Die Karte Europas und die Ströme der Migration[1]

„Governance of Migration“ und die herausgeforderte Gemeinschaft zwischen Kollaps und Überschuss.

Mapping hat schon längst Eingang in die neue Regierungsrationalität von Schengen gefunden. Die Karte, die in Kooperation zwischen ICMPD, mit Europol, der berühmt berüchtigten Frontex und den am MTM-Dialog  (Dialogue on Mediterranean Transit Migration) beteiligten Staaten hergestellt wird, ist eine internetgestützte digitale Karte, die versucht, den afrikanischen und mediterranen Raum der Migrationsbewegungen in „Echt-Zeit“ kartographisch zu repräsentieren und ein digitales Archiv der relevanten Daten von Migrationsströmen anzulegen. Spätestens nach der Lektüre der  so genannten „I-Map“ der Migrationen nach Europa, kann man sich des Verdachtes nicht mehr erwehren, dass die avancierten konzeptiven Ideologen des Schengener Prozesses heimlich -wie  ihre Israelischen Kriegsführungskollegen- Deleuze und Guattari lesen. Ströme, Informationen über „local points of Entry“, antizipative Kontrolldiagramme, visualisieren den gegenwärtigen Formwechsel des wissensbasierten Regierens der Migration in Europa. Wie wird also Migration in Europa regiert? Wer regiert sie hier eigentlich? Für welche Regierungsrationalität steht das Konzept der „Governence of Migration“? Ich werde versuchen am  Exempel der intergouvernametalen Organisation ICMPD (www.icmpd.org), die Scheinheiligkeit des propagierten „sanften Regierens“ mit ihrem wahren Gesicht zu konfrontieren. Meine These ist, dass sowohl die Migration als soziale Bewegung als auch die Institutionen der Regierung der Migration in ihrer turbulenten Kommunikation als Systeme nicht statisch bleiben, sondern sich wechselseitig verändern. Governence of Migration steht für den postliberalen Versuch diese migrationspolitische Spannung im Europäisierungsprozess zu rekuperieren [wiedererlangen]. Diese Regierungsweise macht gerade die flexible Anpassung der migrantischen Subjektivierungsweisen im Kontext des bordercrossings zum Gegenstand ihrer Steuerung und nicht zur Zielscheibe ihrer hermetischen Abschottung. The making of Schengen ist die Geschichte der Steuerung dieser Anpassung. Doch wie wir spätestens mit dem Komplexitäts-Theorem John Urrys wissen, ein System „vergisst“ nichts und mikrosoziale Ereignisse können bis zum Kollaps oder einer Produktion von Überschuss kumulieren. Die herausgeforderte Gemeinschaft schlägt zurück.

II.

