Während der Untersuchungsausschuss zu NSU-Terror und Behördenverantwortung der Frage nachgeht, ob bei einer anderen politischen, polizeilichen, juristischen und behördlichen Auseinandersetzung mit militanten rechten Strukturen in den neunziger Jahren in Thüringen das Entstehen des NSU erschwert oder gar verhindert worden wäre, benennt die CDU im Thüringer Landtag ihren Fraktionssitzungssaal „Bernhard-Vogel“. In einem Interview mit der Thüringer Allgemeinen antwortete der ehemalige Ministerpräsident von Thüringen auf die Frage, was er denn zur Aufklärung des NSU-Terrors beitragen könne: „Ich bin natürlich bestürzt, was da geschehen ist, und dass es niemand rechtzeitig erkannt hat.“ Warum niemand von staatlicher Seite in Thüringen die Gefahren durch gewalttätige Neonazis erkennen konnte und wollte, dazu äußert sich Vogel nicht. Es war die CDU selbst, die den Fokus von Politik und Behörden nicht auf die extreme Rechte, sondern die demokratische Linke richtete. So sagte der ehemalige Vorsitzende der CDU Thüringen und Innenminister von Thüringen sowie Ex-Abgeordnete des Thüringer Landtages, Willibald Böck, im Rahmen einer Rede anlässlich einer Anfrage der PDS-Fraktion zum Thema Rechtsextremismus am 21. Juni 1996 in Richtung der Abgeordneten der PDS: „Sie sind eine Partei mit einer extremistischen, terroristischen Vergangenheit. Und Sie sind auch eine Partei mit einer extremistischen und terroristischen Gegenwart und Zukunft.“ Zwei Monate zuvor baumelte von einer Autobahnbrücke bei Jena eine menschengroße ausgestopfte Puppe mit Davidstern. Als die Polizei zum Tatort kam, bemerkte sie, dass die Puppe durch Kabel mit zwei Bombenattrappen verbunden war. Uwe Böhnhardt wurde als einer der Täter ermittelt und später verurteilt. Im Jahr zuvor hatten die Aktivitäten der Neonazis nicht nur in Jena, sondern in ganz Thüringen spürbar zugenommen. Bei einem Bombenanschlag im November 1995 auf die Flüchtlingsunterkunft in Jena wurde zum Glück niemand verletzt, in einem Kaufhaus in Jena fand die Polizei wenig später eine funktionsfähige Bombe mit TNT, in Milbitz und Kahla trainierten Thüringer Neonazis mit scharfen Waffen. Und die CDU schwadronierte von der terroristischen Gegenwart und Zukunft der PDS.
Und die Verantwortungsträger vor dem Thüringer Untersuchungsausschuss? Wie reflektieren sie diese Zeit, ihre Verantwortung, ihre Schuld? Entweder durch mangelhafte Erinnerung oder mangelnden Anstand – oder beides. Ein Beispiel unter vielen lieferte der ehemalige Staatssekretär im Inneren Michael Lippert bei seiner Vernehmung vor dem Untersuchungsausschuss. Von nachträglicher Skepsis, Zweifeln oder Kritik keine Spur. Er fasste zusammen: „Den 1990 bis 1994 – in meinem Berichtszeitraum – gestellten Herausforderungen auf dem Gebiet der inneren Sicherheit, des Extremismus, insbesondere des Rechtsextremismus, haben die Thüringer Sicherheitsbehörden entsprochen. Es ist dem Thüringer Innenministerium ungeachtet der allgemein üblichen und in allen fünf neuen Ländern vorkommenden anfänglichen Schwierigkeiten [...] gelungen, eine aufgabenorientierte Aufbau- und Ablauforganisation, eine wirksame Dienst- und Fachaufsicht sowie eine effiziente Koordination der Aufgaben innerhalb des Ministeriums zwischen den beteiligten Ministerien sowie den nachgeordneten Behörden herzustellen und zu gewährleisten.“ Das Gegenteil kann als Ergebnis des U-Ausschusses gelten: Beamte, die für ihre Laufbahn in den alten Bundesländern aus unterschiedlichen Gründen, aber auch wegen fehlender Qualifikation oder Verstrickungen und Skandalen, keine (Aufstiegs-)Chancen mehr sahen, kamen nach Thüringen. Viele kannten sich schon vorher aus dem Bundesinnenministerium, dem Bundesamt für Verfassungsschutz oder dem Landesamt. Sie brachten ihren in den siebziger und achtziger Jahren erworbenen Antikommunismus und ein gutes Maß Verachtung für Kollegen aus den neuen Ländern mit. Noch heute finden Ehemaligen-Treffen immer im Rhein-Main-Gebiet statt, wo ehemalige Mitarbeiter aus dem Innenministerium, aber auch neue zusammenkommen und sich „austauschen“. Eine Seilschaft, eine Kohorte? Was ist das Verbindende? Die Herkunft, das Parteibuch, gemeinsame Interessen?
