Neue Zeichen der Hoffnung

Au Loong Yu und Bai Ruixue zum Widerstand in China heute

Die Zahl der Widerstandsakte in China wächst weiter[1]. Sowohl große als auch kleine Protestaktionen kommen extrem oft vor in China. In Bezug auf Größe und Charakter reichen sie von Arbeiterprotesten gegen nicht bezahlte Löhne oder Forderungen nach mehr Arbeitsrechten über Proteste gegen korrupte Beamte bis zu Protesten gegen Umweltverschmutzung. Während die Proteste oft schnell mit repressiven Mitteln beendet wurden, haben solche Kämpfe aber oft auch dazu geführt, dass den Protestierenden Konzessionen gemacht und garantiert wurden, weil der Ein-Parteien-Staat verschiedene Mittel einsetzt, um soziale Unruhen zu begrenzen und die »soziale Harmonie« wiederherzustellen. Angesichts der Tatsache, dass die allermeisten Proteste spontan sind oder begrenzt auf einen Ort oder ein Anliegen und dass darüber hinaus Informationen und Berichte über solche Auseinandersetzungen oft zensiert sind, ist es sehr schwer, sich einen Gesamteindruck vom Widerstand in China zu verschaffen oder diesen zusammenfassend zu beurteilen.

Dennoch hat es in der letzten Zeit einige Auseinandersetzungen gegeben, die sich auszeichnen wegen ihrer bemerkenswerten neuen Charakteristika und die es wert sind, kommentiert zu werden, da sie beispiellose Schritte zu einer Abkehr von der Vergangenheit zu markieren scheinen.

20 Jahre – seit der Niederschlagung der Demokratie-Bewegung 1989 – dauerte die tiefe Demoralisierung unter den Arbeitern im niedergehenden öffentlichen Dienst an, während im boomenden privaten Sektor die geringe Erwartungshaltung der ArbeitsmigrantInnen aus den Dörfern ein Ausdruck ihrer Unkenntnis über die eigenen Rechte war. Insofern blieben die Kämpfe der Arbeiter in beiden Sektoren hochgradig atomisiert und spontan. Die jüngsten Vorfälle mögen aber ein Zeichen dafür sein, dass sich die Zeiten zu ändern beginnen, denn sie sind Ausdruck eines viel größeren Bewusstseins von der Koordinierung der Kämpfe und zeigen sogar Anflüge von Graswurzel-Demokratie.

Auch wenn der Ein-Parteien-Staat immer noch sehr stark bleibt, gibt es auf der Ebene der Provinzen Anzeichen dafür, dass die Partei sich mit den Anliegen der Graswurzelbewegung arrangieren werden muss – uns zeigen diese Kämpfe also nach und nach neue Zeichen der Hoffnung. Wir wollen hier versuchen, eine Einschätzung von einigen der bedeutenderen Kämpfe der letzten drei Jahre vorzunehmen und zu illustrieren, warum diese im chinesischen Kontext signifikant sind und warum solche Formen des Widerstands potenziell wichtig werden könnten für die Zukunft eines verbreiterten Widerstands in China.

 

Der Anti-Privatisierungskampf bei Tonghua[2]

 

Als erstes wollen wir den Anti-Privatisierungskampf bei Tonghua vom Juli 2009 betrachten. Der Kampf der Stahlarbeiter beim Tonghua-Stahlwerk in der Provinz Jilin, bei dem der Boss der Fabrik ums Leben kam, führte zu einem Sieg der Arbeiter und dazu, dass der Plan, das Stahlwerk zu verkaufen und zu privatisieren, aufgegeben werden musste. Der Protest begann, als die Arbeiter von den Plänen erfuhren, dass Jianlong Steel die Fabrik übernehmen und unter ihre Kontrolle bringen wollte. Die Arbeiter hatten bereits gute Gründe, dies abzulehnen, denn Jianlong hatte im September 2005 schon 36 Prozent der Anteile an Tonghua gekauft, und dies hatte eine Entlassungswelle zur Folge. Außerdem hatte Jianlong im Vorfeld zeitweilig das Unternehmen kontrolliert und dem war es dabei finanziell schlecht ergangen, als die Stahlpreise sanken. Aus Angst um weitere Arbeitsplatzverluste in einer Stadt, in der das Stahlwerk der einzige größere Arbeitgeber ist, entschieden sich die Arbeiter zu Protestaktionen, als sie von der geplanten Übernahme des Werks erfuhren. Am 24. Juli hängte deshalb ein Arbeiter, der kurz zuvor entlassen worden war, ein Banner an das Hauptgebäude von Tonghua, auf dem stand: »Jianlong, raus aus Tonghua«. Und die Arbeiter starteten eine Straßenblockade, um die Zulieferer daran zu hindern, ins Stahlwerk zu kommen und so einen Produktionsstopp zu erreichen. Ca. 30000 aktuell und früher Beschäftigte und ihre Familien waren in die Proteste involviert.

