Generalstreik und Occupy Oakland
In den letzten Monaten habe ich einige unglaubliche Dinge gesehen, wenn ich aus meinem Fenster geschaut habe. Ich arbeite an der Ecke gegenüber des »Occupy Oakland Camp«, also dort, wo sich kürzlich die Szenen brutaler Gewalt der Polizei gegen friedliche Demonstranten abgespielt haben. Am 2. November war dies auch der zentrale Schauplatz des ersten Generalstreiks in Oakland seit 1946. Zehntausende Menschen kamen raus, um die Occupy-Bewegung zu unterstützen und sich mit den »99 Prozent« zu identifizieren.
Der Streik wurde ausgerufen am Tag, nachdem die Polizei in den frühen Morgenstunden die Occupy Oakland-Camper mit Gewalt vertrieben und dann friedlich Protestierende angegriffen hatte, die die Camper unterstützen wollten. Friedliche DemonstrantInnen, darunter auch Rollstuhlfahrer, wurden mit Tränengas und Leuchtbomben attackiert und mit Gummikugeln beschossen.
Als Antwort auf den äußerst brutalen Polizeieinsatz gegen das Camp wurde am nächsten Abend während einer Vollversammlung der Ruf nach einem Generalstreik laut.
Die Berichte über die Polizeigewalt zogen über tausend Menschen – Jugendliche, Studierende, Arbeiter, Gewerkschafter, Immigranten und AktivistInnen aus unterschiedlichsten Szenen – auf die Seite der BesetzerInnen, um ihre Solidarität mit dem Camp zu beweisen. Die Vollversammlung wurde an diesem Abend von über 1 600 Leuten besucht; 1 484 stimmten für den Streik, 46 dagegen und 77 enthielten sich. Eine 96-prozentige Mehrheit trug den Beschluss!
Der Oakland-Streik war kein offizieller, von den Gewerkschaften oder der Arbeiterbewegung ausgerufener Generalstreik. Er wurde von der Vollversammlung der Occupy Oakland-Bewegung ausgerufen. Die Gewerkschaften und die örtliche Vertretung des Gewerkschaftsdachverbands reagierten, indem sie Unterstützung verschiedenster Art zeigten, konnten ihre Mitglieder jedoch nicht offiziell zum Streik aufrufen – das wäre ein Verstoß gegen ihre hart erstrittenen Tarifverträge gewesen. Die Gewerkschaften ermutigten ihre Mitglieder, sich zu beteiligen, und leitende Gewerkschaftsfunktionäre sponserten eine Grillparty für die Protestierenden.
Es gab auch eine von den Gewerkschaftsführungen verfasste Erklärung zur Unterstützung des Occupy-Camps und zur Solidarität mit den »99 Prozent«. Viele ArbeiterInnen meldeten sich krank oder nahmen Urlaub, um daran teilzunehmen. Der Bürgermeister erlaubte allen städtischen Beschäftigten (außer der Polizei), einen Tag freizunehmen, falls sie sich an den Protesten beteiligen wollten. Rund 20 Prozent der Lehrer in Oakland nahmen teil, manche Schulen schlossen komplett, nachdem die Schüler den Unterricht verließen.
Eine Gruppe von Aktivisten gründete das »LeftBay99-Kollektiv«, um ein Dach zu schaffen, unter dem Organizer für die Bewegung aktiv werden können – ob mit oder ohne die offiziellen Organisationen, für die sie jeweils arbeiten. Viele Aktivisten unterstützen die Occupy-Bewegung, ohne im Camp zu zelten, und wollen andere Formen der Beteiligung entwickeln. Auch ich wurde Teil dieser Gruppe und half den »Farbigen Müttern der 99 Prozent«, einen Platz für Migrantinnen oder Farbige mit kleinen Kindern zu bekommen. »Left-Bay99« initiierte aus dem Stand eine Reihe von Komitees, um den Streik zu unterstützen und bei der Koordination mit kommunalen Organisationen einschließlich der Gewerkschaften zu helfen.
Binnen einer Woche war der Streik organisiert. Obwohl es breite Unterstützung von örtlichen Gruppen und Gewerkschaften gab, war die Stadt jedoch nicht komplett lahmgelegt. Die Busse fuhren, die Autobahnen waren frei, und wenn man nicht gerade im Stadtzentrum von Oakland war, hat man vielleicht gar nichts von dem Streik gemerkt. Aber für jeden, der daran teilgenommen hat, war es ein wunderbarer Tag. Hunderte Menschen bewegten sich allein im Stadtzentrum, wo die Straßen für den Verkehr gesperrt waren. Den ganzen Tag zogen Demonstranten durch die Straßen, Musik und Redner heizten die Massen an, die Atmosphäre war eher wie bei einem Festival als bei einem Protest. Man sah keine Polizei, jedenfalls nicht in Uniform,
und die Menge steuerte sich selbst. Wenn ein paar Einzelne Scheiben einwarfen oder Graffitis auf Gebäude sprühten, zogen andere Teilnehmer sie weg oder stoppten sie.
