Zur antilinken Kritik des Finanzkapitalismus am Beispiel der "Natürlichen Wirtschaftsordnung"

Die regionalen Finanzkrisen der neunziger Jahre haben ihres gehäuften Auftretens wegen rasch zu einer wachsenden Kritik des global entfesselten, marktradikalen Kapitalismus geführt.

Globalisierungskritische Bewegungen wie "Attac" sind seither einer breiten Allgemeinheit bekannt geworden.

Die neoliberalen Befürworter eines ungehemmten Konkurrenzkapitalismus sind "naturgemäß" - das heißt: ideologiemotiviert - bestrebt, soziale Forderungen nach politischer Regulierung der besonders volatilen Finanzmärkte oder sogar ins Grundsätzliche gehende Systemkritik als nationalen Protektionismus und Sozialchauvinismus fortschrittsfeindlicher Linker zu desavouieren.

In der Tat wird Globalisierungskritik aber praktisch delegitimiert, wenn sie mit nationalistischen Gruppen Positionen teilt, die strukturell oder implizit antisemitisch sind. Rassistische Verschwörungstheorien, in denen von der weltweiten Macht des jüdischen Finanzkapitals fantasiert wird, liefern zu ihrem vorgeblichen Antikapitalismus auch gleich die entsprechenden Sündenböcke mit, die es stereotyp zu bekämpfen gilt. Allerdings werden heutzutage derartige Interpretationsmuster oftmals in abgeschwächter Form vorgetragen, um sie angesichts der nationalsozialistischen Hypothek erst wieder gesellschaftlich "salonfähig" zu machen. Eine dieser äußerst umstrittenen Theorien ist die so genannte "Natürliche Wirtschaftsordnung" des Deutsch-Argentiniers Silvio Gesell (1862-1930).

Das Ziel dieses Aufsatzes besteht darin, zu klären, ob und inwieweit Gesells Theorie Anschlussfähigkeit zu antilinken Diskursen besitzt und welche Anforderungen an linke Programmatik und linke Politik hieraus erwachsen können.

Ökonomische Grundlagen der "Natürlichen Wirtschaftsordnung"
Die synonym auch als "Freiwirtschaftstheorie" bezeichnete "Natürliche Wirtschaftsordnung" (NWO) von Silvio Gesell steht von vornherein in Antithese zu marxistischer Kapitalismusanalyse. Im Unterschied zu Marx, für den das konstitutive Wesensmerkmal des Kapitalismus in der formspezifischen Beschaffenheit der materiellen Produktionsbedingungen der ökonomischen Basis besteht, steckt für Gesell der eigentliche kapitalistische Nervus rerum in der monetären Zirkulationssphäre. Gesell beruft sich damit ausdrücklich auf das Theorieerbe des französischen Sozialisten Pierre-Joseph Proudhon (1809-1865).1

Wie dieser geißelt Gesell "arbeitslose" Einkommen wie die Bodenrente der Großgrundeigentümer und vor allem die Zins- und Zinseszinseinkünfte der Rentiers, die infolge ihrer Umverteilungswirkung für die soziale Polarisierung verantwortlich gemacht werden. Dies erklärt eine gewisse potenzielle Attraktivität der Freiwirtschaftslehre für vergangene wie aktuelle kapitalismuskritische Diskurse. Der Teufel steckt aber wie meistens im Detail - oder anders formuliert: Die Wahl der (falschen) Mittel kann den Zweck entheiligen. Und dies ist bei Gesell der Fall.

