Nun liegt es wieder einmal hinter uns: Weihnachten. Auch ohne Schnee und Frost ein schönes Fest, ein Fest der Familie, des Lichtes und der Besinnlichkeit. An diesen Tagen habe auch ich mich besonnen
und einer Denkweise abgeschworen, der ich seit meiner frühesten Jugend verhaftet war. Damals, in der von Kommunisten beherrschten Ostzone, war mir das "Kommunistische Manifest" untergeschoben worden, und seitdem glaubte ich, daß jede Gesellschaft aus Klassen und Schichten, Armen und Reichen, Ausbeutern und Ausgebeuteten besteht und die Geschichte aller bisherigen Gesellschaften die Geschichte von Klassenkämpfen ist. Doch wo Glaube ist, ist auch Zweifel. Letzterer kam, als mir das Glück zuteil und ich Bürger der Bundesrepublik Deutschland wurde und mich intensiv mit dem Grundgesetz vom Mai 1949 befaßte, in dem für alle Zeit festgeschrieben ist, daß alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind und niemand wegen seiner Herkunft benachteiligt oder bevorzugt werden darf.
15 Jahre im demokratischen und freien Deutschland haben dann das Übrige getan, um das vermaledeite Klassendenken zu überwinden. Den letzten Ausschlag gaben das erwähnte Fest und die Vorweihnachtszeit mit ihren Herz und Sinne gleichermaßen bewegenden Begebenheiten. Wem wurde nicht warm ums Herz, als am Nikolaustag über Funk und Fernsehen berichtet wurde, daß in Erfurt wieder mehr als 150 Hartz-IV-Empfänger, alleinstehende Frauen mit kleinen Renten und Kinder aus armen Familien in die Evangelische Stadt-Mission kamen, um nahezu kostenlos ein Mittagessen in drei Gängen einzunehmen? Im "Restaurant des Herzens", eingerichtet nach der Idee der französischen "Restaurants du Coeur", werden bis zum 25. Januar täglich bis zu 200 sozialschwache Gäste bewirtet. Zum Auftakt gab es Thüringer Bratwurst, Sauerkraut und Kartoffeln - alles für ganze 50 Cent. Da mußten die 450 Gäste, die zu dem unter der Schirmherrschaft der Bundespräsidentengattin Eva Luise Köhler stehenden 4. Benefiz-Dinner zu Gunsten der Organisation "Innocence in Danger" ins Berliner Ritz-Carlton-Hotel kamen, ein wenig tiefer in die Tasche greifen. Sie berappten das Tausendfache für das Essen: 500 Euro. Dafur wurde ihnen ebenfalls ein Drei-Gänge-Menü serviert (Tagliatella mit Riesengarnelen, geschmorte Kalbsschulter mit getrüffeltem Cremespinat, Grand-Marnier-Parfait mit Baiser-Sahne). In beiden Restaurationen soll es den Gästen vorzüglich geschmeckt haben.
Solche Mitmenschlichkeit beweist, daß unser Deutschland keine Klassenschranken kennt, sondern ein Hort der Nächstenliebe und der Gerechtigkeit ist. Zu dieser nun gefestigten Erkenntnis trug auch unsere Justiz bei, die ich fälschlicherweise als Klassenjustiz betrachtet hatte. Sozialschmarotzer haben vor ihr keine Chance. Eine Langzeitarbeitslose aus Baden-Württemberg hatte geklagt, weil ihr die Zahlung von ALG II verweigert worden war, auf die sie Anspruch erhob, obwohl ihrer dreiköpfigen Familie dank der Schwerbehindertenrente des Ehemanns und eines Kindergeldes monatlich 1.082 Euro zur Verfügung stehen. Das Bundessozialgericht in Kassel wies die Klage ab, da ihrer "Bedarfsgemeinschaft" nur 858 Euro zustehen und damit "schon mathematisch" keine Hilfsbedürftigkeit besteht. Ähnlich erging es dem Bundesbankpräsidenten Ernst Welteke. Beim FrankfurterVerwaltungsgericht hatte er auf eine Verdopplung seiner Frühpension von 8.000 Euro monatlich geklagt. Das Gericht entschied, daß seine Pension lediglich um rund 20 Prozent seines früheren Monatsgehaltes von 24.000 Euro aufgestockt werden muß. Nun muß er mit gerade einmal 12.800 Euro auskommen, das ist nicht einmal das 40fache des ALG-II-Regelsatzes.
