Zur Genealogie und Praxis des Migrationsregimes

Migration gehört zu den meist umstrittenen Begriffen unserer Gegenwart. „Humanitäre Migration", „Zwangs- und Kriegsmigration", „Arbeitsmigration" und nicht zuletzt „zirkuläre Migration" sind keineswegs „neutrale" Bezeichnungen für die raümlich-kulturelle Mobilität von Menschen, weil sie zugleich mit herrschenden Vorstellungen von Kontrolle oder Immobilität einhergehen. Wann, wo und wie eine Migrantin „humanitär" auswandert, zwischen „Herkunfts-" und „Ankunftsland" arbeitssuchend „zirkuliert", ist weniger selbstverständlich, als man spontan zu glauben scheint. Der Philosoph Alain Badiou (2003: 126) hebt hervor, dass der „Name" „Einwanderer" in Wirklichkeit auf konsensuelle Weise dazu gedient hat, den „Namen" „Arbeiter" zu verdecken und aus dem Raum der politischen Repräsentation auszuschließen. Die Geschichte und Gegenwart der Migrationen ist zu allererst ein bevorzugtes Schlachtfeld nationalstaatlicher Definitionsmacht. Aber auch in der sozialwissenschaftlichen Migrationsdebatte herrscht keine Einigkeit darüber, wie man jenseits dieses populistischen Schlachtfeldes über Migration reden kann. Der Begriff des Migrationregimes stellt einen listigen Waffenstillstand dar. Bis heute ist es schlecht bestellt um eine Theorie der Migration, die jenseits klassischer Annahmen über die steuernden Effekte von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt arbeitet, ohne dabei auf systemische Weise vorzugehen. Migrationssysteme betonen die Zentralität politischer, ökonomischer und rechtlicher Strukturen gegenüber den individuellen oder kollektiven Praktiken der Migration. In der aktuellen Migrationsforschung (vgl. Pries 2007) wird von den „kumulierten" Effekten der Migration gesprochen, die sich nicht allein auf externe Faktoren, seien es politische oder ökonomische, zurückführen lassen, sondern auf die historische Praxis der MigrantInnen selbst. Dieser Primat migrantischer Subjektivität ist der Ort einer Intervention, die politisch mit dem Ansatz der Autonomie der Migration assoziiert wird und methodologisch mit der Fundierung der Kategorie des Migrations- und Grenzregimes korespondiert. Der Begriff des Regimes, so meine These, stellt einen begrifflichen Rahmen zur Verfügung, der es ermöglicht, Aspekte der Praxis der Autonomie der Migration in einer Theorie derselben zu artikulieren und so zugleich eine ökonomistische oder systemische Herangehensweise zu vermeiden. (Vgl. Karakayali/ Tsianos 2005) In der neueren Diskussion gewinnt der Begriff des Migrationsregimes zunehmend an Bedeutung, da er offensichtlich dem Bedürfnis entgegenkommt, den von den Sozialwissenschaften konstatierten Verlust (national)staatlicher Souveränität begrifflich Geltung zu verschaffen. Wo vorher oftmals von Migrationssystemen die Rede war, ermöglicht der Regime-Begriff eine Vielzahl und Gleichzeitigkeit von AkteurInnen einzubeziehen, deren Praktiken zwar aufeinander bezogen sind, nicht aber in Gestalt einer zentralen (systemischen) Logik geordnet, sondern vielfach überdeterminiert sind. Dies erscheint mir wichtig, da mit dem Systembegriff in der Migration vor allen Dingen implizit oder explizit der Primat der Kontrolle über die Praktiken der Migration gesetzt wird. Als unsere Forschungsgruppe TRANSIT MIGRATION dafür angetreten ist, mit dem Regimebegriff eine der Feldforschung adaquäte Analytik der turbulenten Migrationsgegenwart in Südosteuropa zu entwerfen, mussten wir allerdings nicht das Rad noch mal entdecken. (Forschungsgruppe TRANSIT MIGRATION 2007) Anfang der neunziger Jahre gab es die politisch/publizistischen Interventionen der legendären Berliner Forschungsstelle für Flucht und Migration (FFM), die u.a. mit den militanten Untersuchungen von Helmut Dietrich an den damals Schengener deutsch-polnischen Grenzen den Begriff des Regimes in den deutschsprachigen No Border Aktivismusjargon einführten. Mit dem Begriff des Regimes, so Helmut Dietrich, bestand die doppelte Möglichkeit, einerseits die reaktionäre Semantik des Totalitarismus mit der Verfolgung von MigrantInnen in Europa zu