Neben der Umwandlung der Bodenrente in eine "Mütterrente" (worauf ich noch zurückkommen werde) bildet Gesells eigentliche Kernforderung die Einführung eines "Verschleiß- oder Schwundgeldes" (Freigeld), dessen Hortung eine regelmäßige Entwertung (Negativzins) von jährlich etwa 5 bis 6 Prozent nach sich zieht. Dies bedeutet nichts anderes, als dass dem Geld diejenigen Eigenschaften künstlich angeheftet werden sollen, die alle anderen Waren als Gebrauchswerte besitzen. Im Grunde soll in der NWO das Geld wieder naturalisiert werden. Hierfür sind die Durchhaltekosten zu erhöhen, um das überschüssige Geldkapital von den Bankkonten in den Prozess materieller Realgüterproduktion zu pumpen. Dieser kontinuierliche Geldumlauf soll fortan jegliche zyklischen Wirtschaftskrisen ausschalten. Kapitalismustypische Probleme wie Deflation, Inflation oder Massenarbeitslosigkeit wären somit ein für allemal beseitigt, die "siamesischen Zwillinge" Marktwirtschaft und Kapitalismus endgültig voneinander getrennt.

Indem Gesell und seine alten wie neuen Interpreten aber stets nur an den Geldfunktionen herumlaborieren (speziell die Wertaufbewahrungseigenschaft hat es ihnen angetan), ignorieren sie jedwede formspezifische Geldanalyse unter den Bedingungen einer kapitalistischen Produktion samt der zugrunde liegenden sozialen Dimension. Der Frontalangriff der Gesellianer richtet sich ausschließlich gegen das Zinsen tragende Geldkapital (G - GÂ’), ohne dass jemals eine überzeugende Antwort erfolgt, wie dessen Zinszuwächse eigentlich zustande kommen.

Gesell bezieht hierzu zwar eine klare Position, wonach der "Geldzins vom Vorhandensein eines von Arbeitsmitteln entblößten Proletariats vollkommen unabhängig (ist)".2 Dies stellt allerdings eine ziemlich abenteuerliche Vorstellung dar, bei der die gesamte historische Arbeitsteilung rückwirkend zu einem reinen Geldanhängsel erklärt wird.3 Bekanntlich bilden Zinsen eine in Geld dokumentierte Forderung, die vielmehr umgekehrt durch mehrwerthaltige(!) Warengüterproduktion zu erwirtschaften ist.4 Ergo wird dem kapitalistischen Unternehmer erst durch die Aneignung des von den unmittelbaren Produzenten (Lohnabhängigen) geschaffenen Mehrwerts ermöglicht, diese monetäre Forderung überhaupt zu erfüllen. Eine totale Entkopplung von Finanz- und Produktionssphäre kann demnach nicht stattfinden, da der Zinsen beinhaltende Schuldendienst an Kreditinstitute aus den real produzierten Überschüssen finanziert werden muss.5 Und dies gilt selbst angesichts des Umstands, dass seit dem Ende des Weltwährungssystems von Bretton Woods im Zuge der anhaltenden staatlichen Liberalisierungs- und Deregulierungspolitik die Disproportionalität zwischen der Finanzsphäre und der materiellen Basisproduktion drastisch zugenommen hat. Dennoch handelt es sich aus den beschriebenen Gründen "nur" um relative Verselbständigungstendenzen des monetären Sektors.

Die einer Zinswirtschaft zugrunde liegende antagonistische Produktionsweise, also der auf der privatkapitalistischen Aneignung des Mehrwerts beruhende Gegensatz von Kapital und Arbeit, interessiert die Freiwirtschaftsanhänger hingegen nicht, werden hierbei doch ausschließlich arbeitsbezogene bzw. produktive Einkommen erzielt.

Diese Differenzierung zwischen schaffendem (produktivem) und raffendem (unproduktivem) Kapital wird von Gesell auch sozialstrukturell nachvollzogen. Folgerichtig bilden in der NWO nicht etwa kapitalistische Unternehmer vs. Lohnabhängige das eigentliche soziale Gegensatzpaar, sondern Kapitalisten und Lohnabhängige stehen als "Volk" dem Zinsen und Grundrente kassierenden Rentier gegenüber.