Die Aktion endete nachts, nachdem der Fabrikchef Chen Guojin während des Protests zu Tode geprügelt worden war. Jianlong zog sein Kaufangebot zurück, kurz nachdem Chen umgebracht wurde. Ein großer Teil der Wut der Arbeiter machte sich direkt an Chen fest, der als erster 2006 zu Tonghua kam, nicht lange, nachdem Jianlong erste Anteile an der Firma gekauft hatte. Man grollte ihm nicht nur, weil er als Repräsentant für Jianlong stand und darüber hinaus bekannt war für sein hartes und äußerst repressives Management, sondern auch deshalb, weil sich die Arbeiter an die zunehmende Ungleichheit und Ungerechtigkeit der Lohndifferenzen zwischen sich und dem Management erinnerten, die mit Chens Ankunft verbunden waren. In einem Bericht kann man z.B. nachlesen, dass Chen im Jahr 2008 drei Millionen Yuan bekam, während manche Rentner der Firma weniger als 200 Yuan pro Monat erhielten.[3]

Die Auseinandersetzung stoppte erfolgreich die Privatisierung von Tonghua durch Jianlong. Im folgenden Jahr erwarb die chinesische Shougang Steel Group, ein riesiges staatseigenes Unternehmen (SEU), Mehrheitsanteile an Tonghua. Auch wenn das zunächst ein Sieg war, muss man genau hinsehen, wie lange die Arbeiter ihre Jobs noch behalten können, da auch SEU nach der Restrukturierung wie jedes andere kommerzielle Unternehmen geführt werden – mit hohem Druck, die Kosten für Arbeit zu senken.

Die Auseinandersetzung um Tonghua ist aus vielen Gründen bezeichnend.

Erstens illustriert sie nicht nur einen weiteren Fall von Widerstand, in dem chinesische Arbeiter eine drohende Privatisierung nicht nur einfach passiv hinnehmen; die Tatsache, dass in diesen Auseinandersetzungen ein Manager umgebracht worden ist, spiegelt den wachsenden Zorn und die Hoffnungslosigkeit der Arbeiter, deren Existenzgrundlagen gefährdet sind, während das Management die Früchte erntet und sich selbst höhere Gehälter bewilligt. In Zeiten der Unternehmensreformen seit den späten 1980er Jahren konnte man öfter in den Zeitungen lesen, dass einzelne Arbeiter Manager umbrachten, weil diese sie entlassen oder ihnen die Löhne gekürzt hatten, aber das waren nie kollektive Aktionen. Wo es kollektive Aktionen gab – meistens Demonstrationen, Campieren vor den Fabriken etc. –, waren diese aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen sehr moderat und diszipliniert. Der Vorfall in Tonghua ist der erste, wo ein Manager von einer großen Gruppe von Arbeitern umgebracht und dies von den meisten anderen Arbeitern unterstützt wurde. Auch die Internetgemeinde unterstützte die gewaltsame Aktion der Arbeiter. Ein solch massiver Wutausbruch bei den Arbeitern erschreckte die lokale Regierung und zwang sie zu Zugeständnissen diesen gegenüber. Ob dies bloß einen individuellen Fall darstellt oder ein Zeichen dafür ist, dass der demoralisierende Effekt der Niederlage der Arbeiter von 1989 nun langsam verschwindet, bleibt abzuwarten. Aber zukünftige Auseinandersetzungen von Beschäftigten aus SEU könnten sich auf dieses Beispiel beziehen und daraus ihre Inspiration erhalten.

Zweitens kämpften mehr oder weniger zur gleichen Zeit wie bei Tonghua Arbeiter bei der Linzhou Steel Company in der Stadt Puyang ebenfalls gegen Privatisierung und der Sieg bei Tonghua befeuerte ihren Kampf noch mal richtig. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen hielten die Arbeiter einen Vertreter der lokalen Regierung für 90 Stunden fest. Auch sie beendeten ihren Kampf mit einem Sieg.