asoziieren, anderseits die postnationale Dimension von Kontrollpraktiken auf den Punkt zu bringen. Mit dem Regimebegriff wird das Verhältnis zwischen den Handlungen der MigrantInnen und den Agenturen der Kontrolle nicht als einfaches Subjekt-Objekt Verhältnis gedacht. Der Fokus der Regimeanalyse liegt auf den neuen Ebenen der Aushandlung, die mit der Installierung eines Regimes entstehen und die nicht mehr einfach nur intergouvernemental sind. Das Regime ist damit auch ein relativ autonomer Prozess, den die Akteure, die ihn installierten, für eine Zeit lang als objektives Regelwerk akzeptierten, dem sie sich unterwarfen. Deutlich wird so auch, dass der Regimebegriff auf der Ebene internationaler Politik (der Staaten) das Problem reflektiert, dass es keinen äußeren Gewaltmonopolisten geben kann, also keinen Weltstaat. Das Regime ist damit ein partieller, virtueller Quasi-Staat für bestimmte Segmente international verflochtener politischer und ökonomischer Prozesse. Es geht also um das Problem der Verstetigung von Verhältnissen, die ihrer Natur nach als äußerst instabil angesehen werden müssen, von denen aber nicht angenommen werden kann, dass sie exogen, also etwa vom Staat gesichert oder gesteuert werden. Die „Regularisierung" sozialer Verhältnisse wird vielmehr als Resultat sozialer Auseinandersetzungen begriffen, die in immer wieder zu erneuernden (oder umzuwerfenden) institutionellen Kompromissen münden. Von einem Migrationsregime zu sprechen, legt daher nicht nur nahe, den systemischen Aspekt eines solchen Verhältnisses eher gering einzuschätzen, sondern auch, eine Perspektive einzunehmen, in der Migrationen nicht als zu steuernde Naturabläufe erscheinen. Für den Kontext der Migrationstheorie muss man also von einem doppelten, vielleicht auch multiplen Begriffsimport sprechen. Zweifelsohne lässt sich nicht die gesamte Bedeutungsvarianz des Regimebegriffs auf unsere Fragestellung übertragen. Was den Regimebegriff so bedeutsam macht, ist, dass er es erlaubt, Regulationen als Effekte, als Verdichtungen von sozialen Handlungen zu verstehen und sie nicht funktionalistisch vorauszusetzen. Eben dieser Umstand wird in der Diskussion um Governance of Migration praktisch ignoriert. Zwar reflektiert der Governance-Ansatz die Souveränitätsproblematik, ebenso wie systemische Ansätze jedoch können MigrantInnen und die Migration darin nur als Objekte konzeptualisiert werden. Eine (Migrations-)Regimeanalyse müsste aus unserer Sicht zunächst einmal gewährleisten, analytisch den Standpunkt der Migration einzunehmen, ohne ihn als methodologischen Individualismus einzusetzen und zu verabsolutieren. Es geht uns dabei also weniger um individuelle Taktiken bzw. die „Kunst des Handelns" (Michel de Certeau) gegenüber machtvollen Apparaten der Regierung. In einem Migrationsregime treffen AkteurInnen aufeinander, die in sozialwissenschaftlichen Begriffen gesprochen, ein asymmetrisches Macht-Verhältnis eingehen. Ohne Zweifel sind daher jene AkteurInnen, die Grenzpolizei, Schengener Informationssystem und Ausländergesetze durchsetzen können, in Begriffen einer Macht-Ökonometrie maßlos überlegen. Das Produkt dieser Überlegenheit ist aber keineswegs die proklamierte Immobilität, wie etwa Untersuchungen zur empirischen Realität der mexikanisch-US-amerikanischen Grenze oder unsere zeigen. Die Produktivität eines Grenzregimes besteht in der Regulation der grenzüberschreitenden Arbeitsmobilität. Denn im Gegensatz zum Fordismus, wo Arbeit und ihre Reproduktion in der Regel auch für MigrantInnen am gleichen Ort gewährleistet war, kommt in der transnationalen Migration das Spezifische ihrer Regulation zum Ausdruck: die flexible Abkopplung der Arbeit von ihren Reproduktionsorten, Ressourcen und Rechten.Diese Perspektive stellt gerade weniger die Abschottung und mehr das Moment der Entrechtung als zentrale Funktionsweise des Grenzregimes in den Mittelpunkt. In der aktuellen Diskussion über die Analyse von Grenzregimes liegt der Schwerpunkt entweder in der akribischen Deskription der Grenzkontrollpolitiken angesichts wachsender irregulärer