Es überrascht nicht, dass ein solches Ideologem leicht Zugang in den wirtschaftsprogrammatischen Teil des NSDAP-Programms von 1920 finden konnte, welches unter Punkt 11 die "Brechung der Zinsknechtschaft " forderte.6 Denn angesichts der damaligen (durch das mittelalterliche kanonische Zinsverbot historisch begünstigten) breiten Repräsentanz von Juden im Bankgewerbe kam Gesells Wirtschaftskonzept den Nationalsozialisten nur allzu gelegen, um ihrem rassistischen Antisemitismus eine zusätzliche ökonomische Begründung mitzuliefern. Auch wenn Gesells Theorie für die praktische NSWirtschaftspolitik ohne nennenswerten Belang blieb, stand die NSDAP mit ihrem so genannten "Rolandbund" freiwirtschaftlich orientierten Mitgliedern ausdrücklich offen.7

Soziale Grundlagen der "Natürlichen Wirtschaftsordnung"
Die von Gesell mit der Einführung von "Freiland" und "Freigeld" befürwortete Renaturalisierung der Wirtschaft macht keineswegs vor der Gesellschaft halt. Im Gegenteil: der "Meister" aller Freiwirte hält das Darwinsche Prinzip der "natürlichen Auslese" auch in der Gesellschaft für richtig und unverzichtbar. Seine Vorstellung von "Auslese" behält allerdings einen primär ökonomischen Anstrich: "Die Auslese durch den freien, von keinerlei Vorrecht mehr gefälschten Wettbewerb wird in der Natürlichen Wirtschaftsordnung vollständig von der persönlichen Arbeitsleistung geleitet, wird also zu einem Sichauswirken der Eigenschaften des einzelnen Menschen."8

Die heutigen Befürworter eines ungehemmten Neoliberalismus könnten dieses Bild eines "Arbeitskraftunternehmers" wohl nicht besser illustrieren: "Durch immer bessere, höhere Leistungen sucht sich der Mensch im Wettbewerb zu behaupten. Von diesen Leistungen hängt es allein ab, ob und wann er eine Familie gründen, wie er die Kinderpflege üben, die Fortpflanzung seiner Eigenschaften sichern kann."9

Bei diesem "survival of the fittest" sollen sich also möglichst nur noch die Erfolgreichen reproduzieren.

Gesells Vorstellung von einer solchermaßen wettbewerbsbestimmten sozialen Auslese wird durch ein passendes Frauenbild ergänzt: "Die so wiederhergestellte natürliche Auslese wird in der Natürlichen Wirtschaftsordnung noch dadurch besonders unterstützt, daß auch die Vorrechte bei den Geschlechtern aufgehoben sind, indem als Entgelt für die aus der Kinderpflege entstehende Mehrbelastung die Grundrente unter die Mütter nach der Zahl der Kinder verteilt wird."10

Ist Gesell also nur ein verkannter Vorkämpfer für die weibliche Emanzipation? Wohl kaum, sollen mit der umgewandelten Grundrente die Frauen doch vor allem auf ihre Rolle als Mütter festgelegt werden, deren Hauptaufgabe in der "Hochzucht" des Menschengeschlechts besteht. Gnädigerweise dürfen sie sich hierfür wenigstens noch die tüchtigsten Männer selbst aussuchen: "So wird in der Natürlichen Wirtschaftsordnung der Frau das freie Wahlrecht verbürgt, und zwar nicht das inhaltleere politische Wahlrecht, sondern das große Zuchtwahlrecht, dieses wichtigste Sieb bei der Auslesetätigkeit der Natur."11

Auf den Punkt gebracht, beruhen die sozialen Grundlagen der Natürlichen Wirtschaftsordnung auf einem ökonomischen, matriarchalisch maskierten Sozialdarwinismus.

Obschon diese Heroisierung der Frau als Mutter sowie die Blutund Boden-Politik eigentlich gut zur NS-Ideologie passten, war Gesells soziales Konstrukt für die Nationalsozialisten dennoch unannehmbar. Sein extremer Individualismus kollidierte frontal mit der nationalsozialistischen Massenideologie und insbesondere mit deren Grundsatz strikter Rassentrennung. Im Widerspruch zur späteren nationalsozialistischen Praxis erklärte Gesell die Rassenpolitik zur ureigensten Angelegenheit eines jeden einzelnen Menschen.12 "Rassenmischung " ist in diesem Konzept möglich bzw. sogar ausdrücklich erwünscht.