Die Organisatoren hielten den Tag für einen großen Erfolg, weil sie den Finanzbezirk im Zentrum und die Banken von ihren Geschäften abgehalten hatten. Der fünftgrößte Hafen der USA war lahmgelegt, so dass kein Warenumschlag stattfand; das hat Millionen von Dollars an der Zirkulation gehindert. Insgesamt 50 000 Menschen – Kinder, Jugendliche, Arbeiter, Immigranten – schlossen sich während des Tags und die ganze Nacht über der Bewegung an. Aus örtlichen Organisationen beteiligten sich große Delegationen und viele Gruppen marschierten aus unterschiedlichen Teilen der Stadt ins Zentrum, um sich an den Aktivitäten dort zu beteiligen. Sie forderten, die Banken zu regulieren, zu besteuern und insgesamt in die Verantwortung zu nehmen, sowie Investitionen in Schulen, den öffentlichen Dienst und in Wohnungen. Es gab eine breite Beteiligung von Lehrern, Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes, von Jugend- und Gemeindeorganisationen.
Es gab sogar zwei Kinder-Demos und jeden Tag Aktivitäten im Occupy Oakland-Kinderzelt, mit Bannern und Sprüchen wie »Wagt Euch nicht, meine Zukunft zu klauen!« und »Teilt!«. Mindestens drei Geschäftsbanken wurde von den »99 Prozent« die »Zwangsvollstreckung« erklärt, inspiriert und angeführt von Farbigen- und Latino-Familien, die gegen die Zwangsvollstreckung ihrer Häuser kämpfen.
Der Streik hat viele Gruppen inspiriert, den Kampf gegen die Unternehmen und das »eine Prozent« fortzusetzen.
In den Tagen nach dem Streik nahmen die »Farbigen Mütter der 99 Prozent« unsere kleinen Kinder zu einem Teach-in mit und marschierten anschließend zu einer der großen Banken. Dort skandierten sie: »Es ist nicht fair, zahlt Euren Teil!« Am nächsten Tag gab es eine Aktion der »Jugendlichen ohne Papiere«, um die Öffentlichkeit auf die Investitionen der Banken in Abschiebe- und Internierungslager für MigrantInnen aufmerksam zu machen. Studierende der Universität von California versuchten, ein Occupy-Camp in Berkeley einzurichten, und trafen auf harte Polizei-Gewalt. Die Studierenden rufen als Antwort nun zu einem campusweiten Streik auf. Überall im Land stehen Occupy-Camps vor der Räumung, aber Oakland wurde zu
einem Symbol des Volks-Widerstands und für die Stärke dieser Bewegung. In den Wochen vor dem Streik versuchten mehrere große Städte, darunter Denver, Chicago und Atlanta, die Occupy-Camps mit Gewalt zu räumen – aber nach dem Streik wurde es erstmal ruhig, weil die Regierungsverantwortlichen nun überlegen, was jetzt zu tun ist.
Der Oakland-Streik hat geholfen, eine Brücke zu bauen zwischen der Arbeiterbewegung und der Occupy- Bewegung. Vor dem Streik haben die Gewerkschaftsvorstände (und andere AktivistInnen) das Camp aus der Distanz beobachtet, unsicher, wie sie mit der wachsenden Bewegung umgehen sollten. Die Occupy-Bewegung galt lange als Bewegung ohne klare Ziele und langfristige Strategie. Die Vorfälle von Polizei-Brutalität haben geholfen, die unterschiedlichen Gruppen zusammenzubringen und alle wachzurütteln. Die Polizei arbeitet für das »eine Prozent« und schützt deren Eigentum und Kapital – die »99 Prozent« müssen zusammen aufstehen, um den Unterschied deutlich zu machen. Kalifornien ist die Heimat von mehr Milliardären pro Einwohner als jeder andere Bundesstaat in den USA, und die Hälfte von ihnen lebt in der Gegend um Oakland.
Der Streik war ein großer Sieg für alle, die sich für soziale Gerechtigkeit einsetzen. Er brachte viele unterschiedliche Organisationen zusammen, Menschen und Agenden, aber alle unter dem gleichen Slogan: aufzustehen gegen die Gier der Unternehmen. Viele Menschen denken nach und sprechen über das unfaire ökonomische System, das dem »einen Prozent« so viel gegeben hat, während »99 Prozent« leiden. Als Mutter und Community-Aktivistin bin ich guter Hoffnung, wenn ich sehe, dass mehr und mehr Leute involviert sind. Sicher stehen wir vor großen Herausforderungen, aber Occupy hat mehr neue Energie und Leben in die Bewegung für soziale Gerechtigkeit gebracht als irgendetwas anderes zuvor in unserem Leben.
Übersetzung: Nadja Rakowitz
* Kimi Lee war Mitgründerin und Leiterin des Garment Worker Center in Los Angeles, das gerade sein zehnjähriges
Bestehen feiert, und arbeitet heute für das Movement Strategy Center.
erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 11/11
express im Netz unter: www.express-afp.info, www.labournet.de/express