Meine schwerste Lektüre der letzten Monate: Irina Liebmanns im Blättchen
bedauerlicherweise immer noch nicht gewürdigtes Vater-Opus Wäre
es schön? Es wäre schön! Als ich es ausgelesen hatte, griff ich noch einmal
zu dem bereits im Juli 1990 bei Rowohlt erschienenen Taschenbuch
Das Herrnstadt-Dokument, herausgegeben von ihrer Schwester Nadja
Stulz-Herrnstadt. Dort stieß ich in der Fußnote 7 des Kapitels Der Prozeß
auf Josefa Slanska, Bericht über meinen Mann, Wien – Frankfurt am Main
– Zürich 1969.
Bei www.ZVAB.com stellte sich dann heraus, daß es in Deutschlands
Antiquariaten – so sie ihr Sortiment auf diese Website stellen – noch
ganze zwei Exemplare gibt. Eines genügte mir. Als Josefa Slanska, Ehefrau
des von seinen Genossen ermordeten Rudolf Slansky, inhaftiert wurde,
glaubte sie felsenfest – wie viele andere Gesinnungsgenossen in anderen
sich sozialistisch nennenden Ländern auch – an einen Irrtum. Sie
weigerte sich einfach, etwas anderes zu denken. Und mit einem Irrtum
läßt sich – nicht immer, nicht immer! – überleben. Aber was dieser Genossin,
nachzulesen in den Erinnerungen, besonders zu schaffen machte,
waren die jungen Wärter und Aufseher, die sie folterten und demütigten.
Viele von ihnen – Josefa Slanska erwähnt es mehrmals und ist immer
fassungslos – trugen an der Uniform die »Fucˇik-Medaille«. Ich habe nicht
weiter recherciert, aber es wird vermutlich so etwas wie ein »Fucˇik-Aufgebot
« gegeben haben, und die Jungfolterer hatten sich offenbar verdient
gemacht. Im Dienst »der Sache«. Und ich überlegte fortwährend,wie ich mich – gläubig und mich einen Bessermenschen dünkend – wohl
verhalten hätte, wäre mir ein »Feind« zugeteilt worden. Glücklicherweise
war ich etliche Jahre zu jung dafür.
1989/1990 wurde im Lande DDR sehr viel und rücksichtslos geredet,
geschrieben, diskutiert, offengelegt und Verbrechen Verbrechen genannt.
Eine Art Katharsis schien sich anzukündigen. Unterdessen scheinbar
alles Schnee von gestern. Inzwischen nämlich halten die Autobiographen
weite Strecken dieses Terrains besetzt. Und sie tun, was alle
Autobiographen zu allen Zeiten taten (und tun werden): Sie relativieren.
Sie reden und schreiben von den objektiven Bedingungen, von der Systemkonfrontation,
vom Sozialismus, den sie doch gewollt hatten.
Im nächsten Jahr steht uns eine Art Gedenk-Tsunami bevor. Und es
wird vermutlich unmöglich sein, ihm zu entkommen; erste Vorboten
schwappen ja bereits jetzt durch das Land. Da ein Entkommen nicht drin
ist, täten die, die seit nunmehr bald zwanzig Jahren als »Verlierer« festzustehen
haben, vielleicht gut daran, wenn sie versuchten, sich weiterhin
über ihre Sicht der Dinge und der Verläufe zu verständigen. Auch
dann, wenn diese Versuche zu einem Selbstzweck gerönnen. Denn eines
ist schon seit langem klargeworden: Sie sind immer noch dazu verurteilt,
sich in erster Linie selbst gegenseitig zuzuhören. Weil das, was in
offizieller wie offiziöser derzeitiger deutscher Geschichtspolitik und Geschichtsschreibung
als »Aufarbeitung« firmiert, mehr oder minder eine
Mogelpackung ist: Hier wird in erster Linie gar nichts akribisch und
etwa vorurteilsfrei aufgearbeitet, hier wird in der Regel vorgefaßte Meinung
»untermauert«. So daß gelegentlich beim Lesen oder Anhören derartiger
Forschungsergebnisse der Eindruck nicht ausbleibt, nicht wenige
der amtlich bestallten Aufarbeiter hätten – was ihre Denkweisen und
Methoden angeht – einst auch sehr gut an die Parteihochschule beim
Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschland oder ans
Ih-Emm-Ell (Institut für Marxismus-Leninismus) gepaßt, Ideologen sind
sich alle gleich …
Zu denen, die sich bemühen, ihrer Vergangenheit nachzuspüren,
gehört auch der Ältestenrat der Partei DIE LINKE. Der erarbeitete ein
umfangreiches Papier und überschrieb es »Anregungen zum Umgang
mit der Geschichte«. Darin kommen so unschuldige Formulierungen vor
wie »trotz beträchtlicher negativer Erscheinungen«, »selbstverschuldete
Deformationen«, »Unzulässigkeiten, Fehler und sonstige negative Handlungen
«, »mit Fehlern belastet« – kurzum: das ganze Vokabularium der
Relativierer.