In Vorkenntnis seiner ökonomischen Konzeption ist dies sogar leicht nachvollziehbar, denn Gesell überträgt seinen konkurrenzdeterminierten Sozialdarwinismus nur ideologisch konsequent auf die internationale Ebene. Das internationale Freihandelsprinzip wird hierbei einfach zur leitmotivischen "Sozialpolitik" in globaler Dimension erhoben. Und dies verträgt sich sogar hervorragend mit seiner Forderung nach einem internationalen "Völkerfrieden".13 Bekanntlich gedeiht eine globale, freie Marktwirtschaft am besten unter stabilen politischen und kapitalfreundlichen Bedingungen.

Freilich ist Gesell damit weder ein "Marx der Anarchisten", geschweige denn gar ein "Akrat", der jedwede Form von äußerer Herrschaft ablehnt.14 Ein libertärer Marxismus sähe anders aus: Er würde die zugrunde liegende antagonistische Produktionsweise nicht vorsätzlich negieren, sondern als soziales Ziel die direkte Verfügungsgewalt der unmittelbaren Produzenten über die Organisation des Produktionsprozesses sowie die Selbstaneignungsweise hinsichtlich der Produktionsergebnisse beinhalten. Hinzu kommt, dass Gesells "Kosmopolitismus " doch implizit ein rassistisches Element enthält. Eine gesellschaftspolitische Umsetzung seines individuellen Rasseverständnisses würde zur allmählichen Entstehung einer globalen, neuen "Herrenrasse" führen, die allerdings (im Unterschied zu der von den NS-Ideologen propagierten) multiethnisch zusammengesetzt wäre.

Im Grunde propagiert Gesell damit nichts anderes als eine spezifische, marktradikale Elitenideologie, die "Rasse" als eine primär ökonomische Kategorie definiert.

Ein Zwischenfazit
Gesells Konstrukt einer Natürlichen Wirtschaftsordnung enthält - wie dargelegt - zentrale Ideologeme, die beträchtliche Anschlussfähigkeit zu gängigen rassistischen und antisemitischen Stereotypen besitzen.

Trotz der strukturellen Rechtslastigkeit von Gesells Theorie und ihrer realen historischen Vorbelastung ist hieraus nicht zwangsläufig zu schlussfolgern, dass alle heutigen Freiwirtschaftsanhänger ausnahmslos bewusste Rassisten und Antisemiten sein müssen. Bis-weilen erfolgt sogar eine ausdrückliche Distanzierung von den beschriebenen völkisch-biologistischen Überlegungen. Dem liegt aber häufig die irrtümliche Annahme und durchsichtige Motivation zugrunde, Gesells Lehre könnte, wenn auf ihren sozialdarwinistischen Beigeschmack verzichtet würde, in funktionaler Hinsicht eine gegenwartsbezogene antikapitalistische Theoriealternative zum Marxismus bieten. Dies ist allerdings mitnichten möglich. Hierfür wäre gerade jene Formanalyse des Geldes inklusive dessen Bezug zu mehrwerthaltiger Warenproduktion notwendig, von der alte wie neue Freiwirte bis dato nichts wissen wollen. Der theoretische Versuch, Marktwirtschaft und Kapitalismus auseinander zu dividieren, ist demnach gezwungenermaßen auf eine Umdefinierung dessen angewiesen, was Kapitalismus eigentlich ausmacht, nämlich eine gesellschaftliche Produktionsweise mit gleichzeitiger privater Aneignungsweise der Produktionsergebnisse. Nur wenn letztere ignoriert wird, lässt sich einerseits das Zinsnehmen verteufeln, privatkapitalistische Mehrwertaneignung jedoch rechtfertigen, so dass das Kapitalverhältnis als soziale Beziehung nicht mehr prinzipiell in Frage gestellt zu werden braucht.