Gleichermaßen streng und schichtenunabhängig gehen deutsche Gerichte gegen Straftäter vor. Der Fall Ackermann, Esser und andere ist gut bekannt. Obwohl die Konzernmanager von der Staatsanwaltschaft der schweren Untreue beschuldigt wurden, stellte das Landgericht Düsseldorf das Strafverfahren gegen Geldauflagen ein. Ackermann muß 3,2 und Esser 1,5 Millionen Euro zahlen. Dem Bankchef blieb damit 2006, Aktiengewinne nicht eingerechnet, nur ein Jahreseinkommen von kaum zehn Millionen Euro, und Esser verlor seinen Zinsgewinn aus der erhaltenen Abfindungssumme von 30 Millionen Euro. Strafe muß sein - ohne Ansehen der Person. Das zeigte auch der Fall der exakt zur gleichen Zeit vor dem Amtsgericht Berlin-Moabit verhandelt wurde. Eine 38jährige ALG-II-Bezieherin mit dem schönen Vornamen Babette fuhr mit ihrem Kleinkind mit der Straßenbahn nach Hause, mit einem ermäßigten Fahrschein, der ihr als einer Arbeitslosen nicht zustand. Als zwei eifrige Kontrolleure das feststellten, verfolgten sie sie und das schreiende Kind bis vor die Haustür und wurden dort handgreiflich, wodurch sie sich zu Beschimpfungen wie "Arschloch" und "Wichser" hinreißen ließ. Der Richter ließ Gnade vor Recht ergehen, stellte das Verfahren wegen des falschen Fahrscheines ein und verurteilte Frau Babette nur wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe von 500 Euro. Das ist 3000 mal weniger als Herr Esser bezahlen muß und noch nicht einmal das Doppelte der Summe, die ihr für einen Monat zur Verfügung steht.
Jedes dieser Beispiele bestärkt mich in der Überzeugung, daß der Gleichheitsgrundsatz in Deutschland nicht nur Verfassungsnorm, sondern gesellschaftliche Realität ist. Deshalb hatte unsere Regierungschefin Merkel selbstverständlich Recht, als sie wenige Tage nach den Urteilen von Moabit und Düsseldorf auf dem Dresdner Parteitag der CDU erklärte: "Schichtendenken beziehungsweise Klassendenken ist und bleibt uns fremd." Diese Erkenntnis war ihr auch schon früher gekommen. Drei Wochen bevor sie zur Kanzlerin gewählt wurde, hatte sie in der Katholischen Akademie in Bayern konstatiert: "Wir haben den unheilvollsten Strömungen in der Geschichte - Kolonialismus, Nationalismus, Rassismus, Klassenkampf - ein Ende gesetzt - ich hoffe: ein für allemal." Nicht ganz zufällig kam ihr das auf bayerischem Boden in den Sinn, hatte doch die CSU bereits 1976 in ihrem Grundsatzprogramm "Klassendenken und eine ausschließlich schichtbezogene Betrachtungsweise abgelehnt".
An Merkels Seite stehen viele Gleichgesinnte, natürlich auch der CDU-Generalsekretär Pofalla. In einer Rede zum Thema "Grundsätze christdemokratischer Politik" erhob er die "soziale Marktwirtschaft" in den Rang einer "Gesellschaftsordnung", um zu verkünden: "Auf diese Weise gelang es in der Bundesrepublik, Klassendenken zu überwinden und soziale Grenzen durchlässig zu machen."
Mit anderen Worten: Die Gesellschaft in der Bundesrepublik ist längst nicht mehr eine in Klassen gespaltene, sondern eine klassenlose und damit, das habe ich dem mir seiner Zeit untergeschobenen Manifest entnommen, eine kommunistische. Viele haben es nur noch nicht bemerkt.