeführt werden, damit ein inhaltlicher Austausch im Kreis der tragenden Funktionsträger (Mitglieder LBV, Vorsitzende Fachbereichs- und Fachgruppenvorstände) erfolgen kann. (…)
3. Der Landesbezirksvorstand fordert die Landesbezirksleitung auf, in Zusammenhang mit ›Lampedusa‹ arbeitsrechtliche Maßnahmen jeglicher Art zu unterlassen.
4. Der Mitgliederstatus wird mittels eines Antrags an den kommenden Bundeskongress konkretisiert.«
Auch dass die LandesfachbereichsleiterInnen und SekretärInnen auf Bundesebene des Fachbereich 13 von ver.di in einem Schreiben an Abel und Bsirske ihr »völliges Unverständnis« darüber ausdrückten, »dass das Engagement unseres Kollegen Peter Bremme für die Lampedusa-Flüchtlinge in Hamburg arbeitsrechtlich sanktioniert werden soll«, änderte nichts. Ebenso wenig der Verweis darauf, dass sich »ver.di in der ›Flüchtlingsfrage‹ – dokumentiert durch Beschlüsse des letzten Gewerkschaftstage – eindeutig positioniert« hat, wie es in dem Schreiben weiter heißt. Darin wird auch deutlich, wie man in ver.di politisch klüger und weitsichtiger mit der Situation umgehen könnte: »Ob unsere Haltung pro Aufenthaltsrecht die Möglichkeit der Mitgliedschaft in ver.di einschließt, wird in unserer Organisation kontrovers diskutiert. Diese Kontroverse ist getragen von dem Ringen nach dem besten Weg, Solidarität zu bekunden und praktische humanitäre Hilfe zu leisten. Vereinfacht ausgedrückt: Hilft es den Flüchtlingen, Mitglied in ver.di zu sein? Der Fachbereich 13 in Hamburg meinte und die Mehrheit des Landesbezirks Hamburg meint mittlerweile: ja. Es handelt sich also primär um eine (gewerkschafts-)politische Debatte und allenfalls sekundär um eine satzungsrechtliche Fragestellung. Wenn wir mehrheitlich meinen, dass es politisch zielführend ist, die Kolleginnen und Kollegen in ver.di aufzunehmen, muss die Satzung der politischen Beschlusslage folgen. Der nächste Gewerkschaftskongress wird sicherlich die entsprechenden Klarstellungen vornehmen.«15
Um was geht es hier? Wie es scheint, nicht nur um die Person Bremme und auch nicht »nur« um die Flüchtlingspolitik, sondern auch um ver.di-interne Konflikte: In Hamburg reiht sich dieser Konflikt nämlich ein in andere politische Auseinandersetzungen innerhalb von ver.di, wie beispielsweise die Position zur Elbvertiefung (»Fahrrinnenanpassung«) oder zum vollständigen Rückkauf der Energienetze durch die Freie und Hansestadt Hamburg. In beiden Fällen hatte der Landesbezirksleiter Wolfgang Abel die Position des SPD-Senats unterstützt und dies damit begründet, dass ver.di »Arbeitnehmerinteressen« vertrete. Letzterem würde niemand widersprechen, die Frage ist aber, wie man diese unter den heutigen Bedingungen versteht und ob jemand die Mitglieder fragt, was ihr Interesse ist. In beiden Konflikten wurden – mit bisweilen populistischen Sprüchen – schlichtweg die unterstellten Interessen der »Kernbelegschaften« zu den maßgeblichen von ver.di erklärt. Prekär Beschäftigte, Menschen, die nicht in deutsche arbeits-, sozial- und aufenthaltsrechtliche Normen passen, oder gar Illegal(isiert)e passen nicht in diese enge Politikvorstellung, wenn sie nicht sogar gleich als Konkurrenz wahrgenommen werden. So hat eine Gewerkschaft ihr aufklärerisches Potenzial vorschnell und unnötig aufgegeben.