Drittens ist die chinesische Stahlindustrie, die größte der Welt, ein Beispiel für die Industrien, in denen viele Arbeiter ihre Jobs verloren haben, weil sie Opfer von großflächigen Entlassungswellen wurden, die wiederum das Resultat der Privatisierungs- und Konzentrationspolitik der Zentralregierung sind, mit der diese die Industrie global wettbewerbsfähig machen wollte. In der Zeit von 1996-2001 nahm in der Eisenindustrie die Beschäftigtenzahl von 3,37 Millionen auf 2,04 Millionen ab, ein Rückgang von 40 Prozent.[4] Auch wenn sie heute nur noch rund ein Fünftel der chinesischen Arbeiterklasse stellen, zeigt der Kampf bei Tonghua, dass die Beschäftigten in den SEU und in den Kollektiv-Unternehmen immer noch eine beeindruckende Macht sein können. Außerdem ist die Tatsache, dass – auch wenn das Gewicht sowohl der SEU als auch ihrer Belegschaften abgenommen hat – die SEU immer noch die wichtigsten Industriezweige darstellen, auch nach der Restrukturierung. Und das gibt den Arbeitern mehr Macht, als die puren Zahlen suggerieren mögen.

Letztlich erwiesen sich im Fall Tonghua wie im Fall Linzhou all die vermeintlichen Arbeiterinstitutionen in den Fabriken – die Gewerkschaften, die betrieblichen Vertretungsorgane der Beschäftigten und leitenden Angestellten etc. – als ineffektiv, die Interessen der Arbeiter zu vertreten. Deshalb unternahmen die Arbeiter in beiden Fabriken von den Gewerkschaften unabhängige Aktionen, auch wenn viele selbst Gewerkschaftsmitglieder waren. Ein Beschäftigter bei Tonghua kommentierte das in der China Daily folgendermaßen: »Ich kann mich nicht erinnern, wann wir das letzte Mal ein Treffen mit einem Gewerkschaftsvertreter hatten. Die Gewerkschaft hat an dem Tag, als Chen umgebracht wurde, sicher nichts Gutes getan.«[5] (...)

 

Der Kampf der Pepsi-Arbeiter

 

Ein weiteres bedeutsames Beispiel für Protestaktionen von Arbeitern aus der letzten Zeit ist der Protest von tausenden Arbeitern bei der Pepsi-Cola-Abfüllerei am 14. November 2011 gegen ein Abkommen zwischen PepsiCo. Inc und der Taiwanesischen Tingyi Holding Corporation (auch bekannt als »Master Kong«). Im Rahmen dieses Abkommens wollte Pepsi seine Abfüllung in China aufgeben und seine Kapitalanteile an die Tingyi-Asahi Beverages Holding Co. (TAB) übertragen, ein Joint-Venture zwischen Tingyi und der japanischen Asahi Group Holdings Ltd, und dafür sollte Pepsi eine Beteiligung an dem aus diesem Joint-Venture entstandenen Unternehmen bekommen; die Verträge der Arbeiter mit PepsiCo. sollten auslaufen und man zwang sie, diese nun mit TAB neu zu verhandeln. Als sie diese Neuigkeiten hörten, nahmen sich die Arbeiter, die über den Deal zwischen den beiden Firmen nicht informiert worden waren, einen Tag frei[6] und protestierten mit der Forderung, dass entweder die Übernahme gestoppt würde oder dass sie eine Abfindung von PepsiCo. bekommen müssten, wenn ihre Verträge ausliefen, da dies eine Verletzung des ursprünglichen Vertrags darstelle.

Der Protest der Arbeiter ist deshalb bedeutsam, weil die Arbeiter erstmals den Schritt zu koordinierten Aktionen machten – anders als die meisten anderen Arbeiter-Proteste in China. Zeitgleich fanden Proteste in Abfüllereien in mehr als fünf verschiedenen Städten statt, u.a. in Chongqing, Chengdu, Fuzhou, Changsha und Nanchang. Darüber hinaus wurde in der Folge der Protestaktion eine Online-Kampagne organisiert, mit der Arbeiter in allen Abfüllereien von PepsiCo. in ganz China eingebunden werden sollten.

