Die Solidarnosc wird 30

Sozialismus ja - Entstellungen Nein!

Vor dreißig Jahren entstand nach zähen Streiks an der polnischen Ostseeküste die Solidarnosc. Was ist aus ihr geworden?

Es ist ein wiederkehrendes Spektakel, bei dem sich die Requisiten kaum verändert haben. Nur die ArbeiterInnen wurden kontinuierlich aus den Hauptrollen der Erzählung vom Fall des Kommunismus verdrängt. Die WerftarbeiterInnen dürfen aus Sicherheitsgründen an dem Spektakel nicht einmal mehr als Zuschauer teilnehmen. „Ich will nicht, dass Gewerkschafter mit Solidarnosc-Fahnen auf Polizisten einprügeln und umgekehrt." Mit diesen Worten rechtfertigte bereits vor einem Jahr der neoliberale Premierminister Donald Tusk (Bürgerplattform) die Verlegung der Feierlichkeiten zum „Sturz des Kommunismus" am 4. Juni 1989, dem Tag erster halb-freier Wahlen in Polen, von Gdañsk auf die Wawel-Burg in Kraków. Aristokratisches Ambiente ist eine Frage der Klasse.

Schließlich ließ sich dort der in Smolensk bei einem Flugzeugabsturz verunglückte rechts-konservative Präsident Lech Kaczyñski samt Gattin in einem Alabastersarkophag, neben Königen, zur endgültigen Ruhe bringen.

Als vor fünf Jahren Jean Michel Jarre in der Danziger Lenin-Werft seine „Shipyard overture (Industrial revolution)" intonierte, protestierten vor der Werft die ehemalige Kran­füh­rerin Anna Walentynowicz, und andere AktivistInnen, ohne die es die erste Arbeiter-Soli­dar­nosc nicht gegeben hätte.

In diesem Jahr lädt man vor­sichtshalber zum Mega-Konzert nicht in die Werft, sondern nach Katowice ein. Aus Deutschland reist Alphaville an, um ihren Smash-Hit „Forever Young" anzustimmen.

Was ist heute übrig geblieben von der einst so starken und progressiven Solidarnosc und ihrer Hauptforderung einer Selbstverwaltung im Produktionsprozess?

Kaum jemand erinnert sich, dass die Kämpfe in Polen Teil einer breiteren europäischen Bewegung waren, an dessen vorläufigem Ende das Kapital allerdings am längeren Hebel saß. Durch die Zerschlagung der Solidarnosc konnte auch je­ne Sprengkraft der Selbstver­waltungsidee neutralisiert werden, die noch im September 1980 (z.B.) 100.000 FIAT-Mitar­beiterInnen zu einem 35-Tage dauernden Streik unter dem Motto „Danzica, Stettino, lo stesso sará a Torino'" (So wie in Danzig und Stettin wird es auch in Turin!) bewegte.

In dem Land, wo einst 80% der Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert waren und in den 1980er Jahren ca. 10 Millionen Polen Mitglied in einer der Sektionen der Solidarnosc waren, sind heute weniger als 10% aller Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert.

Anfang 1990 war jeder zehnte Arbeiter Mitglied der Solidar­nosc, heute ist dies nur noch jeder Fünfzigste. Seit der kapitalistischen Transformation stieg die Zahl der Arbeitslosen und beträgt heute ca. 10.6 % der erwachsenen Gesamtbevölke­rung. Nach Angaben des staatlichen Statistischen Hauptam­tes (GUS) leben 59% der Polen unter dem Sozialminimum, weitere 12% unter dem Existenzminimum. Ein Indikator für den Wohlstand einer Gesellschaft und soziale Ausgrenzung bzw. Integration und Partizipation in der öffentlichen Sphäre.

Mein Redaktionskollege Zbys­zek Kowalewski war in den 1980er Jahren ein Theoretiker der Taktik des „Aktiven Streiks", bei dem die Arbeiterinnen durch Betriebsbesetzun­gen die Produktion selbst übernehmen sollten. Demokratie wurde von jenen AktivistInnen der ersten Solidarnosc als Arbeiter-Selbstverwaltung und soziale Kontrolle der Planwirtschaft verstanden. Sie wollten Arbeiterselbstverwaltung ge­nau dort, wo das Kapital nur die Regeln des freien Marktes anerkennt. In Punkt VI des berühmten Danziger-Abkommens vom August 1980 heißt es: „Die wirtschaftliche Reform soll sich auf der Grundlage einer wachsenden Selbstständigkeit der Betriebe und der tatsächlichen Beteiligung der Arbeiterselbstverwaltungen an ihrer Leitung vollziehen."

Kowalewski war zugleich maßgeblich an der Erarbeitung des Selbstverwaltungsprogramms der Solidarnosc während des berühmten I. Delegiertenkon­gresses im Herbst 1981 beteiligt. Ein Projekt der Neugestaltung der Staatsform als Alternative zum Real-Sozialismus und Kapitalismus, bei dem Ar­beiterräte die vergesellschafteten Betriebe leiten. Die Arbei­terräte sollten in einer speziellen Kammer des Parlaments repräsentiert werden.

Im Programm, das auf der I. De­legier­tenversammlung der Soli­dar­nosc im September 1981 angenommen wurde, verlangten die GewerkschafterInnen einen „vergesellschafteten Wirt­schaftssektor, der von Arbeitskollektiven verwaltet wird". Diese sollen „von Betriebsräten und operativ durch einen von diesen Räten gewählten Direktor vertreten" werden. Doch das Referendum darüber wurde durch die Verhängung des Kriegsrechts unterlaufen.