Mit der historischen Realität hat Gesells Theoriekonstruktion ohnehin nichts gemein, haben sich doch Marktwirtschaft und Kapitalismus gleichzeitig im Rahmen des "Disembeddings" herausgebildet.

Darüber hinaus sind auch die versprochenen, volkswirtschaftlichen Positiveffekte eines Negativzinses stark anzuzweifeln. Ein beschleunigter Geldumlauf besäße in der Praxis wohl eine ähnliche Wirkung wie eine quantitative Ausweitung der Geldmenge. Gesells Geldumlaufsicherung wäre damit nichts anderes als eine künstliche Inflation, wenngleich kalkuliert und nicht uferlos. Dies könnte womöglich zwar zu steigenden Kapitalinvestitionen im materiellen Produktionssektor beitragen, entscheidend ist jedoch, welchen primären Investitionszwecken das zugeführte Kapital dient. Im Fall von Rationalisierungsinvestitionen führt dies nachweislich zu einer forcierten Freisetzung von menschlicher Arbeitskraft, lediglich bei Erweiterungsinvestitionen wäre ein Beschäftigungsanstieg zu erwarten. Hierdurch wird deutlich, dass selbst "nur" die soziale Regulierung einer kapitalistischen Marktökonomie ein deutlich komplexeres Steuerungsinstrumentarium als einen Negativzins erfordert. Dies dürfte auch der tiefere Grund sein, weshalb sich John Maynard Keynes trotz seiner positiven Bezugnahme auf Gesell (worauf die NWO-Anhänger gern extensiv hinweisen) bei der Konzipierung seiner antizyklischen Wirtschaftspolitik gegen die Einführung einer solchen "Liquiditätsprämie" entschied.

Summa summarum ist Gesells Natürliche Wirtschaftsordnung weder ein alternativer, antimarxistischer Sozialismus, noch ein vermeintlicher "Dritter Weg" zwischen Kapitalismus und Kommunismus, sondern einfach nur ein zinsloser Kapitalismus mit einer völlig ungehemmten Marktwirtschaft als Mittel zur sozialbiologischen Auslese.

Und das "liebe Geld"? Das Geld bleibt unter kapitalistischen Bedingungen, was es schon immer war - verselbständigter Tauschwert in einer gleichzeitig mit konkreten Gebrauchswerten behafteten Marktökonomie.

Herausforderungen und Konsequenzen für linke Kapitalismuskritik
Von einigen Anfangserfolgen abgesehen ist die freiwirtschaftliche Bewegung zum Leidwesen ihrer Anhänger stets nur ein gesellschaft-liches Randphänomen geblieben. Gesells Befürwortung einer auf extremem Individualismus beruhenden Wettbewerbsordnung stand trotz grundsätzlicher weltanschaulicher Nähe in eindeutigem Widerspruch zur Kollektivideologie des rechten Mehrheitsflügels der NSDAP, der sämtliche innergesellschaftlichen Konflikte mithilfe seiner "Volksgemeinschaftskonzeption " einplanieren wollte - in der somit für einen Konflikt zwischen arbeitsamem Volk und alimentierten Rentiers schlichtweg kein Platz war. Ihre völkisch-sozialdarwinistische Einfärbung und konkurrenzkapitalistischen Grundtheoreme waren dagegen für marxistisch orientierte Sozialisten gänzlich unannehmbar.

Über siebzig Jahre nach dem Tod ihres einstigen Theoriebegründers haben sich für die Freiwirtschaftsbewegung die Erfolgsaussichten dennoch aufgehellt. Die nahezu weltweite, kulturelle Hegemonie des Neoliberalismus (von dem die Gesellianer ökonomietheoretisch übrigens nur die Ablehnung von Positivzinsen unterscheidet) ist mit der Verabsolutierung eines egoistischen Individualismus verbunden, ganz ähnlich wie ihn auch Freiwirte propagieren.