Kurz danach, am 30. November, kündigte Pepsi tatsächlich ein paar Abfindungen für die Beschäftigten an: Sie bekamen die Option, entweder zu bleiben und für ein weiteres Jahr dort zu arbeiten, um dann eine höhere Abfindung zu erhalten, oder eine sofortige, aber kleinere Abfindung zu bekommen oder aber ihre laufenden Verträge ohne irgendwelche Änderungen zu behalten. Dennoch zeigten Postings in schnell wieder abgeschalteten Internetblogs, dass es zumindest unter einigen Arbeitern immer noch Unzufriedenheit mit der Situation gab. Am 1. Dezember wurde z.B. in einem Blog der Pepsi-Beschäftigten von Lanzhou festgestellt, dass die Arbeiter nicht mit dem Angebot der Arbeitgeber einverstanden seien und von diesen forderten, auf die Forderungen der Gegenseite einzugehen. Wenn das Management nicht rechtzeitig auf die Arbeiter eingehe, drohten sie, sämtliche gesetzlichen Möglichkeiten auszuschöpfen, um ihren Beschwerden Nachdruck zu verleihen.

Die Verbindung zwischen PepsiCo. und Tingyi wurde letztlich Ende März 2012 durch das chinesische Handelsministerium genehmigt. Während es nach wie vor Berichte gibt, dass die Arbeiter mit den angebotenen Abfindungen unzufrieden sind, bleibt abzuwarten, ob es zu weiteren Aktionen kommen wird.

 

Die Wukan-Proteste

 

Die wahrscheinlich bemerkenswerteste Widerstandsbewegung der letzten Jahre war sicher der Kampf der Bewohner von Wukan, einem Fischerstädtchen mit ca. 13000 Einwohnern in der Provinz Guangdong im Jahr 2011. In dieser Auseinandersetzung zeigte sich ein zeitweilig vollständiger Kontrollverlust der regierenden kommunistischen Partei über die Bewohner. Und im Anschluss daran kam es noch zu einem teilweisen Sieg der Bewohner, denen es zum ersten Mal gelang, unabhängige Neuwahlen für den Gemeinderat zu organisieren.

Die Auseinandersetzungen begannen damit, dass sich die Bewohner von Wukan gegen die illegale Landnahme durch korrupte Regierungsbeamte wehrten. »Land grabbing«, das widerrechtliche Aneignen von Grund und Boden, ist ein weit verbreitetes Problem in China, und es wird von offizieller Seite bestätigt, dass mehr als 43 Prozent der chinesischen Bauern Opfer davon wurden und dass die lokalen Regierungen damit riesige Profite gemacht haben.[7] Proteste gegen diese Form der Korruption gab und gibt es sehr häufig in China, doch sie rücken zunehmend ins Blickfeld der chinesischen Führung, der daran gelegen ist, die soziale Stabilität zu bewahren und die insofern zumindest rhetorisch vorgibt, dass die Rechte der Dorfbewohner geschützt werden müssten.

Nach Angaben der Bewohner von Wukan gibt es das Problem, dass man ihnen erst ihr Land wegnimmt und dann an Bauträger verkauft, schon seit Mitte der 1990er Jahre. Allerdings hat erst vor ein paar Jahren eine Gruppe von Bewohnern begonnen, rechtliche Beschwerden über korrupte Beamte vorzubringen, die sich ihr Land widerrechtlich aneignen. Im September 2011 beschlossen die Einwohner von Wukan dann, dass sie jetzt genug hätten, und gingen zu Massenprotesten auf die Straße, stürmten die Büros der lokalen Regierung und schmissen den Parteisekretär raus.

Schnell wurde die Bereitschaftspolizei eingesetzt, um die Bewohner anzugreifen, und diese wurden zurückgeschlagen. Dennoch bat die lokale Regierung kurz danach die BürgerInnen, 13 Repräsentanten auszusuchen, die sie in der Mediation vertreten könnten. Sobald die Wut der Bewohner ein wenig abgeklungen war, versuchte die Regierung, das Städtchen wieder unter ihre Kontrolle zu bekommen und Anfang Dezember wurden die gewählten Repräsentanten aus einem Restaurant in Wukan heraus verhaftet, verhört und in den Knast geworfen. Zwei Tage später, als die Bereitschaftspolizei wieder nach Wukan geschickt wurde, traf sie auf einen noch viel größeren Massenprotest der Bewohner, und trotz aller Versuche, mittels Tränengas und Wasserwerfern die Kontrolle wiederzuerlangen, wurde die Polizei aus der Stadt getrieben. Sie wich zurück zu einer Straßensperre ein paar Meilen weg, von wo aus sie versuchte, die Wasser- und Lebensmittelzufuhr abzuschneiden, solange die Proteste anhielten. Als bekannt wurde, dass Xue Jinbo, einer der 13 Gemeinde-Repräsentanten, kurz danach in der Gefangenschaft starb, befeuerte dies die Wut und die Entschlossenheit der Protestierenden erst recht.