Es waren die von General Jaru­zelski geschickten Panzer, die eine sozialistische Erneuerung zermahlen haben. Kowalewski sieht den Anfang vom Ende der Solidarnosc gerade in der Trennung der Gewerkschafts-Funktionäre von der Basis, als die Solidarnosc in den Folgejahren des Kriegszustandes in den Untergrund getrieben wurde.

Als 1988 die Streiks und Proteste zum letzten Mal in der Volksrepublik aufflammten, wurden sie von den Eliten der Bewegung abgewürgt um die Verhandlungen mit der Nomenklatura am Runden Tisch nicht zu gefährden. Aus dem Elektriker Walesa wurde ein Staatspräsident, aus Gewerkschaftsfunktionären Bankdirektoren und Unternehmer.

Es verwundert kaum, dass die einstigen ProtagonistInnen der Arbeiterbewegung bis heute zerstritten sind. Als sich 2003 in dem Danziger Marine-Museum die Gewinner und Verlierer der Transformation bei einer Konferenz gegenüber standen wurde die Atmosphäre dick. Für die Opfer sozialer Verwerfungen scheint sich in Polen nur Radio Maryja zu sorgen, während die post-kommunistische Linke mehr darauf erpicht ist ihren unstandesgemäßen Stallgeruch abzustreifen. So kann die Analyse der Niederlage für viele nur eine nationalistische Erzählung werden.

In ihrer Vision stimmt alles. Wa­lesa soll ein Agent der polnischen Staatsicherheit sein und kam im August 1980 in die Werft mit einem Motorboot des Geheimdienstes, um den Streik zu beenden, er sei nicht, wie er behauptet, über das Tor gesprungen. Als Walesa gegenüber seinen einstigen WeggefährtIn­nen einen versöhnlichen Ton anstimmte, stammelte der selbsternannte „Kreuz-Retter vom KL Auschwitz" Kazimierz Switon etwas von „Ausverkauf  Polens an jüdische Rassisten".

Für sie ist klar, nicht der Kapitalismus ist das Problem ihrer Niederlage, sondern Walesa als IM Bolek und antipolnische Mächte. Es ist das Verdienst von Lech Kaczyñski, dass er all jene durch die Post-Solidarnosc abgestoßenen Arbeiterkäm­pferInnen unter seinem Projekt der sog. IV. Republik vereinigen konnte. Und gerade deshalb ist das Flugzeugunglück von Smolensk für sie ein weiterer Beleg für die antipolnische Verschwörung.

Im Gegensatz dazu spricht Ko­walewski nicht von Verschwörung, sondern von Real-Politik kapitalistischer Staaten, die die soziale Bewegung in Polen während des Kalten Krieges im Kampf gegen den Kommunismus instrumentalisiert haben. Kowalewski gelangte durch Zu­fall kurz vor dem Kriegszustand auf Einladung der französisch­en Gewerkschaft CFDT nach Paris, wo er bis Ende der 1990er Jahre bleiben musste. Er leitete dort das Soli-Komitee der Soli­darnosc, der französische Philosoph Michel Foucault, der in den 1980er Jahren selbst Hilfsgüter nach Polen fuhr, wurde zum Kassenwart der gesammelten Spendengelder.

Unterdessen wurden andere, die ihren Arbeiter-Stallgeruch in einer höheren Liga abstreifen wollten, als „verantwortliche" Aktivisten vom Kapital auf­ge­sogen. „Plötzlich tauchte Jerzy Milewski, ein Aktivist der Danziger Solidarnosc auf und lud alle Emigranten zu einem Treffen nach Brüssel ein.

Zu meiner Verwunderung verlangte Milewski dort, dass wir einen unterwürfigen Brief an Ronald Reagan unterschreiben", erzählt Kowalewski. So wurden „verantwortungsbewusste" Gewerkschafter aussortiert und die Soli-Komitees auf Linie gebracht. Eine der ersten Entscheidungen der gleichgeschalteten Komitees war die Begra­bung der Beschlüsse des I. De­legiertenkongresses.

Begründet wurde dass mit dessen „sozialistischem" Charakter, der potentielle Unterstützer abschrecken würde. „Jedenfalls die, auf welche nun gesetzt wur­de. Befreundete AnarchistIn­nen, haben uns nach der Zerschlagung des Soli-Komitees in Paris in einem besetzten Haus ein neues Büro eingerichtet", fügt Kowalewski hinzu.

Unterdessen fand eine Emanzipation von den Basisbeschlüs­sen auch durch die im Untergrund tätige Temporäre Koordinations-Kommission (TKK) der Solidarnosc statt. Im September 1985 veröffentlichte sie ihre „Wirtschafts-Postulate" bei denen nichts mehr über Vergesellschaftung, demokratische Planung oder Arbeiterselbst­verwaltung als Grundlage der Staatsform einer neuzugrün­denden Republik zu finden war. Zwar wurde noch nicht offen zur Privatisierung aufgerufen, doch eröffnete es den Weg zur Restauration des Kapitalismus. So konnte das Programm der Solidarnosc von Zbigniew Bu­jak, Bogdan Borusewicz und anderen Mitgliedern des TKK, die im Untergrund außerhalb jeder demokratischen Legitimierung durch die Gewerk­schaftsbasis agierten, sabotiert werden.

Die heutige Solidarnosc ist nur ein Zombie der Vergangenheit. Sie hat mit den Kämpfen von damals kaum noch etwas zu tun.

Kamil Majchrzak

Kamil Majchrzak ist Redakteur der polnischen Edition der LE Monde Diplomatique und des ostdeutschen telegraph.

Artikel aus Graswurzelrevolution Nr. 351, Monatszeitung für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft, 39. Jahrgang, September 2010, www.graswurzel.net