Alles, was wir von westlichen Regierungspolitikern und aus den tonangebenden Medien über den Irak erfahren, verdreht die dortige Wirklichkeit. Das zeigt der neue Report
"War and Occupation in Iraq", den das Global Policy Forum (eine internationale Organisation mit Konsultativstatus bei der UNO) mit Unterstützung von dreißig weiteren Friedens- und Menschenrechtsgruppen zusammengestellt hat.
Der Report beklagt vor allem, daß die Eskalation der Gewalt auf ethnische Konflikte, traditionellen religiösen Haß, islamischen Extremismus oder die Einmischung von Nachbarstaaten zurückgeführt werde - auf alles Erdenkliche, nur nicht auf das Besatzungsregime. Obwohl die Besatzung die zentrale politische Realität im Irak ist, verschwinde sie im westlichen Diskurs im Hintergrund, wie auch die von den Besatzungstruppen ausgeübte Gewalt nur wenig Beachtung finde; und wenn gelegentlich über Greueltaten von Kräften des irakischen Innenministeriums berichtet werde, bleibe fast immer unerwähnt, daß gut hundert US-amerikanische "Berater" in diesem Ministerium sitzen und seine Politik maßgeblich bestimmen. Stattdessen würden erstaunlicherweise die Besatzungstruppen zu humanitären Helfern umgedeutet, denen unbedingt erlaubt werden müsse, ihre Arbeit fortzusetzen, damit sie Frieden und Stabilität in das widerspenstige Land bringen können.
Mit ihrem Report wollen die herausgebenden Gruppen dazu beitragen, das schräge Bild gerade zu rücken, indem sie die Verantwortung der Besatzungsmacht für den Großteil von Gewalt, Korruption und konfessionellen Spannungen herausstreichen. Gestützt auf umfassendes Quellenmaterial konzentriert sich der Bericht auf Verletzungen von Völkerrecht und Menschenrechten.
Dazu gehört der in westlichen Medien nahezu völlig ausgeblendete Krieg gegen die Gegner der Besatzung, der von den Besatzungstruppen mit massiver militärischer Gewalt geführt wird. Hunderte als Hochburgen des Widerstands angesehene Städte und Dörfer wurden deswegen angegriffen. Seit Beginn dieses Jahres werden die Operationen in und um Bagdad noch ausgeweitet, jeweils vorbereitet und begleitet durch tagelange massive Bombardements, so daß nachher ganze Stadtteile in Schutt und Asche liegen. Den Angriffen gehen meist die vollständige Abriegelung der Städte und die Unterbrechung der Versorgung mit Lebensmitteln, Wasser, Medikamenten voraus. In Tal Afar, westlich von Mossul, wurde mit einem 2,50 Meter hohen und 18 Kilometer langen Wall die gesamte Stadt umschlossen; nur Einwohner mit speziellen Identifikationskarten erhielten die Erlaubnis, die wenigen Durchgänge zu benutzen.
Die Besatzungstruppen verfolgen mit diesen Methoden die Absicht, die Zivilbevölkerung zum Verlassen der Städte zwingen und den Widerstand zu isolieren. Meist gibt das Gros der Bevölkerung dem Terror nach. Auf die Bleibenden nimmt das Militär dann keinerlei Rücksicht mehr, die Gebiete gelten als "Feuer frei"-Zonen, zu denen Journalisten keinen Zugang haben. Hilfskonvois wird der Zugang in die umkämpften Gebiete ebenfalls meist verwehrt.
Häufig waren sogar Krankenhäuser Angriffsziele. Einige wurden restlos zerstört, andere als Militärbasen mißbraucht. In Tal Afar blieb UN-Berichten zufolge das städtische Krankenhaus sechs Monate lang von US-Truppen besetzt. Da auch Rettungssanitäter und Ambulanzen beschossen wurden, war eine medizinische Versorgung der zahlreichen Verwundeten in den angegriffenen Städten oft kaum mehr möglich. Unterbunden wurde dadurch auch die Berichterstattung der Krankenhäuser über die Zahl ziviler Opfer und über Verletzungen, die auf den Einsatz geächteter Waffen wie Napalm oder Weißer Phosphor hinweisen.
Die vielen Proteste der irakischen Regierung gegen das rücksichtslose Vorgehen der Besatzungstruppen blieben bei den örtlichen US-Kommandeuren ohne jede Wirkung.