Die Proteste in Wukan waren beispielhaft aus mehreren Gründen. Letztlich wurden, trotz der anfänglichen Brutalität und des schrecklichen Tods von Xue Jinbo, die Proteste nicht aufs Schärfste unterdrückt, wie das in der Vergangenheit üblich war, sondern sie endeten mit der Entlassung der Inhaftierten und dem Versprechen, dass man sich der Beschwerden der Bewohner annehmen werde. Was jedoch noch viel mehr bedeutet: Erstmals seit Jahrzehnten wurde ein provisorisches Komitee, das von den BürgerInnen gegründet worden war, um Vorbereitungen für Wahlen einer neuen Kommunalvertretung zu treffen, und in dem die BürgerInnen selbst aktiv mitwirken konnten, durch die städtische und die Provinz-Regierung anerkannt.[8] Dies zeigt, dass der Kampf von unten das Potenzial hat, den praktischen Bann, den die Partei gegenüber allen Formen autonomer Organisation von unten ausübt, zu brechen.

Im Februar 2012 führte das dann zu den ersten echten Wahlen in Wukan, in denen ein 11-köpfiges Wahlgremium aufgestellt wurde, das nun die Wahlen zur neuen Kommunalvertretung für den nächsten Monat organisierte. Die alten Beamten, die den illegalen Landverkauf »übersehen« hatten, waren schon gefeuert. Viel wurde getan, damit diese Wahlen offen und demokratisch waren. Vor den Wahlen wurde unter den Bewohnern von Wukan eine Feststellung der Wahlberechtigten durchgeführt mit dem Ziel, die Transparenz zu erhöhen, und gemäß einem Bericht von Xinhua nahmen an dieser Erhebung mehr als 70 Prozent der in Frage Kommenden teil. Weiterhin waren alle Kandidaten für das Wahlgremium angefragt, eine öffentliche Stellungnahme abzugeben, dass sie bei der kommenden Wahl für den Stadtrat nicht antreten würden (um sicher zu stellen, dass sie aus ihrer Funktion im Wahlgremium keine Vorteile ziehen konnten); und sie sollten 50 Unterschriften ihrer Anhänger im Dorf sammeln, die ihre Kandidatur unterstützten, um so eine Mindestunterstützung zu gewährleisten. In dem Bericht kann man lesen, dass viele der Bewohner, die zum ersten Mal an einer Wahl teilnahmen, deshalb sehr enthusiastisch waren.[9] Gemäß den Vorgaben des im Februar gewählten Wahl-Komitees wurden die Wahlen für den neuen Stadtrat dann im März abgehalten. Einer der Repräsentanten äußerte, er hoffe, diese Wahl möge die ganze Nation und alle Ebenen der Regierung inspirieren, dass von den Dörfern bis zur Zentralregierung in Zukunft demokratisch gewählt werden soll.[10]

Dass die Bewohner  von Wukan sich das Recht erkämpft haben zu diesen Wahlen, markiert einen vorher nie dagewesenen Schritt vorwärts für sie. Vergleiche, die kürzlich angestellt wurden zwischen den Wahlen in Wukan und der Wahl des Stadtratsvorsitzenden von Hongkong, haben gezeigt, dass Wukan jetzt demokratischer ist als Hongkong; das zeigt zum einen, was die Bewohner in Wukan erreicht haben, und zum anderen, wie groß das Demokratiedefizit in Hongkong ist. Was diese neue Demokratie jetzt für die Bewohner von Wukan bedeutet, ist dagegen abzuwarten. In der Tat wurde das Problem der illegalen Landaneignung, das der Auslöser für den Protest war, noch nicht gelöst und es ist nicht sicher, ob es jemals adäquat gelöst werden wird.