Zum anderen ist mit dem Zusammenbruch der stalinistisch deformierten, europäischen Realsozialismen eine weitgehende Delegitimierung des gesamten Marxismus eingetreten.

Infolgedessen könnte Gesells Lehre heute gleich mehreren politischen Strömungen weltanschauliche Anknüpfungspunkte bieten:
erstens Wirtschaftliberalen, die den autoritären Charakter des gegenwärtigen neoliberalen Projekts als Blockade ihrer individualegoistischen Selbstentfaltung ablehnen;
zweitens desillusionierten Sozialisten, die angesichts des gegenwärtigen, finanzgetriebenen neoliberalen "Casinokapitalismus" versucht sein könnten, in der Freiwirtschaftslehre eine praxistaugliche Kapitalismusalternative zu suchen, sowie
drittens sozialrevolutionär gewendeten ("strasserisierten") Neofaschisten, die rechte, völkische Ideologie mit prämodernem Anti-kapitalismus verbinden wollen.

Heutige Wahlparteien, die sich explizit auf Gesells Theorieerbe beziehen, sind entsprechend ideologisch breit aufgestellt. Programmatisch sind diese erkennbar an ihren (nur scheinbar widersprüchlichen) Forderungen nach obligatorischen Reformen im Geldwesen (Einführung der Umlaufsicherung) und Reindustrialisierung der Wirtschaft (mit Wiedereinstieg in die Kernenergie) bei gleichzeitiger sozialökologischer Produktionsweise. Charakteristisch sind ebenfalls Forderungen nach friedensförderlichen, gigantischen Investitionen in die globale Verkehrsinfrastruktur, die schon aus Gründen der Anschubfinanzierung scheitern müssten, selbst wenn diese langfristig rentabel wären.

Dieser weltanschauliche "Warenhauskatalog" mag einer der Gründe sein, weshalb das Stimmenergebnis solcher Parteien bei Wahlen mit der Anzahl ihrer Mitglieder tendenziell deckungsgleich ist, was meistens ein zuverlässiges Indiz für einen sektenhaften Charakter darstellt.

Für die Verbreitung von Gesells Theorien scheinen hingegen die Versuche eines gezielten Eindringens in andere Parteien ("Entrismus ") oder die Übernahme freiwirtschaftlicher Theorieelemente durch andere Parteien deutlich mehr Erfolg zu versprechen.

Beispielsweise existiert schon seit der Parteigründung in den Grünen eine so genannte "liberalsoziale" Strömung, die bislang für die innerparteiliche Machttektonik der Gesamtpartei zwar nicht sonderlich bedeutend war, die jedoch den freiwirtschaftlichen Grundgedanken einer "Gesundung" unseres Geldwesens konsequent vertritt. 15 Die vollzogene kopernikanische Wendung der Grünen von einer radikalökologischen, systemkonfrontativen Antiparteienpartei zu einer neoliberalen, marktwirtschaftlichen Elitepartei von Bestverdienenden mit nur noch gemäßigt sozialökologischer Note ist also seit ihren frühen Anfängen programmatisch mit angelegt gewesen.

Obzwar ideologisch völlig konträren Zwecken dienend, wäre es auch der sich sozialrevolutionär gerierenden NPD prinzipiell möglich, sich der "Natürlichen Wirtschaftsordnung" zu bedienen, um einige passende Theoriestücke zu entwenden und in ihre biologistische Volksgemeinschaftsideologie zu integrieren.

Und die Linke?
Die nach wie vor in zahlreichen Splitterparteien organisierten dogmatischen Linken pflegen unverrückbar ihr fest gefügtes Marxismusverständnis und sind dadurch für freiwirtschaftliche Ideen nur wenig empfänglich.

