Menschenwürde zum Abgewöhnen

Der Bescheid ist da. Er ist in einem Umschlag gekommen, der denen gleicht, mit denen Strafbefehle, Anordnungen der Zwangsvollstreckung, gerichtliche Ladungen oder Urteile verschickt werden. "Bescheid

über die Gewährung von laufenden Leistungen nach SGB XIUI - Viertes Kapitel (Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung)", lautet die monströse Überschrift. Und es folgt "Sehr geehrte Damen und Herren", obwohl ich alleinstehend bin, was man in der Behörde weiß. Man nennt mich "Bedarfsgemeinschaft". Eine Solo-Gemeinschaft.

Der Bescheid besteht aus drei Seiten. Hervorgehoben ist, daß ich 75 Euro "Einkommen aus Nachhilfeunterricht" gemeldet hatte. Denn man muß alles melden. Das geht aus Fettgedrucktem hervor. Da wird deutlich gedroht: Wer schweigt, der wird angezeigt und bestraft wegen Betrug. Beim Nachdenken darüber fallen mir Herren wie Josef Ackermann, Laurenz Meyer, Wolfgang Schäuble und viele, viele andere ein, nicht zuletzt Herr Hartz, denen ich meine jetzige Lebensgestaltung verdanke, die "menschenwürdig" sein soll, wie ich in einem Prospekt gelesen habe.

Auf Blatt 3 des Bescheides finde ich eine Menge Zahlen, die zwar ordentlich untereinandergeschrieben sind, aber doch irgendwie herumtanzen. Mir ist nicht klar: Was wird abgezogen, was nicht, wie setzt sich die Endsumme zusammen, die unter 345 Euro liegt? Meine Wohnung ist zu teuer. Sie kostet 26 Euro zuviel, und die werden nun abgezogen. Die von mir angemietete Wohnung liegt in einem Haus aus dem Jahre 1653, das hat mir mein Vermieter verraten; gleich nebenan befindet sich der Schlachthof des Ortes. Besonders montags ist das Angst- und Todesgeschrei der gequälten Kreaturen zu hören, es ist zum Davonlaufen. Aber wohin? Wer zahlt den Umzug?

Ich habe also rund 319 Euro monatlich zum Überleben. Die tanzenden Zahlen auf dem Bescheid lassen nach vielen Mühen und Rechnereien erkennen, daß ich von den 75 Euro Nachhilfe-Honorar lediglich 20 behalten darf. Ganz neckisch jedoch fällt mir eine "Arbeitsplatzpauschale" ins Auge. Die beläuft sich auf 5.20 Euro. Ein Latein- oder Englischbuch kostet etwa 20 Euro. Für die "Arbeitsplatzpauschale" kann ich zwei Brote erstehen. Dann ist das Geld weg. Das ist ein besonderer Trick: Man streut mir großzügig 5.20 Euro in die verwunderten Augen, um sogleich 55 Euro (gut 73 Prozent) von meinem eigenen Geld abzuzocken.

Da ich auch inserieren muß, wenn ich zu Schülern kommen will, habe ich zusätzliche Ausgaben. Mein Rechnen ergibt: Mit Arbeit habe ich weniger Geld als ohne. Und das schreibe ich sofort dem Oberbürgermeister unserer Stadt, der gibt meinen Brief weiter an den Bürgermeister, und der rechnet mir vor, daß ich mehr Geld hätte als vorher. Höhere Mathematik. Ich antworte kurz und bündig: Ab sofort arbeite ich nicht mehr für Geld, sondern nur noch gegen Naturalien. Eine Liste schicke ich an die Behörde: fünf Becher Joghurt, zwei Mischbrote, vier Gurken, eine Tüte Zucker, ein Würfel Margarine. Mal sehen, was nun folgt. "Messer und Gabel", so teile ich mit, "liegen zum 73prozentigen Kürzen der Lebensmittel bereit." Bislang hat die Behörde geschwiegen. Vielleicht ist sie ratlos.

Wollen wir nun ein wenig rechnen. 319 Euro kommen monatlich auf mein Konto. Davon sind abzuziehen 20 Euro Telefon, 67 Euro Strom, 50 Euro Rückzahlung früher zuviel gezahlter Sozialhilfe, 10 Euro Hundesteuer (Rate), 10 Euro Müllgebühren (Rate), verbleiben 162 Euro für das erwähnte menschenwürdige Leben. Das muten die Leute von der Politik uns also zu. Monat für Monat, Mann für Mann, Frau für Frau. Arztbesuch: vorbei. Medikamente: vorbei. Brille, Zahnersatz, neue Kleidung: vorbei. Streikt die Waschmaschine, ist es vorbei mit sauberer Wäsche. Streikt der Fernseher, ist es auch da vorbei. Ein unablässiges Abrutschen setzt ein. Keine Bücher mehr, keine Zeitungen, kein Besuch mehr, Isolation, Depression, Krankheit - aus.
Der Bescheid ist da.