Wichtig ist auch zu erwähnen, dass dieser Protest, so sehr er sich gegen die korrupten Beamten richtete, kein Protest gegen die kommunistische Partei als solche war. Faktisch gab es während der Ereignisse viele Transparente und Stellungnahmen, die ihre Unterstützung für die Partei ausdrückten – etwas, das in den verschiedensten Protesten in China immer wieder zum Ausdruck kommt und das eine Haltung zeigt, die meint, eher seien die lokalen korrupten Beamten verantwortlich für Missstände als die Zentralregierung. Auch waren unter den Anführern des Protestes Mitglieder der kommunistischen Partei. Einer von ihnen, Lin Zuluan, wurde sogar zum Parteisekretär von Wukan vorgeschlagen. Das Vertrauen der Bürger in ihn zeigt sich auch darin, dass er später bei den März-Wahlen von ihnen gewählt wurde zum Vorsitzenden des Stadtrats, so dass er nun sowohl Parteisekretär als auch Stadtratsvorsitzender ist.

Eine Frage, die bei der Diskussion über die Implikationen der Ereignisse in Wukan immer wieder gestellt wird, ist die, inwiefern dieses Ereignis oder das viel demokratischere Modell, das daraus entstanden ist, das Potential zur Nachahmung irgendwo in China hat. Dennoch ist die Rede vom »Wukan-Modell« etwas zu optimistisch, wenn nicht irreführend. Die Ereignisse in Wukan können als Sieg angesehen werden, der durch einen in dieser Form ungekannten Graswurzel-Widerstand zustande kam, doch es müssen auch die besonderen Umstände berücksichtigt werden, also insbesondere, dass einer der Anführer der Proteste ein populäres und verdienstvolles Mitglied der kommunistischen Partei war, und dass sie die Unterstützung eines voll entwickelten Netzwerkes von jungen Stadtbewohnern hatten, die alle Anstrengungen unternahmen, mit elektronischer Hilfe und mittels Internet die Zensurmaßnahmen zu unterlaufen. Ein weitere Faktor ist sicher, dass sich die Provinzregierung von Guangdong in den letzten Jahren toleranter gegenüber ökonomischen Protesten gezeigt hat, insofern sie gemerkt hat, dass diese nicht notwendig den Ein-Parteien-Staat bedrohen. Wenn solche Reformen anderswo von oben eingeführt würden, wären sie dennoch sehr beschränkt und könnten jederzeit wieder revidiert werden, z.B. wenn Kandidaten gewählt würden, denen es an Zustimmung aus der Partei mangelte oder die als Bedrohung angesehen würden. Nur durch einen breiter aufgestellten Kampf, der über den Tellerrand des aktuellen einzelnen Anlasses hinausblickte, könnte in China ein demokratischeres und verlässliches Modell entstehen.

 

Dalian

 

Umweltverschmutzungen sind ebenfalls ein wichtiger Grund für Proteste in China. Auch wenn die Regierung als ihr Ziel beansprucht, die Umweltverschmutzung einzudämmen und eine sauberere Umwelt zu schaffen, haben solche Formulierungen oft kaum Substanz oder werden wieder vergessen, sobald sie in Konflikt geraten mit einer attraktiven Investition. Und doch haben Umweltproteste aus Furcht der Herrschenden vor sozialer Instabilität einigen Erfolg. Ein Beispiel für Umweltproteste aus der letzten Zeit, über das ausführlich berichtet wurde, ist der Kampf in Dalian vom August 2011, bei dem Proteste in der Stadt Dalian in der Provinz Liaoniang im Nordosten Chinas die Autoritäten zwangen, einen petrochemischen Betrieb sofort zu schließen und zu versprechen, ihn woanders hin zu verlegen. Der Protest begann, nachdem die Einwohner von Dalian besorgt waren über die mögliche Freisetzung des giftigen Paraxylols (PX) durch die Fujia-Fabrik. Die Deiche, die die Fabrik schützen sollten, waren von hohen Wellen in Folge eines Sturms zerstört worden. Auch wenn die Obrigkeiten darauf bestanden, dass es nicht zu Umweltverschmutzungen gekommen sei, gingen tausende Anwohner aus Wut über die Verschmutzungen und die Sicherheitsrisiken, denen sie ausgesetzt waren, auf die Straße. Viele behaupteten, dass tatsächlich Gift aus der Fabrik ausgelaufen sei, und forderten: »PX raus aus Dalian« oder »Refuse PX (Refuse kann sowohl »Abfall« als auch »lehnt ab« bedeuten; Anm. d.Ü.) «. Es wurde außerdem berichtet, dass chinesische Reporter, die versucht hatten, den Betrieb zu untersuchen, von den Sicherheitskräften geschlagen wurden.[11]