Europäisierung wird meist synonym verstanden mit Supranationalisierung, wobei im Sinne eines „Nullsummenspiels“ mehr EU mit weniger nationalstaatlicher Souveränität gleichgesetzt wird. Einige neuere politikwissenschaftliche Ansätze, insbesondere aus dem Kontext der Governance-Forschung, machen allerdings deutlich, dass die EU, ihre politische Architektur und Praxis ebenso wenig mit klassischen Konzeptionen aus der Ära des modernen Nationalstaats zu fassen sind, wie die Nationalstaaten in diesem Prozess unverändert bleiben. Sie sprechen von „network state“, was das Fehlen eines eindeutigen Entscheidungszentrums, die Rolle von nicht-staatlichen Akteuren sowie die gestiegene Bedeutung horizontaler Aushandlungen zum Ausdruck bringen soll; oder von der EU als „multi-level system of governance“, um die spezifische mehrdimensionale und dezentralisierte Form der Entscheidungsstrukturen zu bezeichnen. Mit dem Begriff der Governance ist eine Kritik an solchen Vorstellungen verknüpft, nach denen der Staat ein „erster Beweger“ sei und als Ausgangspunkt gesellschaftlicher Handlungen verstanden werden könnte. Um genau diese Problematik dreht sich die gesamte Debatte um „Governance of Migration“. Mit dem Leitspruch „Governance statt Government“, wurden die Lehren aus der Regimetheorie, wie sie in den Internationalen Beziehungen entwickelt wurden, mit normativem Gehalt versehen. Von Nationalstaaten nicht oder nicht mehr zu steuernde gesellschaftliche Prozesse sollten von einer Vielzahl politischer Akteure in einem netzwerkartigen Zusammenwirken bearbeitet werden. Zwar war transnationale Migration lange vor der Governance-Debatte Gegenstand intergouvernementaler und transnationaler Institutionen (wie etwa der IOM und dem UNHCR), sie erlangt aber erst seit den neunziger Jahren mittels der konzeptiven Netzwerkarbeit solcher Akteure wie der IMPCD den Status eines genuin globalen Phänomens. Kennzeichnend dafür ist unter anderem die Debatte um ein „General Agreement on Movements of People (GAMP)“, die von Mitarbeitern der IOM angeführt wird. Zwar wird die Frage der „Regierung der Migration“ unter der Prämisse gedacht, dass der Staat darin nicht der zentrale Akteur ist. Die Akteursperspektive aber, die nach meinem Dafürhalten entscheidend ist, ist in ihr schlicht nicht vorhanden. Wie in der klassischen Perspektive von „Government“ sind die MigrantInnen nur Objekt von Governance. Sie sind die „abwesende Ursache“ des Governance-Diskurses. Ihre Praxis der alltäglichen, irregulären und massenhaften Grenzüberschreitung stellt „Government“ und damit die Vorstellung in Frage, Staaten als Instanzen der Regulation könnten die Ströme der Migration auf- und zudrehen wie einen Wasserhahn. Eben dieser Umstand wird in der Diskussion um Governance praktisch ignoriert. Zwar reflektiert der Governance-Ansatz die Souveränitätsproblematik im Zeichen des Post-nationalen, jedoch können MigrantInnen und die Migration darin nur als Objekte – -bestenfalls als „coded Flows“- konzeptualisiert werden.

III.

Eine besondere Rolle für die neue gouvernementale Regierungsweise, wie ich sie im Folgenden am Beispiel der ICMPD skizzieren werde, kommt den Kategorien „Wissen“ und „Flows“ zu. Der Begriff der Flows, Terminus Technicus der Schengener Regierung der Migration, verweist hier auf die „Wahlverwandtschaft” der schnellen Multidirektionalität der  Subjektivierungsweisen der Migration mit den wissens- und netzwerkbasierten Technologien der gouvernamentalen Akteure ihrer Regulation. ICMPD steht paradigmatisch für diesen wissensbasierten Formwechsel der Technologien der Regierung der Migration innerhalb des Schengener Kontrollraumes. Die Produktionsweise solcher Akteure,  ist weniger die operative Abwehr des Transit, sondern vielmehr die Etablierung transnational ausgerichteten antizipativer Strategien gegen die instabilen, temporären Taktiken des Bordercrossings. Denn gerade die Sicherheitsvorkehrungen des Schengener Grenzraums bringen diese temporären Taktiken der Mobilität hervor: neue Lösungen des Transits, die wieder aufgegeben werden, sobald sie von den Grenzhütern durchschaut und als Probleme der Grenzporösität recodiert werden. Mit dem Begriff der liminalen Institutionen will ich diese institutionalisierten „vertikalen Aggregate“ bzw. „Assemblagen“ (vgl. Papadopoulos/Tsianos, 2007 bzw. Saskia Sassen) des Beobachtens und Eingreifens innerhalb von Migrations- und Grenzregimen -wie der ICMPD - fokussieren. Ihre Produktivität besteht darin, die Zirkulation entlang der Grenz-Zonen in Zirkulations-Zonen abgestufter Souveränität zu verwandeln um ihre Porösität zu regieren. Während die nationale Souveränität eine doppelte Homogenisierung des Raums anstrebte – eine serielle Homogenität innerhalb eines Territoriums und eine Homogenisierung der Rechte darin –, lässt sich der Raum der liminalen Institutionen als ein Regime der Differenz auffassen, bei dem die Unterschiedlichkeit von Territorien sowie die Einzigartigkeit von Grenz-Orten und Routen permanent von der Fluidität und Flexibilität der klandestinisierten Mobilitätsströme und Netzwerke als kontingente „border zone“ hergestellt werden. Die Absicherung transitorischer Grenz-Räume erfolgt durch Überwachungs- und Kontrollprozeduren, deren Ziel darin besteht, die Fragmentierung des Schengener Raumes territorial zu fixieren und separierte Zonen herzustellen, die sich durch eine jeweils spezifische soziale Kohäsion von Raumpraktiken auszeichnen sollen. Verwirklicht wird somit eine skalierte differentielle Homogenität, die mit einer Enthomogenisierung von Rechten einhergeht.  Das ist das postliberale Geheimnis der Schengener Produktivität!

