Eine echte Revolution?

Zur Entwicklung in Tunesien

in (14.02.2011)

Nelken, Orangen, Jasmin – was blüht als nächstes? Klar ist: Die Illusion eines ruhigen Hinterlands der globalen Kapitalen ist zerstört. Aufgebrochen ist auch die ebenso naive wie hartnäckig gepflegte außenpolitische Devise, dass es der Diktatoren bräuchte, um die Mullahs zu verhindern. Stimmt, da gibt’s ja auch noch eine Bevölkerung, wie von FAZ bis Westerwelle jetzt bemerkt wird...

Über den Charakter und die Reichweite der Veränderungen in Tunesien gehen die Einschätzungen allerdings auseinander. Was in Teilen lediglich als Sturz eines korrupten Despoten und Einführung demokratisch-parlamentarischer Verhältnisse begriffen wird, gilt anderen als »soziale Revolution«, so etwa Hugo Braun, Mitglied der Attac AG Internationales (jw, 19. Januar 2011). Für Murat Çakir, Mitarbeiter der RLS Hessen, stellt sich hingegen die Frage: Wer ist das Volk, wer sind die Träger dieser Umwälzungen, und wo liegen die Grenzen des Revolutionseifers? Zur Rolle des in sich gespaltenen Gewerkschaftsdachverbands UGTT dokumentieren wir im Anschluss Auszüge aus einer mehrteiligen Analyse von Bernard Schmid, erschienen im Labournet Germany.

 

Die aufregende Entwicklung in Tunesien hat die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf Nordafrika und die arabischen Länder gelenkt. So, wie es scheint, sind die arabischen Regime in heller Aufregung, und in den Herrscherhäusern blickt man mit Sorge nach Tunesien. Es ist keine Frage, die Entmachtung eines seit 23 Jahren sein Volk und das Land ausplündernden Tyrannen ist eine gute Nachricht und ein berechtigter Grund für die Angst der arabischen Herrscher. Doch Zweifel und die Suche nach den richtigen Fragen scheinen mir trotzdem angebracht.

Obwohl ich mich über die Flucht des ehemaligen Tyrannen Zine el-Abidine Ben ’Ali mitsamt seiner Verwandtschaft sehr gefreut habe, haben mich doch ein Foto in der FAZ und die scheinheiligen Begrüßungsrituale der westlichen Medien sowie der EU-Eliten etwas stutzig gemacht. Auf dem Foto sah man modern angezogene TunesierInnen vor einem Panzer, mit einem Soldaten lächelnd posieren. Und in den verschiedenen deutschen Blättern konnte man Berichte über die positiven Statements der EU-Eliten lesen. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton ließ verlautbaren, dass »bei der EU derweil über ein Maßnahmenpaket beraten« werde, »um den demokratischen Wandel in Tunesien zu unterstützen«. Der Schweizer Bundesrat beschloss wiederum, das Vermögen Ben ’Alis im Land zu blockieren.

So weit, so gut. Doch da ich sehr argwöhnisch bin, wenn EU-Eliten von »Demokratisierung« eines Drittlandes sprechen, frage ich mich: Warum wollen deutsche und europäische AußenpolitikerInnen, die jahrzehn-telang dem diktatorischen Treiben des Tyrannen Ben ’Ali zugeschaut und ihn, wie Jan van Aken (MdB, Die Linke) zu recht meint, »als einen verlässlichen Partner angesehen haben«, auf einmal »den demokratischen Wandel« unterstützen? Warum will eine EU, deren »Nachbarschaftspolitik« einen »Regime Change« in Interessengebieten nur insofern vorsieht, als es um die Öffnung von Märkten und geostrategische Vorteile der EU geht, wobei die Ausgestaltung der Staatsgewalt durchaus unerheblich sein kann; die im Innern Demokratieabbau betreibt; die ihre Außenpolitik militarisiert und die zur Genüge bewiesen hat, dass Menschenrechte und Demokratie nur Lippenbekenntnisse sind, einem Volksaufstand »zur Hilfe eilen«?

Doch stellen wir die eigentliche Frage: Kann man die Entwicklung in Tunesien als »eine echte Revolution« bezeichnen, wie etwa der Gründer und frühere Präsident der »Arab European League« Dyab Abou Jahjah meint? Und stimmt die Feststellung der Kommunistischen Arbeiterpartei Tunesiens, dass »die Armee in ihrer Gesamtheit aus dem Volk besteht«?

