Die NATO und Russland – Durchbruch an Sankt Nimmerlein?

Der NATO-Gipfel in Lissabon vom November vergangenen Jahres hatte eine doppelte Zielstellung: Verabschiedung einer neuen Paktstrategie und Einleitung einer neuen Ära in den Beziehungen zu Russland. Dabei lag auf der Hand, dass die Aussichten auf eine nachhaltige Verbesserung des Verhältnisses zu Russland nicht unwesentlich davon abhängen würden, was das Neue Strategische Konzept (NSK) dazu an Substanz zu bieten haben würde. Eine Messlatte dafür hatte Madeleine Albright, ehemalige US-Außenministerin und Chefin der NATO-Arbeitsgruppe zur Vorbereitung des NSK, vorgegeben, als sie im Mai 2010 erklärte: „Es ist eindeutig im größten Interesse der NATO, gemeinsam mit Moskau eine Euro-Atlantische Sicherheitsarchitektur zu erarbeiten." Damit hatte sie eine ambitionierte, gleichwohl den Erfordernissen der Gegenwart und Zukunft entsprechende sicherheitspolitische Aufgabenstellung umrissen, wie sie auch auf den Seiten dieser Zeitschrift schon wiederholt begründet worden ist.
In Lissabon hatte es zeitgleich auch einen NATO-Russland-Gipfel gegeben, zu dem Präsident Dmitri Medwedjew eigens angereist war. Und unmittelbar im Anschluss an die Verabschiedung des NSK hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel die Erwartung geäußert, „dass der Kalte Krieg nun wirklich vorbei ist". Es wäre zu wünschen, dass sie Recht hat. Denn wie schnell die antirussischen Ressentiments des Westens bisher reaktivierbar waren und dass sie nach wie vor internationale Spannungen jederzeit zusätzlich befeuern können, hatte vor nicht allzu langer Zeit ja erst der Georgienkrieg gezeigt. Da waren der potenzielle Sicherheitspartner Russland reflexartig an den Pranger gestellt und die Zusammenarbeit im NATO-Russland-Rat auf Eis gelegt worden, ohne zuvor auch nur den Versuch zu unternehmen, den kriegsauslösenden Vorgängen auf den Grund zu gehen.
Jetzt also der Durchbruch in Lissabon? Der Blick auf die Substanz fällt, um es vorwegzunehmen, mehr als ernüchternd aus. Zwar wird im NSK recht apodiktisch die Feststellung getroffen, dass „die NATO für Russland keine Bedrohung darstellt". Ob Moskau diese Sicht allerdings teilt, muss sich erst noch zeigen? Auf die Pläne der Bush-Administration jedenfalls, Raketenabwehrsysteme in Polen und Tschechien zu dislozieren, hatte man noch ziemlich allergisch reagiert. Und erst Anfang 2010 hatte die NATO im Geheimen ihre militärischen Eventualfallplanungen zur Verteidigung Polens auf die Baltischen Republiken ausgeweitet, wie Otfried Nassauer, der Leiter des Berliner Informationszentrums für Transatlantische Sicherheit, aus Veröffentlichungen von Wikileaks herausgefiltert hat. Das scheint Moskau zwar bisher gelassener zu nehmen, doch ist das NATO-Verhalten auch in diesem Fall kaum geeignet, Bedrohungsperzeptionen auf der anderen Seite weiter abzubauen.
Im NSK heißt es weiter, dass man künftig „eine echte strategische Partnerschaft zwischen Russland und der NATO" anstrebe. Diese Aussage liegt zwar semantisch etwa auf dem Niveau der eingangs zitierten Albrightschen Einlassung, aber alles, was im NSK dann an halbwegs Konkretem folgt, ist die Einladung an Russland, sich an einem nunmehr europaweit konzipierten Raketenabwehrsystem zu beteiligen - an einem Vorhaben, das auf Pressekonferenzen in Lissabon und in nachfolgenden Kommentierungen gleich zum „wichtigsten gemeinsamen Projekt" zwischen der NATO und Russland in den kommenden zehn Jahren hochstilisiert wurde.
Auf die höchst fragwürdigen sicherheitspolitischen, militärischen und finanziellen Implikationen eines solchen Raketenschildes ist in der vorangegangenen Ausgabe dieser Zeitschrift eingegangen worden. Hier nun soll die Frage gestellt werden, ob dieses Vorhaben zumindest geeignet erscheint, eine neue Ära der Beziehungen zwischen der NATO und Russland einzuläuten. Die Frage ist meines Erachtens zum gegenwärtigen Zeitpunkt klar zu verneinen.
