Zur Wiederbegründung Europas

in (14.09.2012)

Wir scheinen vor einem Dilemma zu stehen: Sollen wir uns auf das riskante Abenteuer eines Ausstiegs aus dem Euro einlassen – oder eine utopische europäische Harmonisierung anstreben, die Arbeiterkämpfen eine »Stimme gibt«? Sozialisten sollten sich dieser Entscheidung verweigern, weil sie in die Irre führt. Mittel und Zweck müssen unterschieden werden: Ziel eines Programms der gesellschaftlichen Transformation ist es sicherzustellen, dass alle BürgerInnen gut leben können, und zwar in allen Lebensbereichen: Beschäftigung, Gesundheit, Rente, Wohnen usw. Dies kann durch eine Veränderung der Primärverteilung zwischen Profiten und Löhnen und durch eine Steuerreform erreicht werden. Will man jedoch die Kämpfe um diese Ziele voranbringen, bedeutet das auch, dass man die vorherrschenden gesellschaftlichen Interessen in Frage stellen muss, also Privilegien und Machtgefüge. Die entsprechenden Auseinandersetzungen finden in erster Linie innerhalb des nationalstaatlichen Rahmens statt. Der Widerstand der herrschenden Klassen und ihre möglichen Gegenangriffe gehen jedoch über den nationalstaatlichen Rahmen hinaus.

Die einzig mögliche Strategie besteht darin, sich darauf zu verlassen, dass progressive, linke Lösungen legitim erscheinen, weil sie auf Kooperation setzen. Neoliberale Rezepte richten sich allesamt auf Wettbewerbsfähigkeit, die sich in Lohn- und Steuersenkungen sowie Absenkungen der Sozialversicherungsbeiträge realisieren soll; Marktanteile sollen erhöht werden. Seit Beginn der Krise in Europa bleibt das Wachstumsniveau schwach. Die einzige Möglichkeit für Einzelstaaten, Arbeitsplätze zu schaffen, besteht darin, mit Nachbarstaaten zu konkurrieren. Schließlich findet der Großteil des Außenhandels europäischer Staaten innerhalb von Europa statt. Das trifft sogar auf Deutschland zu, den zweitgrößten Exporteur der Welt – auch hier kann nicht allein auf Schwellenländer gesetzt werden. Der neoliberale Weg aus der Krise ist ganz und gar unsozial: Man kann nur gewinnen, wenn man sich gegen andere durchsetzt. Dies ist letztlich der Grund für die sich vertiefende Krise der europäischen Integration.

Im Gegensatz dazu beruhen linke Lösungen auf Kooperation; sie funktionieren besser, wenn sie auf eine größere Zahl von Ländern ausgedehnt werden. Wenn alle europäischen Länder zum Beispiel die Arbeitszeit senken und den gleichen Steuersatz auf Kapitaleinkommen erheben würden, könnten die Gegenangriffe koordiniert abgewehrt werden, die durchschlagen würden, wenn solche Maßnahmen nur in einem Land eingeführt würden. Linksregierungen müssen also eine Strategie der Ausdehnung verfolgen:

1  |   »Gute« Maßnahmen werden unilateral durchgesetzt, zum Beispiel die Finanztransaktionssteuer;

2  |  begleitend werden Schutzmaßnahmen wie Kapitalverkehrskontrollen eingeführt;

3  |  das politische Risiko, das ein Bruch der EU-Richtlinien bedeutet, ist einzugehen;

4  |  die EU-Vorschriften müssen verändert werden, indem die fraglichen Maßnahmen auf die europäische Ebene ausgedehnt werden, andere EU-Staaten können sie aufgreifen – etwa die Ausdehnung der Finanztransaktionssteuer;

5  | einer Konfrontation mit der EU oder anderen europäischen Staaten sollte nicht aus dem Weg gegangen werden – mit dem Ausstieg aus dem Euro zu drohen, ist nicht ausgeschlossen, nur weil er vermeintlich undurchführbar ist.

Dieser strategische Entwurf berücksichtigt, dass »gute« politische Maßnahmen nicht warten können, bis ein »gutes Europa« geschaffen wurde. Gegenangriffen muss mit Abwehrmaßnahmen begegnet werden, die – wenn nötig – auch auf die Mittel des Protektionismus zurückgreifen. Aber nicht auf den althergebrachten Protektionismus: Die Strategie dient der Verteidigung einer gesellschaftlichen Transformation, die von der Bevölkerung ausgeht und nicht von Kapitalinteressen. Es handelt sich um einen »Ausdehnungsprotektionismus«, der zurücktritt, wenn die »guten« Maßnahmen auf ganz Europa ausgedehnt worden sind.