Ein früherer Genosse von mir und heutiger Kolumnist der türkischen Tageszeitung Taraf, Nabi Yagci meint in seinem Kommentar, dass »die entscheidende Kraft für den Wechsel in Tunesien die Mittelschichten« seien. Als Laie in Sachen Tunesien bin ich auf Internetnachrichten angewiesen – und diese scheinen die These Yagcis zu bestätigen. Die wirtschaftliche Entwicklung des Landes, der wachsende Wohlstand der modernen Mittelschichten, aber vor allem ihr Wille, an politischen Entscheidungsprozessen des Regimes, in die sie durch die »Bestechungen« Ben ’Alis ›nur‹ kooptiert waren, tatsächlich teilzuhaben, waren die Katalysatoren der jüngsten Entwicklungen. Doch die eigentliche Frage ist, wo die Grenzen des »Revolutionseifers« dieser Mittelschichten liegen werden.

Sicher hat auch die Armeeführung eine wichtige Rolle gespielt. Doch ob man deshalb die Auffassung der KP teilen muss, derzufolge die Armee offenbar nicht nur aus Volk besteht, sondern unbedingt auch vor diesem steht? Die Armeeführung ist keineswegs der Garant einer wirklichen demokratischen Transformation. Eher ist anzunehmen, dass die Armee (und damit das Fuß-Volk der wehrpflichtigen einfachen Soldaten) eingesetzt wird, falls es zu einem Ausufern des Volkszorns käme. Ich teile die Auffassung einiger türkischer Linken, dass die Motive für die Parteinahme der Armee zugunsten des Wechsels darin liegen, dass das Regime Ben ’Alis sich nicht auf die 35000-köpfige Armee, sondern auf den Staatssicherheits- und Polizeiapparat mit seinen 170000 Mann gestützt hat. Sowohl die Zahl der »zivilen« Staatsschützer als auch deren Privilegien waren ein Grund für die Unzufriedenheit der tunesischen Generalität.

Die Weigerung der Armeeführung, die Befehle von Ben ’Ali gegen die Bevölkerung auszuführen, ist sicherlich der Grund für die Sympathien des Volkes, aber keinesfalls eine Garantie dafür, dass die Armee ihre Gewehrläufe ›zum Schutze des Staates‹ nicht irgendwann gegen die eigene Bevölkerung richten könnte. Die hinnehmende Haltung der Generalität in den letzten zwei Jahrzehnten sollte diesbezüglich zu denken geben. Hinzu kommt noch die Tatsache, dass die alten Eliten immer noch die Schlüsselpositionen besetzen und Teile der Opposition durchaus geneigt sind, die alten Minister und deren Apparat, die »mit ihrer Erfahrung in der schwierigen Übergangsphase gebraucht werden« (Abdelaziz Messaoudi, ein Funktionär der Oppositionspartei »Ettajdid«), in der neuen Regierung zu halten. Zwar ebben die Proteste gegen diese Haltung nicht ab, aber man kann sicher sein, dass die bürgerlichen Kräfte auch in Zukunft, aus »Staatsräson« freilich, an alten Kadern der RCD (Rassemblement constitutionnel démocratique) festhalten werden. Die Austritte Ministerpräsident Mohammed Al-Ghannouchis und einiger anderer Partei- und Staatsfunktionäre aus der RCD Ben ’Alis sind ein sicheres Zeichen dafür.

Daher gibt es für die EU-Eliten keinen Grund zur Sorge. Sie wissen, dass sowohl die Armeeführung als auch die neuen (Mit-)Machthaber sowie die sie tragenden bürgerlichen Kräfte an einem kapitalistischen Entwicklungsweg unter den Diktaten des Westens festhalten werden. Sicher, ein Tyrann wurde entmachtet. Aber von einer Revolution kann noch keine Rede sein – eher von einer Veränderung, deren Grenzen absehbar sind. Noch haben die Volksmassen, die Armen und abhängig Beschäftigten ihr letztes Wort nicht gesprochen. Doch würden sie sich mit dem derzeit Erreichten begnügen, würden sie nur der Fortführung ihrer Sklaverei unter einer neuen Herrschaftsform zustimmen. Der alte Wein wäre in neue Schläuche gegossen.

Kurzum, lassen wir die Volksmassen in Tunesien sprechen. Dann werden wir mit Sicherheit wissen, womit wir es zu tun haben und welche »Lektion« in Tunesien gelernt wurde (Karin Leukefeld, jw, 19. Januar 2011).

 

http://murat-cakir.blogspot.com/

 

Anm. d. Red.: Der Beitrag wurde am 21. Januar verfasst, also vor dem Rücktritt der Übergangsregierung.

 

 

erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 1/11

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