IV.

Der Budapester Prozess ist einer der ältesten multinationalen Konsultationsprozesse im Bereich der Migrationspolitik in Europa, der seit Beginn der 1990er Jahre osteuropäische Länder zu inkludieren versucht. Der Budapest Prozess, der seinen Namen nach der in Budapest 1993 stattgefundenen ersten Konferenz erhielt, geht mittlerweile in sein vierzehntes Jahr. 1993 hat die ICMPD die Rolle des sog. Sekretariats übernommen und organisiert seitdem auf Anregung bzw. Rücksprache mit den beteiligten Regierungen oder auch der eigenen Rationalität folgend vor allem themenspezifische Workshops. So hat die ICMPD mit dem Budapester Prozess eine ideale konzeptiv-koordinierende Funktion für die „Harmonisierung“ der osteuropäischen Länder im Zuge des Beitrittsprozesses eingenommen.  Mit ihren ca. 50 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen ist die 1993 gegründete und mittlerweile von 30 Regierungen getragene ICMPD im Vergleich zu den beiden bekanntesten  großen und , global agierenden Organisationen im Bereich der Migrationspolitik, der Internationalen Organisation für Migration (IOM) und dem United Nation High Commissioner for Refugees (UNHCR), eine eher kleine intergouvernementale Institution (vgl. TRANSIT MIGRATION 2007). Dennoch flankiert sie auch gegenwärtig die offizielle EU-Migrationspolitik und moderiert den Anpassungsprozess sowohl in Richtung Afrika als auch nach Zentralasien und dem Fernen Osten, wie er in den jüngsten Mitteilungen der Europäischen Kommission zum „Global Approach to Migration“ (Co(2005) und Co(2007)247, 16.5.2007) ausgeführt wird. Dies bewerkstelligt sie vor allem mit Hilfe politischer Technologien, dem sogenannten „Budapest Prozess“ oder dem sogenannten „MTM-Dialog“ in Richtung Afrika. Bei beiden Maßnahmen handelt es sich um institutionalisierte Serien von informellen Konferenzen und Workshops, die sich der klassischen Gewaltenteilung entziehen und Herkunfts-, Transit- und Zielländer der globalen Migrationsbewegungen um einen Aushandlungsprozess vereinigen. Hierbei interessieren mich vor allem die einzelnen Wissenspraktiken und –strategien und  wie spezifische Wissensinhalte und -formen, Wissenssubjekte und -objekte  legitime Geltung erhalten, wie sie  objektiviert werden und normative Kraft verliehen bekommen: wie also in diesem anscheinend politikfernen Raum Politik als Governance gemacht wird und postliberale Macht entsteht.  Die Geschichte der Europäisierung lässt sich dann auch aus der Perspektive dieser Organisationen wie der ICMPD anders erzählen (vgl. ausführlicher dazu Hess, 2008). Aus ihrer Perspektive waren es vor allem die ersten 1990er Jahre, die von ihnen als „Krisenjahre“ der staatlichen Migrationspolitik in Europa beschrieben werden, die der Europäisierung einen Schub verliehen. Die Krise evozierte ihre Gründung sowie einen politischen Paradigmen- und Praxiswechsel der unter dem Stichwort „global migration management“ firmiert, mit dem sie aufs Engste verbunden sind (IOM 2004). So wurde die ICMPD 1993 auf Initiative der Schweiz und Österreichs unter der Leitung des Schweden Jonas Widgren ins Leben gerufen, um die staatliche Regulationsfähigkeit auszubauen. Jonas Widgren, der als Vordenker der „Migrationsmanagementpolitik“ gilt, stellte die Phase nachdrücklich als eine dar, in der staatlicherseits eine große Ideenlosigkeit herrschte, wie mit den neuen, turbulenten Migrationswirklichkeiten im kriegs- und krisengeschüttelten Europa umzugehen sei. Vor allem das bis dato die Einwanderungspolitiken dominierende Asylsystem war in den Augen der neuen Migrationspolitik-Architekten „überdehnt“. Doch ein neues „System“ jenseits reiner Abschottungsdiskurse war gerade angesichts migrationsfeindlicher Stimmungen in der Mitte der nationalen Gesellschaften nicht zu sehen. Eine zentrale Antwort, wie sie Widgren und andere Vordenker damals einforderten, war die Migrationspolitik radikal zu europäisieren und von einer nationalstaatlichen Zero-Einwanderungspolitik zu einem globalen „migration management“ zu