Die von der Armeeführung verordneten Einsatzregeln ("Rules of Engagement") geben der Vermeidung eigener Verluste oberste Priorität und lassen daher den Soldaten weitgehende Freiheiten bei der Anwendung von Gewalt. Im Zweifel bedeutet das: "Erst feuern, dann fragen." Oft führen schon geringfügig falsche Reaktionen von Autofahrern in der Nähe von Militärkonvois oder von Passanten an Checkpoints zum Schußwaffeneinsatz. Noch größer ist die Gefahr für Iraker bei Razzien.
Der Bericht spricht auch von zahlreichen willkürlichen Morden durch US-Truppen. Nur wenige Massaker werden international bekannt. Die Washington Post hat aber Militärakten über Fälle aus der Zeit bis Februar 2006 durchgesehen. Demnach wurden Tausende Iraker unter fragwürdigen Umständen getötet, doch die Militärjustiz untersuchte nur einen kleinen Teil der Fälle.
Um eigene Verluste zu minimieren, setzen die Besatzungstruppen in immer stärkerem Maße die Luftwaffe ein. Gemäß Militärangaben, die die Autoren einsehen konnten, stieg die Zahl der Luftangriffe im Jahre 2005 um das Fünffache. 2006 waren es bereits 10.500 Einsätze von Kampflugzeugen zur "Luftunterstützung", fast 30 pro Tag. Da überrascht es kaum, daß, wie eine im letzten Oktober veröffentlichte Studie ergab, bis Juni 2006 etwa 78.000 Iraker Opfer von Luftangriffen wurden. Und auch diese Gewalt nimmt zu: Im März 2007 flog die US-Luftwaffe schon durchschnittlich 48 Angriffe pro Tag.
Eine Quelle der Gewalt sind dem Report zufolge auch die irregulären Kräfte, die mit Unterstützung der Besatzungsmacht aufgebaut wurden. Dazu zählen Zehntausende kurdischer Peshmergas, die weite Teile der an das kurdische Autonomiegebiet angrenzenden Provinzen kontrollieren und US-Truppen im Kampf gegen den Widerstand unterstützen, wie auch Spezialkommandos, die aus kollaborationswilligen Angehörigen von Spezialeinheiten des alten Regimes gebildet wurden. Einige dieser Einheiten operieren offensichtlich als Todesschwadronen.
Ausführlich widmet sich der Report der willkürlichen Gefangennahme zehntausender Iraker und den Verhältnissen in den Gefängnissen, Lagern und Verhörzentren. Die Zahl der als Widerständler verdächtigten Gefangenen hat stark zugenommen. Im März des Jahres waren es nach offiziellen Angaben 18.000 in Lagern der Besatzungstruppen und 20.000 in Haftanstalten der Regierung - insgesamt viermal so viele wie im März 2005. Hinzu kommen Gefangene, die in geheimen Einrichtungen festgehalten werden. Die meisten Gefangenen bleiben - ohne förmliche Anklage - durchschnittlich ein Jahr unter fürchterlichen Bedingungen eingesperrt, über 1.300 sind schon länger als zwei Jahre gefangen. Nach UN-Angaben sind unter den Gefangenen auch zahlreiche alte Menschen und 200 Kinder und Jugendliche, die jüngsten von ihnen erst zehn Jahre alt. "Kein Iraker ist vor willkürlichem Arrest sicher", so das Fazit der Autoren. UN-Organisationen und Rotes Kreuz haben nur zu den zentralen Gefängnissen Zugang und auch dies nur eingeschränkt. Mißhandlungen und Folter gehören nach wie vor zum Alltag.
Weitere Themen des Reports sind die humanitäre Situation (er spricht von bald einer Million Todesopfern und vier Millionen Flüchtlingen), die Zerstörungen am kulturellen Erbe des Irak und der Aufbau riesiger Militärbasen.
Insgesamt beschreibt der Report eine "Landschaft massiver Gesetzlosigkeit und Gewalt" und fordert folgerichtig den raschen und vollständigen Rückzug aller Besatzungskräfte. Er appelliert zudem an die UNO und die "internationale Gemeinschaft", endlich die "Komplizenschaft des Schweigens zu beenden".
"War and Occupation in Iraq", Global Policy Forum, Juni 2007