Wie in vielen anderen Fällen war die lokale Obrigkeit bemüht, die sozialen Unruhen einzugrenzen, und schon ziemlich am Anfang der Proteste versuchte der Bürgermeister von Dalian, Li Wancai, die Protestierenden zu befrieden, indem er anbot, die Fabrik an einen anderen Ort zu verlegen. Viele Protestierende verlangten allerdings, dass erst ein Zeitplan vorgelegt werden müsse, bevor sie ihre Proteste einstellten. Ein Knackpunkt, der sich bei diesem Protest ohne Zweifel zeigte, ist das klare Misstrauen der Bürger gegenüber den Obrigkeiten. In den Worten eines Demonstranten: »Selbst wenn es hier zur Kontamination gekommen wäre, würde die Regierung die Nachrichten zensieren.«[12]

Dies war nicht der erste Protest, der zur Verschrottung eines Projekts geführt hat, bei dem die Chemikalie Paraxylol eine Rolle gespielt hat. Z.B. sah sich bei den Protesten in Xiamen im Jahr 2007 die Obrigkeit schon gezwungen, ein ähnliches Projekt zu stoppen und es außerhalb der städtischen Rechtszuständigkeit zu verlegen.

Auch wenn die Proteste in Dalian mit der Schließung der Fabrik und dem Versprechen der Obrigkeit, die Produktion auf die Insel Xizhong zu verlagern, mit einem Sieg für die Protestierenden zu enden schienen, gibt es seitdem immer wieder Berichte, denen zufolge die Fabrik in Dalian wieder eröffnet werden könnte – auch wenn viele Nachrichten über die Wiederaufnahme der Arbeit in der Fabrik auf Festland-Webseiten wieder aus dem Netz genommen worden sind.[13] Sollte die Fabrik tatsächlich wieder arbeiten, zeigt das nur, wie wenig das Wort der Obrigkeiten wert ist und wie einfach es für sie ist, ihre Versprechen jederzeit zu brechen.

 

Haimen

 

Im Dezember 2011 protestierten Tausende von Bewohnern vier Tage lang in Haimen, einer Stadt in der Provinz Guangdong unweit von Wukan, indem sie Straßen blockierten und Regierungsgebäude umzingelten. Sie wollten damit ihren Protest ausdrücken gegen die geplante Expansion des mit Kohle betriebenen, staatseigenen Kraftwerks Huaneng Power. Angespornt waren die Einwohner durch ihre Befürchtungen über die große Verschmutzung durch das bereits bestehende Kraftwerk, die auch ohne Expansion bereits zu Gesundheitsproblemen wie erhöhten Krebserkrankungen führte.

Auch in diesem Fall wurde die Bereitschaftspolizei, die Tränengas in die Menge schoss, geschickt, um die Proteste zu brechen; das hatte mehrere Verletzte zur Folge, berichtet wurde auch über zwei Tote.[14] Außerdem wurden zwei Protestierende wegen Vandalismus verhaftet. Aus Angst, dass der Protest wachsen könnte – und mit Wukan im Hinterkopf – wurden viele Anstrengungen unternommen, die Protestierenden abzuschrecken. Zum Beispiel wird berichtet, dass man Studierende bis spät am Tag davon abhielt, die Schule zu verlassen – aus Angst, dass sie sich den Protesten anschließen könnten. Mittlerweile zeigen lokale TV-Sen-der Rechtsexperten, die warnen, dass eine Beteiligung an den Protesten mit Haft bis zu fünf Jahren geahndet werden könne.[15]

In Berichten über die Ereignisse wird darauf hingewiesen, dass viele Einwohner in Haimen die Situation mit Wukan verglichen hätten und davon beeinflusst worden seien. Das Faktum, dass die beiden Ereignisse zur selben Zeit stattgefunden haben, hat ohne Zweifel den Druck auf die Provinzregierung erhöht und mag zu der schnellen Entscheidung beigetragen haben, das Kraftwerksprojekt zu stoppen, nachdem klar wurde, dass die Abschreckung der Protestierenden gescheitert war. Sicher will die Obrigkeit jede Gelegenheit vermeiden, dass sich die Ereignisse von Haimen hochschaukeln zu einem neuen Wukan, was womöglich noch mehr Leute aktivieren würde. Ein Ergebnis des Protestes war die Ankündigung der Regierung in der Stadt Shantou, unter deren Rechtsprechung Haimen fällt, dass das Projekt vorübergehend ausgesetzt sei und die inhaftierten Protestierenden entlassen würden. Dennoch wurde kein Versprechen gemacht, das Projekt komplett und für immer zu stoppen.