kommen. Als paradigmatische Akteure für diesen Politikwechsel boten sich die ICMPD oder die IOM selbst an, da sie u.a. nicht auf die nationalen wahlpolitischen Kalküle der Innenministerien Rücksicht nehmen müssten. Widgren sprach den nationalstaatlichen Regierungen noch 2002 den Willen zu einem „sound migration managment“ ab. Angesichts des weiter bestehenden „mysterious lack of a rational government response to these anticipated migration challenges“(2002, 7) plädiert er für „governance” an Stelle von „government”. Doch auch die EU-Kommission, sucht eine neue Art und Weise des „Europäischen Regierens“ zu erfinden. In ihrem Weißbuch von 2001 unter dem Titel „European Governance“ formuliert die Kommission detailliert, was sie darunter versteht: Angesichts der globalen Herausforderungen, so die Kommission, sei Politik „dezentralisiert“, auf „multiplen Ebenen“, in „Netzwerken“, unter „strategischer Partizipation der Zivilgesellschaft“ und der starken Einbeziehung von „Experten-Wissen“ zu gestalten. In diesem Sinne ist die Multiplizierung von Akteuren, die Privatisierung und gar NGOisierung der Migrationspolitik, als Ergebnis und zugleich als Voraussetzung der Europäisierung der Migrationspolitik zu beschreiben. Dabei sind es gerade jene postliberalen wissensgenerierenden Organisationen wie die ICMPD oder die IOM, die die dynamischen Effekte der Europäisierung mitproduzier(t)en.  Das Selbstverständnis der ICMPD ist dabei paradigmatisch für den im Rahmen der EU-Netzwerkpolitik immer wichtiger werdenden wissensbasierten Akteurstyp. So wirbt die ICMPD auf ihrer Webpage damit, „to provide targeted timely services in migration governance to states and their organisations responsible for the design and implementation of migration policies. ICMPD achieves these goals with competent, highly motivated, dedicated as well as customer and team oriented professionals” (www.icmpd.org). Sie umfasst meist Politikberatung oder Trainings im Bereich „capacity building“, vor allem bezüglich Gesetzgebung, Infrastrukturentwicklung, Technologieeinsatz, Verwaltungs- und Polizeipraxis. Zum anderen organisieren und moderieren sie als Sekretariat jene regionalen Konsultationsprozesse wie den Budapest Prozess, die sich über eigene Mitgliedsbeiträge der daran teilnehmenden Staaten finanzieren sollten.  Dabei scheint insbesondere die Behauptung, als „Dienstleistungsinstitution“ per definitionem nicht Politik zu machen, sondern auf der Grundlage von neutralem, wissenschaftlich produziertem Wissen zu agieren, Organisationen wie die ICMPDin den Augen der Adressaten ihrer Politik auszuzeichnen und sie zu einem „neutralen“ Akteur zu machen. Dies erlaubt ihr nicht nur, dort zu agieren, wo der EU außenpolitisch, diplomatisch (noch) die Hände gebunden sind. So öffnen sich der ICMPD gleichermaßen nach Norden und Süden, zu NGOs und zu Regierungen die Türen, womit sie in der Governance-Architektur des „Mehrebenensystems“ zu einem der zentralen „transversal“ agierenden Akteure wird. Dabei beschreibt „transversal“ die Richtung des Wissenstransfers, der nicht mehr nur im Sinne des top-down Prinzips gestaltet wird, sondern im Kontext von Governance gezielt bottom-up bzw. querliegend und „criss-cross“, sprich die verschiedenen Steuerungsebenen diagonal durchschneidend, also „transversal“, organisiert wird. Während die ICMPD gegenüber einzelnen „Klienten“-Staaten als Wissensdienstleister, Berater, Trainer und Moderator auftritt, sieht der Geschäftsführende Direktor die Funktion gegenüber der EU vor allem darin bestehen, dass sie als „Früherkennungssystem“ und „path finding mission“ diente, d.h. als Laboratorium neuer Kontrollpolitiken. In Kontext dieser Politikstrategie sind u.a. die Rückübernahmeabkommen oder die Definition von „sicheren Drittstaaten“ zu nennen, welche alle unter der Ägide der ICMPD konzipiert und begleitet wurden, die einen „Cordon sanitaire“ zunächst um die EU-Staaten produzierten, der sich nun immer weiter Richtung Herkunftsländer bewegt (vgl. Hess/Tsianos 2007).

