Moskauer Wohnungsmarkt

in (29.11.2005)

Unsere guten Bekannten Nina und Wladimir sind in die Falle geraten. Das Ehepaar, das mit seinem kleinen Sohn in einer winzigen Mietwohnung lebt, träumte leidenschaftlich von einer Eigentumswohnung.

Nina ist Dolmetscherin, ihr Mann Ingenieur. Weil man aber in akademischen Berufen im heutigen Rußland nur gerade das Lebensnotwendige verdienen kann, verdient Wladimir als fliegender Verkäufer dazu. Jeden Morgen um 5 Uhr macht er sich auf den Weg, um in den ersten Vorortzügen Zeitungen und Krimis anzubieten. Mit solcher Knochenarbeit und eiserner Sparsamkeit schaffte es die Familie, die erste Rate für ihr künftiges Obdach an eine Baufirma zu zahlen, und innerhalb von drei Jahren brachten die Beiden fast 100 Prozent des Kaufpreises auf. Dann stellte die Firma, nachdem sie die ganze Zeit über nur schleppend gearbeitet hatte, den Bau des Hauses "bis auf Weiteres" ein - "aus finanziellen und technischen Gründen". Großzügig bot sie den Käufern an, ihnen das eingezahlte Geld jederzeit zurückzugeben. Die Sache hat nur einen kleinen Haken: die Inflation. Sie hat am Wert des Geldes genagt wir ein hungriges Raubtier. Die Kaufkraft des Rubels lag noch vor wenigen Jahren um mehr als das Zehnfache über der heutigen.

Auf dem russischen Bau- und Wohnungsmarkt tummeln sich Schwindler, die immer neue, immer rücksichtslosere Tricks anwenden. Besonders dreist ist dieser: Makler locken die Kunden mit fertiggebauten Wohnungen, die angeblich sofort bezogen werden können. Nach der Bezahlung und Abfertigung aller Formalitäten erfährt der stolze Besitzer, daß seine Wohnung gleichzeitig an drei bis vier andere Bewerber verkauft wurde. Die betrügerische Firma hat sich inzwischen in Luft aufgelöst. Sie war nur für ein paar Tage auf einen verlorenen Paß oder auf den Paß eines Verstorbenen registriert. Die Schwindler kann man bis zum Jüngsten Gericht suchen - viel Spaß.

Sind die Russen so naiv, so leichtgläubig, daß sie bedenkenlos auf jedes zweifelhafte Angebot hereinfallen? Nein. Die meisten Gaunerfirmen sind jedoch gut getarnt. Die Lizenz? Bitte schön. Die Baugenehmigung? Hier. Die Baustellenerlaubnis? Alles parat. Alles echt, alles in bester Ordnung. Und wer hat den Betrügern diese Papiere ausgestellt? Richtig: die zuständigen Beamten - obwohl sie in manchen Fällen gleich auf den ersten Blick hätten Bedenken haben sollen, zum Beispiel wenn mehr als 100 Firmen eine und dieselbe Privatwohnung als ihre Büroadresse angeben.

Die Medien sind voller Anspielungen: Die Beamten könnten an den Affären beteiligt sein. Allein in Moskau stehen inzwischen schon 13 Hochhäuser, die nicht zu Ende gebaut wurden. Tausende Opfer, die insgesamt 100 Millionen US-Dollar in ihren Zukunftstraum investiert haben, warten verzweifelt auf ihre Bleibe. Die Bürokraten zucken nur die Achseln: Nicht unser Bier, gehen Sie den Gerichtsweg. Der Staat, der Tausende und Abertausende Gesetze von der Duma und dem Föderationsrat abzeichnen läßt und der über einen gewaltigen Repressionsapparat verfügt, gibt sich hilflos: Er könne seine aufrichtigen Bürger vor dem Betrügerpack nicht schützen. Man kann natürlich zum Kadi gehen, man kann sogar den Prozeß gewinnen (manche Hartnäckigen haben das geschafft) - aber was nutzt das? Die Räuber sind entweder längst über alle Berge oder haben ihr ganzes Vermögen in die Offshore-Zonen transferiert oder es auf geheime Konten deponiert.

Jetzt sind einige betrogene Familien im Großraum Moskau in einen unbefristeten Hungerstreik getreten. Weitere 15 000 Menschen drohen mit einer Blockade der Autobahnen und Landstraßen, wenn die Behörden ihre berechtigten Ansprüche nicht gelten lassen. Einige Schicksale sind wirklich erschreckend: Die Betroffenen haben ihre kleinen Altwohnungen, Autos, Datschas verkauft, um das Geld für die besseren Quartiere aufzutreiben, manche haben die erforderlichen Summen zu Wucherzinsen geliehen - was sollen sie und ihre obdachlosen Kinder nun machen?

Zur gleichen Zeit wurde eine andere Geschichte publik: Der Verteidigungsminister hat angeordnet, dienstpflichtige Soldaten nicht mehr für den Bau privater Landhäuser für Generale einzusetzen. Damit wurde zum ersten Mal öffentlich zugegeben (was die oppositionellen Medien längst berichtet haben): Die 1861 abgeschaffte Leibeigenschaft besteht in den russischen Streitkräften heimlich weiter. Der Minister drohte den Delinquenten mit Entlassung, hohen Geldstrafen oder Knast.

Ein Mann mit großen Sternen auf seinen Achselstücken ist sicherlich kein Sozialfall. Die Stadtwohnungen, über die die russische Generalität verfügt, sind für Normalverbraucher unerreichbar, beneidenswert. Aber den Herren Generalen (und besonders ihren Frauen) genügen sie nicht. Zusätzlich wünschen sie zwei- bis dreistöckige Paläste auf dem Lande, die fertiggestellt werden sollen, solange sie im aktiven Dienst stehen. So hat eben jeder seine Sorgen: Dem einen ist die Suppe zu dünn, dem anderen die Perlen zu klein.
Selbstverständlich gab es in Rußland auch schon vor dieser Direktive des Verteidigungsministers Gesetze, deren zufolge die Soldaten dazu da sind, das Vaterland zu verteidigen, nicht aber dazu, auf privaten Baustellen ihrer Vorgesetzten ausgebeutet und mißbraucht zu werden. Immer schon waren harte Strafen vorgesehen, allerdings ohne jegliche Wirkung. Was veranlaßt den Herrn Minister zu der Annahme, sein Erlaß könnte wirksamer sein als früheres Recht?

Heft Ossietzky 24/05