Ich will nicht ungerecht sein, auch das Wort »Verbrechen« kommt vor.
Einmal. Die Analyse, schreiben die Ältesten in ihrem Dokument, müsse
»auch nach wie vor mit einer Analyse der Deformationen sozialistischerPraxis und Theorie, darunter eines nie überwundenen Demokratiedefizits,
sowie einer strikten Verurteilung jeglichen subjektivistisch oder
sonst wie begründeten Machtmißbrauchs und begangener oder zugelassener
Verbrechen verbunden sein«.
Was derlei Dokumenten nahezu durchgängig fehlt, ist ein Gefühl von
Betroffenheit, man fühlt sich statt dessen selbst als Opfer, als unverstanden,
als mißverstanden. Man fühlt sich dem Klassenfeind unterlegen.
Daß angesichts der sogenannten Defizite (ich will hier nur mal kurz
einflechten, daß das erste sowjetische Lager bereits 1922 in Betrieb genommen
wurde …) die Niederlage vielleicht nicht nur eine zwangläufige
war, sondern auch eine reale Chance bietet, die Idee des Sozialismus
zukunftsträchtig zu gestalten – so ein Gedanke hat im Papier des Ältestenrates
keinen Platz. Und etwa Betroffenheit darüber, daß ihnen (viele
der »Ältesten« befanden sich einst immerhin in herausgehobener
Position) »das Volk«, die Bevölkerung, 1989/1990 die »rote Karte« gezeigt
hat, daß sie und wir (so wir uns zugehörig wähnten) mit Schimpf und
Schande schlicht und ergreifend davongejagt worden waren – von dieser
Schande ist im Dokument erst recht nichts zu spüren.
Das fällt aber nicht weiter auf. Denn die Aufarbeiter der »anderen Seite
« arbeiten ja verläßlich zu. Und je einfacher die intellektuell strukturiert
sind (es waren ja eben so wenige dissident gewesen, daß sich später
noch für jeden und für jede ein Aufarbeitungs-Posten oder -Pöstchen
fand) und demzufolge einen Unsinn nach dem anderen über die DDR
verlautbaren, je zuverlässiger funktionieren die Relativierer. Sie brauchen
alle einander.
In einem Brief an Arnold Zweig hatte Kurt Tucholsky, auf den Sieg
Hitlers anspielend, am 15. Dezember 1935 geschrieben:
»Was ist zu tun –? Nun ist mit eiserner Energie Selbsteinkehr am Platze.
Nun muß, auf die lächerliche Gefahr hin, daß das ausgebeutet wird,
eine Selbstkritik vorgenommen werden, gegen die Schwefellauge Seifenwasser
ist. Nun muß – ich auch! ich auch! – gesagt werden: Das haben
wir falsch gemacht, und das und das – und hier haben wir versagt.
Und nicht nur: die anderen haben … sondern: wir alle haben …!«