V.

Migration und Mobilität, der Mob, die Menge, die Geschichte der anderen ArbeiterInnenbewegung, begleiten die Geschichte des Souveränismus und stellen beständige Grenzen und Konfliktfelder der kapitalistischen Konstitution selbst dar. Die zu kontrollierenden, hydraköpfigen  Momente verändern sich historisch durch Kämpfe und Inkorporationen. Ich habe versucht diese Inkorporationen am Politiktypus der ICMPD zu veranschaulichen. Es scheint so, als sei die Migration ein Problem des modernen Nationalstaats gewesen und befinde sich dagegen im absoluten Einklang mit der postmodernen Welt der Ströme und der Entgrenzungen. Dabei ist das Gegenteil richtig: Zwar spielen Vertreter des Kosmopolitismus oder des Postnationalismus auf der Klaviatur des Globalismus und behaupten, der freie Strom der Waren müsse auch für die Ware Arbeitskraft gelten. Aber die neuartige postliberale Schengener Souveränität, besteht gerade darin, dass die postnationalen Ströme der Migration durch die Rekodierungsarbeit der postliberalen liminalen Institutionen der Porocratie, zu regierbaren Blöcken geformt werden, die zu einer neuen Kerbung des Raums in Europa führen. Wir können deshalb heute noch nicht wissen, welche Formen der Inkorporation der Migration sie morgen und übermorgen zur Wirkung bringen werden und wo sie sich ereignen: in London, Ceuta oder in Paris.