 

Schlüsse

 

Wie diese Fälle gezeigt haben, kann Widerstand in China begrenzt positive Veränderungen bewirken. Das ist nicht nur wichtig wegen der kurzfristigen Vorteile – wie etwa der Stopp von Privatisierungen, die Durchsetzung besserer Arbeitsbedingungen oder eines verbesserten Umweltschutzes –, sondern viel wichtiger an solchen Siegen ist, dass sie zukünftige Aktionen inspirieren und positive Ergebnisse solcher Aktionen beeinflussen können, wie der Einfluss des Kampfs der Arbeiter beim Tonghua-Stahlwerk, der Honda-Arbeiter und der Bewohner von Wukan auf andere Kämpfe zur gleichen Zeit gezeigt hat. Die Widerstandsformen, die gewählt wurden, zeigen auch, dass die jetzige Generation in wachsendem Maße mutiger wird. Und auch wenn es noch auf einem kleinen Level ist, verdient der Versuch der Pepsi-Arbeiter, ihre Aktionen zu koordinieren, hier besonderen Respekt. Denn auch wenn eine solche Koordinierung in der Vergangenheit immer mal wieder erwogen wurde, hätte die Angst vor den Konsequenzen doch immer abschreckend gewirkt. Dass die jungen Honda-Arbeiter beansprucht haben, im Interesse der gesamten chinesischen Arbeiterklasse zu agieren, zeigt wieder, dass diese neue Generation frei ist von der schrecklichen Niederlage von 1989 und dass sie das Potenzial hat, über den eigenen Tellerrand und den unmittelbaren Anlass hinauszublicken und sich mit breiteren Anliegen zu identifizieren. Und wenn das auch nur kleine Zeichen bleiben, geben sie uns doch Grund, die Hoffnung nicht aufzugeben.

 

Übersetzung: Nadja Rakowitz

 

In: LabourWorld 05/08/2012

http://worldlabour.org/eng/node/515

 

 

erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 5/12

express im Netz unter: www.express-afp.info, www.labournet.de/express



[1] Au Loong Yu und Bai Ruixue gehören zu den Herausgebern des China Labor Net.

[2] Die folgenden Ausschnitte zu dem Anti-Privatisierungs-Kampf bei Tonghua und zum Honda-Streik sind übernommen aus unserem Artikel »The Case for an Autonomous Labour Movement in China,« Au Loong Yu and Bai Ruixue

[3] »30.000 China steel workers in deadly clash«, im Internet: http://www.google.com/hostednews/ap/article/ALeqM5jioPQNV87uBjYSGuPr-LgcBJNdiAD99LC8900

[4] »Woguo zhongchangqi shiye wenti yanjiu« (Research on China Medium and Long Term Unemployment), Jiang Xuan, China People’s University Press, Beijing, 2004, S.181

[5] Siehe: »China debates the lessons of Tonghua tragedy«, China Labour Bulletin, http://www.clb.org.hk/en

[6] Die Arbeiter werden mit den Worten zitiert, sie hätten nicht gestreikt, sondern schlicht protestiert, um ihre Rechte geltend zu machen.

[7] »Nearly half China farmers suffer land grabs«, AFP, 7. Februar 2012.

[8] Dennoch ist es auch bezeichnend, dass die Repräsentanten der Arbeiter von Honda Foshan bei den Verhandlungen mit dem Management offiziell als gewählte Repräsentanten von Unten anerkannt wurden – was äußerst selten ist.

[9] »Guangdong Wukan cunmin yiren yi piao tuixuan cunmin xuanju weiyuanhui«, Xinhua Guangdong, 2. Februar 2012.

[10] Ming Pao, 18. Dezember 2011.

[11] Siehe: »Tens of thousands protests against chemical plant in Northern China«, Guardian, 14. August 2011

[12] Ebenda

[13] »Dalian Plant Re-opens after protests dissipate«, http://rightsite.asia/en/article/dalian-chemical-plant-re-opens-after-protests-dissipate

[14] »Chinese official denies reports of deaths at Haimen Protest«, Reuters, 21. Dezember 2011, http://www.reuters.com/

[15] »Police fire tear gas at protesters in Chinese city«, New York Times, 23. Dezember 2011, www.nytimes.com