Zwar hat Präsident Medwedjew in Lissabon erstmals expressis verbis die grundsätzliche Bereitschaft Russlands zur Kooperation in Sachen Raketenabwehr erklärt, und NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen nannte dies einen „beispiellosen Schritt", aber Medwedjew hat zugleich den Standpunkt seines Landes deutlich umrissen: „Wir werden gleichberechtigt beteiligt, oder wir werden uns nicht beteiligen." Nicht wenige Fachleute zweifeln jedoch grundsätzlich an der Bereitschaft der NATO, vor allem der USA, neue Raketenabwehrtechnologien gemeinsam mit Russland zu entwickeln, also zu teilen, Moskau ein Mitspracherecht bei Dislozierungsentscheidungen einzuräumen oder gar in entsprechende künftige Kommandostrukturen einzubeziehen, um nur einige zentrale Aspekte für gleichberechtigte Zusammenarbeit zu nennen.
Zum Spaltpilz könnte bereits die in Lissabon vereinbarte erste Stufe der Kooperation werden: die Erstellung einer gemeinsamen Bedrohungsanalyse. Dazu soll es in diesem Jahr ein Treffen der Verteidigungsminister beider Seiten geben. Bekannt ist, dass Moskau die im Westen vorherrschende Auffassung vom Iran als einem aggressiven, unberechenbaren Gegner, vor dessen möglicher Nuklearrüstung und dessen ballistischen Raketen man sich schützen müsse, nicht teilt. Zwar hat auch Russland kein Interesse an einem nuklear bewaffneten Iran, setzt aber weit mehr als der Westen auf einen kooperativen Ansatz, um dieses Ziel zu erreichen.
Der eigentliche Sprengstoff in Sachen Raketenabwehr aber liegt an anderer Stelle. In einer Analyse dessen, was bisher über das westliche Vorhaben bekannt geworden ist, schreibt Otfried Nassauer: „Sobald um 2018/20 Raketenabwehrsysteme im Norden Europas stationiert werden, die Interkontinentalraketen abfangen könnten, greifen diese in die strategische Stabilität ein und gefährden möglicherweise Moskaus gesicherte Zweitschlagsfähigkeit." Und Medwedjew hat in Lissabon mindestens zwischen den Zeilen vor genau einem solchen Szenario und vor gegebenenfalls daraus sich ergebender russischer Nachrüstung bei Offensivwaffen gewarnt!
Raketenabwehr, das sollte man sich in diesem Kontext ins Gedächtnis rufen, steht von jeher unter dem aus der traditionellen Abschreckungslogik geradezu zwangsläufig folgenden Generalverdacht, die Illusion vom möglichen vergeltungsfreien Kernwaffeneinsatz gegen einen nuklearen Gegner zu nähren. Und schlimmstenfalls ist das Streben nach Raketenabwehr Ausfluss der Zielstellung, atomare Erstschlagsfähigkeit zu erreichen, also die strategischen Offensivwaffen des Gegners angreifen, damit seine Zweitschlagsfähigkeit im Wesentlichen eliminieren und seine Restvergeltung mittels Raketenabwehr ausschalten zu können. Das wäre der Sieg im Nuklearkrieg. (Zumindest theoretisch - wenn auch nur so lange, bis die durch den Einsatz hunderter oder Tausender von Kernsprengköpfen verursachte globale ökologische Katastrophe bis hin zu einem nicht auszuschließenden nuklearen Winter auch den Sieger eingeholt haben würde.)
Fazit: Das Projekt einer europaweiten Raketenabwehr birgt eher das Potenzial in sich, die Gegnerschaft zwischen NATO und Russland neu und nachhaltig zu beleben, als sie endgültig zu überwinden. Da könnte durchaus der Geist von Lord Ismay, des ersten NATO-Generalsekrretärs, Pate gestanden haben, der bereits vor mehr als 60 Jahren eines der Grundziele der NATO auf den Punkt gebracht hatte: „to keep ... the Russians out".
Vor diesem Hintergrund ist es um so bedauerlicher, dass die NATO sich einmal mehr als unfähig oder unwillig erwiesen hat, einen wirklichen strategischen Paradigmenwechsel im Verhältnis zu Russland zu vollziehen. In Beobachtung der Erarbeitung des NSK hatte sich Christoph Bertram zu Wort gemeldet, der die Materie kennt wie wenige andere. Er war bereits vor Jahrzehnten Direktor des Institutes für Strategische Studien in London (IISS) und bis vor wenigen Jahren Chef der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), des sicherheitspolitischen Denktanks der Bundesregierung. Er schrieb: „Neuen Schwung könnte nur eines bringen: die Erklärung des Westens, Russland in das Bündnis aufzunehmen, wenn Moskau es will und die dafür erforderlichen Bedingungen erfüllt." Ein solcher Schritt, so Bertram, gäbe der NATO „die Chance, zur umfassenden Sicherheitsstruktur zwischen Amerika, Europa und Russland zu werden". Mit Blick auf den inneren Zustand des Nordatlantikpaktes allerdings hatte Bertram zugleich befürchtet, dass das NSK „in Bezug auf Russland nichts Neues bringen" werde. Er hat Recht behalten, und das steht auch für seine Prognose zu befürchten: „Den Schaden davon wird die NATO haben."