Dass mit den EU-Richtlinien gebrochen werden soll, geht auf keine anderen Prinzipien zurück als Gerechtigkeit und die Interessen der Mehrheit der Menschen. Dadurch erhalten die Maßnahmen ihre Legitimität, die auch von den Nachbarstaaten unterstützt werden. Dieser strategische Vorstoß kann auf Mobilisierungen in anderen Ländern aufbauen und ein Kräfteverhältnis schaffen, das eine Veränderung der Institutionen der EU möglich macht. Die neoliberalen Rettungspläne, durchgesetzt von EZB und Europäischer Kommission, zeigen, dass es sehr wohl möglich ist, eine Reihe von Vorgaben der EU-Verträge zu umgehen.

Aus dem europäischen Neoliberalismus aussteigen, nicht aus dem Euro!

Der Ausstieg aus dem Euro ist keine Vorbedingung dieser Strategie des Bruchs. Er ist eher als Waffe zu sehen, die nur als »letztes Mittel« zum Einsatz kommt. Der unmittelbare Bruch sollte mit Hilfe von zwei Eingriffen vollzogen werden: Verstaatlichung der Banken und Umschuldungsmaßnahmen. Dadurch würde sich ein wirklicher Handlungsspielraum eröffnen.

Unterstützung kann sich daran entwickeln, dass Kapitalinteressen so beschädigt werden: Ein Transformationsland kann umschulden, sich ausländisches Kapital aneignen und weitere Schritte ergreifen – oder damit drohen. Angesichts der Verflechtung der Wirtschaftsräume ist es selbst für kleine Länder wie Griechenland oder Portugal möglich, einen solchen Weg einzuschlagen. Viele könnten verlieren; die Konfrontation würde nicht auf völlig ungleichen Ausgangspositionen beruhen. Ihr stärkster Rückhalt würde sich daraus ergeben, dass die Maßnahmen gemeinsam ergriffen würden: »Wenn ein Land in Europa die Austeritätspläne zurückweisen und sich weigern würde, Schulden zu bedienen, würde dies einen enormen Dominoeffekt mit mobilisierender Wirkung in ganz Europa hervorrufen.« (Onaran 2011, Übers. A.G.)

Der Strategie des Bruchs liegt eine Erzählung zu Grunde, die auf gemeinsamen, grenzüberschreitenden Interessen beruht: Wir wollen Kapital besteuern und ergreifen die dafür notwendigen Schutzmaßnahmen. Wir schlagen vor, diese Maßnahme auf ganz Europa auszudehnen. Der Bruch mit dem real existierenden Europa wird im Namen eines anderen Europas eingeleitet. Wir müssen den Zusammenhang vom Bruch mit dem neoliberalen Europa und einem Projekt zur Wiederbegründung Europas in den Vordergrund stellen – und vermeiden, Bruch und Wiederbegründung als gegensätzliche Handlungsoptionen zu sehen.

Jede linke Alternative für Europa muss zum Ziel haben, die gesellschaftlichen Bedürfnisse so gut wie möglich zu befriedigen. Am Anfang steht daher eine Umverteilung des Reichtums. Aus kapitalistischer Perspektive besteht der Weg aus der Krise darin, durch zusätzlichen Druck auf Löhne und Beschäftigung Profitabilität wiederherzustellen. Die wirkliche Ursache der Krise bleibt unberücksichtigt – der Rückgang der Lohnquote hat die Finanzblase weiter aufgetrieben. Und neoliberale Konterreformen haben schon vor Ausbruch der Krise die Haushaltsdefizite vergrößert.

Die politische Gleichung für die Linke ist einfach: Wir werden nicht gut aus der Krise kommen, wenn es keine radikale Veränderung der Einkommensverteilung gibt. Dieses Problem stellt sich noch, bevor wir uns mit Wirtschaftswachstum befassen. Ein größeres Wachstum könnte sicherlich zu höherer Beschäftigung und höheren Löhnen führen. Doch eine solche wachstumsfixierte Strategie muss auch mit Blick auf die Umwelt beurteilt werden. Und wenn die Einkommensverteilung immer ungleicher wird, können wir uns nicht auf Wachstum verlassen.

Wir müssen soziale Ungleichheiten von beiden Seiten in die Mangel nehmen: durch höhere Löhne und durch Steuerreformen. Die Ausdehnung der Lohnquote sollte auf Grundlage der Regel der »drei Drittel« erfolgen: ein Drittel für den Direktlohn, ein Drittel für den Soziallohn (oder für Sozialleistungen) und ein Drittel, das zur Schaffung von Arbeitsplätzen durch Arbeitszeitverkürzung genutzt wird. Diese Lohnerhöhungen würden auf Kosten der Dividenden durchgeführt, die weder wirtschaftliche Rechtfertigung noch gesellschaftlichen Nutzen haben. Das Haushaltsdefizit sollte nach und nach gesenkt werden, aber nicht durch Ausgabenkürzungen, sondern indem alle Formen von Einkommen dem Fiskus unterworfen werden, die in der Vergangenheit schrittweise von Besteuerung befreit worden sind (dadurch würden sie wieder in die öffentlichen Haushalte zurückgeleitet). Die unmittelbaren Kosten der Krise sollten von jenen getragen werden, die für sie verantwortlich sind. Bei der Staatsverschuldung muss es einen umfassenden Schuldenschnitt geben – und die Banken sollten verstaatlicht bzw. vergesellschaftet werden.