Die demokratische Linke hat hingegen damit begonnen, sich als neue gesamtdeutsche, offene Linke zu verorten. Hierbei hat die in Ostdeutschland politisch schwergewichtige Linkspartei.PDS in den zurückliegenden sechzehn Jahren nach der Wiedervereinigung die demokratische Wandlung von einer ehemaligen kommunistischen Staatspartei zu einer Partei des Demokratischen Sozialismus glaubwürdig vollzogen. Ihre für 2007 geplante Fusion mit der mehrheitlich traditionssozialdemokratischen WASG wird dennoch zu spürbarer weltanschaulicher Heterogenität in der neuen Linkspartei führen. Insbesondere der ideologische Pluralismus des WASG-Fusionsteils könnte sich als geeignetes Einfallstor für freiwirtschaftliche Indoktrinationsversuche erweisen.

In Berlin, wo es zu einem konkurrierenden Wahlantritt beider Fusionspartner kam, versuchten NWO-Anhänger offensiv die Wahlkämpfer beider Parteien gezielt in Diskussionen zu verwickeln mit der Begründung, man würde doch eigentlich für identische Positionen streiten. Dies ist, wie gezeigt, mitnichten der Fall.

Die Freiwirtschaftliche Theorie hat sich zur Gänze als auch hinsichtlich einzelner Theoriefragmente für Programmatik und Politik von demokratischen Linken disqualifiziert, da ihr (ohnehin nur unechter) Antikapitalismus strukturell in einen sozialdarwinistischen Ökonomismus eingebettet ist, aus dem sie auch nicht herausgelöst werden kann. Insofern ist es für die gesellschaftliche und politische Revitalisierung einer demokratischen, antineoliberalen Linken unerlässlich, dass die Distanz zu einer im Kern antiemanzipatorischen Ungleichheitsideologie nicht verloren geht.


Heiko Langner - Jg. 1971; Politikwissenschaftler; wiss. Mitarbeiter des Bundestagsabgeordneten Dr. Hakki Keskin, Fraktion DIE LINKE.; zuletzt in UTOPIE kreativ: Kapitalistische Moderne - moderner Kapitalismus? Zur Grundsatzdebatte in der Linkspartei.PDS, Heft 187 (Mai 2006).

1 Vgl. Silvio Gesell: Gesammelte Werke, Bd. 11, Die Natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld (NWO), 4. Aufl. (1920), Verlag für Sozialökonomie Lütjenburg 2004, S. 4 ff.

2 Vgl. Silvio Gesell: Die Natürliche Wirtschaftsordnung Â… a. a. O., S. 336.

3 Vgl. ebenda, S. 217.

4 Vgl. Elmar Altvater: Eine andere Welt mit welchem Geld? Über neoliberale Kritik der Globalisierungskritik, unbelehrte Ignoranz und Gesells Lehre von Freigeld und Freiland, Internet: http://www.polwiss.fu-berlin.de/people/altvater/Aktuelles.html, download 15. 10. 2006, S. 32.

5 Vgl. Elmar Altvater, Birgit Mahnkopf: Globalisierung der Unsicherheit, Arbeit im Schatten, Schmutziges Geld und informelle Politik, Verlag Westfälisches Dampfboot Münster 2002, S. 173.

6 vgl. http://www.documentarchiv.de/wr/1920/nsdap-programm.html.

7 Vgl. Elmar Altvater: Eine andere Welt mit welchem Geld?, a. a. O., S. 30.

8 Silvio Gesell: Die Natürliche Wirtschaftsordnung Â… Vorwort zur 3. Aufl., a. a. O., S. 20.

9 Ebenda.

10 Ebenda, S. 21.

11 Ebenda.

12 Ebenda, S. 64.

13 Ebenda, S. 55 ff.

14 Vgl. Günter Bartsch: Silvio Gesell, die Physiokraten und die Anarchisten, in: Klaus Schmitt: Silvio Gesell - "Marx" der Anarchisten?, Karin Kramer Verlag Berlin 1989, Internet: http://userpage.fu-berlin.de/~roehrigw/schmitt/textl.htm, S. 9 ff.

15 Vgl. http://www.alternativen.homepage.t-online.de.

in: UTOPIE kreativ, H. 198 (April 2007), S. 328-334