Migration oder in der Rekonstruktion der gegenwärtig zu etablierenden inter-, trans- und parastaatlichen Erfassungsinstanzen. Nicht nur stellt sich die Frage ob man mit einer solchen Perspektive nicht den migrationspolitischen Mythos der Kontrollierbarkeit von Migrationsprozessen reifiziert. Darüber hinaus besteht die Gefahr, die Analyse kontrollpolitischer Praktiken von dem Aspekt ihrer Produktivität für die Migrationsregimes, in denen sie eingebettet sind, abzukoppeln. Der Regime-Begriff verweist vor allem darauf, dass Grenzen nichts statisches sind, sondern sozialen Dynamiken und Kräfteverhältnissen unterliegen - wobei die Migration selbst eine maßgebliche Kraft über das Grenzgeschehen darstellt. Doch auch die Technologien und Programmatiken, die halbjährlich auf den Ministerratstreffen im Kampf gegen illegale Migration verabschiedet werden, müssen zur Praxis gebracht werden. Die institutionalisierte Durchlässigkeit der Grenze in den Ländern der europäischen Peripherie z. B. ist kein Symptom südländischer Mentalität, sondern Ausdruck von Lücken, die durch Kräfteverhältnisse entstehen. (Vgl. Karakayali/ Tsianos 2005) Die Mechanismen zur Kontrolle der Migration bzw. der grenzüberschreitenden Mobilität erzeugen ihre Klandestinisierung und damit die Bedingungen der Ausbeutung der MigrantInnen. Es ist kein Zufall, wenn illegalisierte MigrantInnen vor allem in solchen Sektoren arbeiten, die auf ultra-flexible Arbeitskräfte angewiesen sind, auf die sie entlang saisonaler und konjunktureller Bedarfstrukturen zurückgreifen können, gerade weil die MigrantInnen durch Formen transnationaler Mobilität auf verschiedene Reproduktionssysteme Zugriff haben. Die Illegalisierung der Migration ist demnach nicht der Ausdruck eines finsteren Plans zur Überausbeutung eines zu schaffenden Dienstleistungsproletariats. Mehr noch: Ausbeutung ist nicht gleichzusetzen mit Unterwerfung oder der Auslöschung der Subjektivität der MigrantInnen. (Vgl. Mezzadra 2007) Die Asymmetrie äußert sich vielmehr darin, dass die Mechanismen zur Kontrolle von der Praxis der MigrantInnen umkodiert und unter der Hand zu solchen werden, innerhalb derer Mobilität (und Arbeit) immer noch möglich ist, jedoch unter transnationalisierten ausbeuterischen Bedingungen. In diesen Kräfteverhältnissen, die wir als Praktiken des Migrations- bzw. Grenzregimes bezeichnen, spielen die Handlungen der MigrantInnen und ihrer Schlepper ebenso eine Rolle, wie die relative Autonomie der NGOs gegenüber ihrer staatlichen und intergouvernamentalen Auftraggeber, aber auch die temporäre Festsetzung der Migration in den Lagern sowie die unmittelbaren ökonomischen Interessen der Deregulierung. Ein Migrationsregime ist also eine Einrichtung, die die permanente Transformation von Mobilität in Politik erzeugt. Es stellt keine unabhängige Variable im glatten Kontinuum von Mobilität und ihrer Kontrolle dar. Man könnte argumentieren, dass Migration selbst das dynamische Moment, die viralartige Störung in einem Regime der Migration ist. Es ist also eine theoretische Figur erforderlich, innerhalb derer die soziale Bewegung der Migration als eine Größe in einem Kräfteparallelogramm auftauchen kann.


Dieser Text erscheint in BILDPUNKT. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Wien, Frühling 2010 „Regimestörungen".

Literatur
Badiou, Alain (2003): Über Metapolitik. Zürich/Berlin.

Karakayali, Serhat/Tsianos, Vassilis (2005): Mapping the Order of New Migration. Undokumentierte Arbeit und die Autonomie der Migration. In: Peripherie. Zeitschrift für Politik und Ökonomie in der Dritten Welt, 97/98, Münster, S. 35-64.

Mezzadra, Sandro (2007): Kapitalismus, Migrationen, Soziale Kämpfe. Vorbemerkungen zu einer Theorie der Autonomie der Migration. In: Pieper, Marianne/ Atzert, Thomas/ Karakayali, Serhat/ Tsianos, Vassilis (Hg.): Empire und die biopolitische Wende, Frankfurt a. M., S. 179-194.

Pries, Ludger (2001): Internationale Migration. Bielefeld.

TRANSIT MIGRATION Forschungsgruppe (2007): Turbulente Ränder: Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas. Bielefeld.