Arbeitslosigkeit und Prekarisierung sind zwei der schwersten sozialen Unzulänglichkeiten des Neoliberalismus und des kapitalistischen Systems. Die Krise verschlimmert beide Probleme, denn die Kürzungsprogramme treffen vor allem die Ärmsten. Auch an dieser Stelle sollte nicht ein neues, hypothetisches Wachstumsregime als Lösung gesehen werden – also die Vorstellung, dass man mehr produzieren sollte, um somit zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen. Damit würde das Pferd von hinten aufgezäumt. Ein grundsätzlicher Perspektivwechsel ist notwendig, der nützliche Arbeitsplätze zum Ausgangspunkt macht. Ob durch Arbeitszeitverkürzung im privaten Sektor oder durch die Schaffung öffentlicher Arbeitsplätze das Ziel muss sein, auf gesellschaftliche Bedürfnisse zu reagieren und »wirklichen« Reichtum zu erschaffen, der nicht notwendig die Form von Waren hat. Eine solche Herangehensweise ist ökonomisch schlüssig, und sie steht im Einklang mit dem Umweltschutz: Zwei zentrale Bausteine eines radikalen Programms im Kampf gegen den Klimawandel bestehen darin, Freizeit und nützliche Beschäftigung zu Prioritäten zu machen.

Özlem Onaran (2011) schreibt: »Innerhalb der antikapitalistischen Kräfte in Europa entsteht ein Konsens bezüglich einer Strategie gegen die Krise, der auf vier Pfeilern aufruht:

1  |  Widerstand gegen die Kürzungspolitik und alle Kürzungsmaßnahmen,
2  |  ein radikales, progressives Steuersystem mit Umverteilungswirkung und Kapitalverkehrskontrollen,
3  |  die Verstaatlichung und Vergesellschaftung sowie die demokratische Kontrolle der Banken, und
4  |  eine Schuldenrevision unter demokratischer Kontrolle, auf die Insolvenz folgt.« (Üb. A.D.)

Ein Programm, das nur auf die Regulierung des kapitalistischen Systems an seinen Rändern zielt, würde nicht nur zu klein geraten, sondern auch nicht ausreichend motivieren. Umgekehrt kann eine radikale Perspektive auf Grund der schieren Größe der Aufgaben entmutigend erscheinen. Als Sozialisten müssen wir bestimmen, wieviel Radikalität in der gegebenen Konjunktur am besten ist. Die Schwierigkeit besteht nicht in der Entwicklung effizienter Eingriffsinstrumente (wie oft suggeriert): Viele sind hoch entwickelt und sie sind wichtig. Doch so schlau eine Maßnahme auch gestaltet ist – sie verhindert nicht, dass widerstreitende Interessen aufeinanderprallen.

In Bezug auf die Banken reicht die Spannbreite möglicher Transformationen von der vollständigen Verstaatlichung über die Gründung eines öffentlichen Finanzinstituts, bis hin zu mehr oder weniger restriktiven Regulierungen. Ähnlich sollte die Staatsverschuldung gestrichen, gestundet, neu verhandelt werden – was immer auf Grundlage der zahlreichen unterschiedlichen Vorgaben möglich ist. Die vollständige Verstaatlichung der Banken und die Streichung der Staatsverschuldung sind legitim und durchführbar. Aber unter Bedingungen der gegebenen Kräfteverhältnisse scheinen sie außerhalb unserer Reichweite zu sein. Der wirkliche Streitpunkt ist also: Wie radikal kann und muss eine Strategie des Bruchs sein, um Beschäftigte und politische Bewegungen zu mobilisieren? Es ist offensichtlich, dass diese Frage nicht von Ökonomen entschieden werden kann.

Aus dem Englischen von Alexander Gallas

Literatur

Onaran, Özlem, 2011: An Internationalist Transitional Program towards an Anti-Capitalist Europe: A Reply to Costas Lapavistas, in: International Viewpoint, Nr. IV, Online-Magazin, April 2011, http://internationalviewpoint.org/spip.php7article2096

 

Erschienen in "Euopapa, links"  - LuXemburg 2/2012, mehr zum Thema
unter http://www.zeitschrift-luxemburg.de/?p=2157