 In einem Text von Jean-Luc Nancy mit dem Titel „die herausgeforderte Gemeinschaft“ entwickelt er einen geradezu paradox anmutenden Gedanken, den ich hier etwas ausführlicher zitieren will: „Der gegenwärtige Zustand der Welt ist kein Krieg der Zivilisationen. Sondern ein Bürgerkrieg: der Krieg im Inneren einer Bürgerschaft, einer Zivilität, einer Städterschaft (citadinite), die im Begriff sind, sich bis an die Grenzen der Welt auszudehnen und infolgedessen bis ans Äußerste ihrer eigenen Konzepte. Am äußersten Ende zerbricht ein Konzept, zerspringt eine überdehnte Figur, kommt eine Kluft im Vorschein“ (Nancy, 2007, S.9). Ich möchte diese etwas kryptischen Sätze in einen anderen, in unseren Kontext übersetzen[2]. Unser situierter Kontext ist Europa und seine Grenzen, sind die Orte und die Konflikte der inkorporierten Ereignisse der Migration. Die Kluft, die im Inneren Europas alltäglich und allnächtlich zum Vorschein kommt, sind die Grenzen Europas, die Grenzen der Bürgerschaft als die Grenzen der Demokratie in Europa (Balibar/Mezzadra, 2006). Wir beginnen unsere Übersetzung mit der Frage nach dem Inneren einer Bürgerschaft, welche im Begriff ist, sich bis an die Grenzen der Welt auszudehnen. Die Antwort dazu liefert uns Nancy erst am Ende seines kleinen Textes. Es ist die kommende Gemeinschaft, der Raum also, in dem sich das Innere einer Bürgerschaft bis an die Grenzen dieser Welt ausdehnt. Es ist der Raum einer kommenden Gemeinschaft, die im Krieg, im Bürgerkrieg mit dieser Welt ist, es ist der Raum der Globalisierung, der Raum, in dem es kein Außerhalb mehr gibt, der Raum, an dessen äußeren Enden ein Konzept, die Figur dieser neoliberalen Globalität zerbricht und eine Kluft - eine Spannung innerhalb der Rekuperation - zum Vorschein kommt. Diese kommende Gemeinschaft hat ein Gesicht, einen Akzent, eine Hautfarbe, eine postkoloniale Geschichte: Es ist die Gemeinschaft der nach Europa Kommenden, der schon lange Angekommenen, die Gemeinschaft der an den Grenzen Europas einen Krieg, in den Vorstädten Europas einen Bürgerkrieg innerhalb der Grenzen der Demokratie in Europa Führenden. Stellen wir uns diesmal gemeinsam dieser Herausforderung!

 

Literatur:

Bojadzijev, Manuela, Isabel Saint-Saens (2006):  „Borders, Citizenship, War, Class: A Discussion with Etienne Balibar and Sandro Mezzadra”, in new formations, 01/2006, p. 10-30.
Nancy, Jean-Luk (2001): „La Communaute affrontee”. Editions Galillee, Paris.

Papadopoulos, Dimitris, Vassilis Tsianos (2007): „How to do sovereignity without people? The subjectles conditions of postliberal Power“, Boundary 2, 34, (1), 135-172.

TRANSIT MIGRATION (Hg.) (2007): „Turbulente Ränder“, Transcript Verlag, Bielefeld

Hess, Sabine (2008): „Man schickt doch nicht eine Ersatzbraut zum Altar.“ Zur Konfliktualität der neuen Formen des Regierens in und von Europa. In: Gisela Welz u.a. (Hg.): „Projekte der Europäisierung“. Frankfurt am Main, forthcoming


[1] Der Originaltitel lautet: „Die Karte und die Flows! „Governance of Migration“ und die herausgeforderte Gemeinschaft: zwischen Kollaps und Überschuss.“

[2] Ich beziehe mich hier auf die Konzeption einer Übersetzungspolitik von Sandro Mezzadra, die er in einem Vortrag mit dem Titel „The Labor of Translation Imagining the Politics of Translation: Beyond Communication and Articulation“ in Wien dieses Jahr gehalten hat. Sandro Mezzadra unternimmt den Versuch einer Umdefinition der gängigen Übersetzungspolitiken, damit er Übersetzung in tief greifender Beziehung zu Gewalt, Herrschaft und Ausbeutung konzipieren kann. Insbesondere arbeitet er die Möglichkeit heraus, das Kapital selbst als Übersetzung zu denken. Diese Beziehung und diese Möglichkeit weisen auf die strategische Bedeutung einer Reihe von Problemen hin, die vielfach unterschätzt werden, wenn die Übersetzungspolitik in Begriffen der Kommunikation und/oder Artikulation verstanden wird. Ich bedanke mich hier an dieser Stelle für Kommentare, Kritik und der „Übersetzungsarbeit“ bei der Entstehung dieses Textes bei Sandro Mezzadra und bei Sabine Hess, deren Forschung  zu ICMPD mich mehr als inspiriert hat, last but not least bei dem migrationsaktivistischen General Intelect Frassanito Netzwerk.