Dies scheint der eine Strang der Auseinandersetzung. Der andere scheint einer der Binnenhierarchie in ver.di zu sein. Es geht darum, wie viel Freiheit in der Matrix möglich ist und wo und wie das viel beschworene »bottom up«-Prinzip an seine innerorganisatorischen Grenzen stößt und top down in seine Schranken gewiesen wird. Wie es scheint, finden hier gerade Verschiebungen statt, die es aufmerksam zu verfolgen und unter Umständen auch zu bekämpfen gilt, damit sich in ver.di massenhaft auch vorhandenen fortschrittlichen Positionen durchsetzen oder erhalten können. Denn bei der Aufnahme der Flüchtlinge handelt es sich um mehr als einen Akt symbolischer Politik. Zum einen ist eine solche Gewerkschaftsmitgliedschaft für die Flüchtlinge eine Form der Anerkennung der Tatsache, dass sie Teil der Gesellschaft sind, der ihnen von den staatlichen Instanzen verweigert wird. Zum anderen will ver.di über die Situation aufklären. Und, so Bremme in einem taz-Interview: »Wir wollen mit Betriebsgruppen und Betriebsräten sprechen. Und wenn wir schon mal über den Tellerrand hinausgucken, können wir auch überlegen, welche Jobmöglichkeiten es gibt. Die Flüchtlinge waren in verschiedenen Berufen tätig – im Baugewerbe, im IT-Bereich oder als Friseure –, wir wollen mit Arbeitgebern in Kontakt treten. Unter der Voraussetzung, dass der Senat den einzigen politischen Weg, den Paragraphen 23 des Aufenthaltsgesetzes, anwendet, ist die Möglichkeit da. Hier in der Stadt werden immer Arbeitskräfte händeringend gesucht.«16
Mit der Aufnahme dieser Flüchtlinge könnte sich ver.di also auch öffentlich zur Migrationspolitik positionieren und zeigen, dass Gewerkschaften gut beraten sind, sich am »Abschottungsgeschäft« nicht zu beteiligen, weil die Migrationsgründe ohnehin stärker sind als alle noch so rigiden Abschottungsversuche. Ver.di könnte sich im Moment – statt mit vielen anderen mitzuheucheln – praktisch an die Spitze des gesellschaftlichen Fortschritts stellen, indem sie anders mit der Migrationsrealität umgeht als die Parteien und viele andere gesellschaftliche Gruppen… Eine solche Gewerkschaft würde ich mir wünschen.
Der Text von Elfriede Jelinek: »Die Schutzbefohlenen« steht zum Download auf ihrer Homepage bereit (http://www.elfriedejelinek.com/ ).
Er wurde am 21. September in der Hamburger St. Pauli-Kirche mit Schauspielern des Thalia-Theaters und zusammen mit den Lampedusa-Flüchtlingen als Theaterstück aufgeführt (siehe you tube).
Anmerkungen:
1 Vgl. »Überleben verboten«, Süddeutsche Zeitung, 7. Oktober 2013
2 Eric Bonse/Rudolf Balmer: »Viel Lärm und – nichts«, taz, 7. Oktober 2013
3 Vgl. »EU-Außengrenzen werden schärfer überwacht«, Frankfurter Rundschau, 10. Oktober 2013
4 Vgl. Gregor Peter Schmitz: »Überwachung per Eurosur. EU kauft Big-Brother-System für das Mittelmeer«, Spiegel online, 10. Oktober 2013
5 Vgl. Martin Dolzer: »Nach Europa gebombt«, junge welt, 19. August 2013
6 Martin Dolzer: »Nach Europa gebombt«, junge welt, 19. August 2013. – Die Anerkennung als Kriegsflüchtlinge nach § 23 ist nicht nur eine politische Frage, sondern bietet gegenüber dem diesbezüglich äußerst restriktiven Asylverfahren bessere Möglichkeiten des Arbeitsmarktzugangs.
7 »Ich wundere mich selbst, daß ich überlebt habe«. Gespräch mit Asuquo Udo«, junge welt, 5. Oktober 2013 – Seit Anfang Oktober verschärft der Senat seinen Kurs; in gezielten Razzien in St. Pauli und St. Georg werden die Flüchtlinge drangsaliert. Vgl. Martin Dolzer: »Rassistische Kontrollen«, junge welt, 14. Oktober 2013; »Olaf Scholz schaut nicht vorbei«, taz, 15. Oktober 2013
8 Vgl. »Libysche Flüchtlinge: Wir wollen Teil der Gesellschaft in Hamburg sein«, Pressemitteilungen ver.di Hamburg FB 13 vom 10. Juli 2013, dokumentiert in express, Nr. 07-08/2013
9 Ebd., zit. aus »Grundsatzerklärung der ver.di. Beschlossen vom Gewerkschaftsrat am 18. März 2010«, www.verdi.de/positionen/programmdebatte/grundsatzerklaerung
10 Vgl. www.fluechtlingsrat-bw.de/gemeinsam/aktionen.htm
11 »Eine Abmahnung ist ein Akt der Betriebshygiene« – Dieser Satz wurde am 5. September 2014 im Zusammenhang mit der Diskussion des Landesbezirksvorstands über arbeitsrechtliche Konsequenzen von dem Landesbezirksleitungsmitglied Angelika Detsch ausgesprochen. Sie ist u.a. zuständig für Personal in ver.di Hamburg.
12 Folke Havekost: »›Ich bin Gewerkschaftsmitglied‹. Beim Kampf um ein Aufenthaltsrecht erhalten Flüchtlinge Unterstützung von ver.di«, Neues Deutschland, 13. September 2013
13 Das Gutachten liegt der Redaktion vor.
14 Vgl. Folke Havekost: »›Ich bin Gewerkschaftsmitglied‹. Beim Kampf um ein Aufenthaltsrecht erhalten Flüchtlinge Unterstützung von ver.di«, Neues Deutschland, 13. September 2013
15 Das Schreiben liegt der Redaktion vor.
16 »Die Leute sollen hier leben«, Interview mit Peter Bremme, taz, 10. Juli 2013