Im Ergebnis werden solche Gestalten wie Helmut Roewer Präsident des Landesamtes, sein späterer Stellvertreter Peter Nocken wird Abteilungsleiter Beschaffung, obwohl die Staatsanwaltschaft Wiesbaden seinerzeit gegen ihn im Zusammenhang mit der erzwungenen Aussage von Siegfried Nonne im Herrhausen-Mord ermittelte. Die Rechts- und Fachaufsicht überantwortete man einem Herrn Schaper, der selbst Gegenstand des Magdeburger Untersuchungsausschusses zur Bespitzelung des damaligen Umweltministers war und sich nicht nur für Roewer und Nocken verwandt hatte, sondern auch einen Quereinsteiger aus der Politik zum Abteilungsleiter im Landesamt machte. Dieser wiederum hatte als Vorwissen einen Einführungslehrgang an der Verfassungsschutzschule durchlaufen. Die Rechts- und Fachaufsicht vertraute auf solche Personen im Amt und begnügte sich mit dem Korrekturlesen des jährlichen Verfassungsschutzberichtes. Und für den Fall der Fälle hatte der Präsident des Landesamtes immer eine offene Tür und ein offenes Ohr beim Innenminister. Revision, Kontrolle, Berichtswesen – alles Fehlanzeige. Auf parlamentarischer Seite hatten die Mitglieder der Parlamentarischen Kontrollkommission entweder nicht die richtigen Fragen oder die falschen Informationen oder Urvertrauen in den Geheimdienst. Jedenfalls kam von dort in den Jahren von Roewer, Brandt und wachsender Militanz der Neonazis kein Impuls, nur Floskeln, wie der nichts sagende Bericht, der regelmäßig im Parlament gehalten wurde.
Die Herren V-Mannführer und Referatsleiter im Landesamt – nicht nur verantwortlich für Spitzellohn an Funktionäre und Straftäter der rechten Szene, wie Brandt, Dienel oder Degner, sondern auch für technische Aufrüstung der Neonazis mit modernen Kommunikationsmitteln, Abschirmen der V-Leute vor Strafverfolgung und Irreführung der Öffentlichkeit – berichten von den neunziger Jahren als goldenes Jahrzehnt im Landesamt. Die Spitzel lieferten Top-Informationen. Quellenschutz galt noch etwas und an Regeln musste sich nicht gehalten werden, denn es gab keine. Führungspersonen, bei denen es untersagt gewesen wäre, bestimmte Personen als bezahlte Informanten aus der Neonaziszene zu gewinnen. Man hatte qua Definition einfach alle, außer dem NPD-Landesvorsitzenden, zum Mitläufer oder einfachen Mitglied erklärt.
Polizei und Justiz mühten sich mal mehr, mal weniger unter wechselhaften Vorzeichen aus den Behördenspitzen und den Ministerien um die Abarbeitung der Ermittlungs- und Strafverfahren. Die Einstellungspraxis bei rechtsextremen Straftaten wie auch die permanente On-Off-Politik bezogen auf Sonderkommissionen zu rechter Gewalt verhinderten ein systematisches Vorgehen. Und dies insbesondere bei Mehrfachtätern und Strukturen des Neonazismus, die darauf gerichtet waren, mit Gewalt politische Ziele durchzusetzen. So häufig der Ausschuss von Politik und Geheimdienst zu hören bekam: „Da kann ich mich nicht mehr erinnern“, „da bin ich jetzt der falsche Ansprechpartner“, „ich hatte wichtigeres zu tun“, so selten ein Wort des Bedauerns. Dagegen sprachen einige Zeugen aus dem Bereich der Kriminalpolizei Klartext und zeigten ein detailliertes Erinnerungsvermögen. Von ungenügender Unterstützung war die Rede, von Einflussnahmen des VS auf Polizeiarbeit, von Unverständnis darüber, dass die Staatsanwaltschaft Verfahren wegen. Bildung einer kriminellen Vereinigung gegen den THS (Thüringer Heimatschutz) einstellte und kein Engagement zeigte bei der Verfolgung von Straftaten im Zusammenhang mit dem Auffinden eines Waffenlagers im THS-Stammlokal im Herbst 1997 in Heilsberg bei Saalfeld. War es die Größe der Aktenberge oder die Geringschätzung der Straftaten der Neonazis?
Unklar blieben bisher die Ursachen für das seltsam Unstrukturierte und wenig Stringente der Justiz, auch weil der damals leitende Oberstaatsanwalt Peter-Arndt Koeppen wegen Krankheit schon zweimal nicht vernommen werden konnte. Die geladenen Staatsanwälte hatten wenig beizutragen, sie schleppten sich von Erinnerungslücke zu Erinnerungslücke. Aber auch bei der Polizei gab es Licht und Schatten. So gab es Beamte, die nicht gegen, sondern für die Neonazis arbeiteten. Das ging sogar so weit, dass Polizisten bei Nazikonzerten als Teilnehmer auffielen oder sich an rassistischen Übergriffen beteiligten. Der Umgang mit diesen Vorkommnissen war ambivalent. Einige Beamte wurden sofort, einige erst nach einiger Zeit und andere nie belangt. Und auch bei der Polizei gab es das Feindbild „links“, wie eindrücklich Sachverständige aus Zivilgesellschaft, Gewerkschaften, Wissenschaft und Antifa aus den neunziger Jahren zu Beginn der Ausschussarbeit berichteten. Nach deren Erinnerungen hämmerten sie nicht nur einmal an die Türen von Polizei und Politik, um auf die Gefahren von Rechts hinzuweisen. Die damalige Frustration ist noch heute zu spüren. Aber was mit Blick auf den aktuellen Umgang mit neonazistischen militanten Strukturen noch gravierender erscheint: Es gab von keinem der damals für diese Fehleinschätzung, für politisch falsche Lenkung, für behördliches Handeln, was geeignet war die Täter stark zu machen, ein Wort der Entschuldigung an diejenigen, die in den neunziger Jahren Opfer von Nazigewalt oder geheimdienstlicher Beobachtung eines durch die CDU politisch instrumentalisierten Verfassungsschutzes geworden waren. Oder wie es der ehemalige Innenminister Schuster sagte: „Die Erkenntnisse waren tagesaktuell. Von daher kann ich kein Fehlverhalten entdecken.“
Die Autorin ist Mitglied des Landtages des Freistaates Thüringen und vertritt die Fraktion DIE LINKE in dessen NSU-Untersuchungsausschuss.