Als Erich Kuby in konkret mein 1988 erschienenes Buch mit dem Tucholsky-Titel "Soldaten sind Mörder" besprach, monierte er anfangs die eingefügten
50 Seiten über die Vernehmung Otto Ohlendorfs im Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß. Am Ende akzeptierte er dieses Kapitel in der Hoffnung, daß es etwas nütze. Heute behaupte ich, es nützte nichts. Der bezeugende Massenmörder Ohlendorf bleibt eine Lücke im deutschen Kollektivgedächtnis. Das will bewiesen sein. Da es in letzter Zeit um das Schießen auf Frauen und Kinder an der innerdeutschen Grenze ging, ist der Rückgriff auf Ohlendorf eine Rückkehr zu den Quellen. Auf die Frage des Anklägers Oberst John H. Amen, ob von Ohlendorfs Einsatzkommando "Frauen, Männer und Kinder auf die gleiche Art und Weise hingerichtet" worden seien, antwortete der Befragte, im Frühjahr 1942 habe Himmler die Tötung durch Gaswagen befohlen. Darauf Oberst Amen: "Wie sind die Frauen und Kinder vorher getötet worden?" Ohlendorf: "Genau wie die Männer durch Erschießen." Man schoß nicht auf Frauen und Kinder, man erschoß sie. Auf spätere Nachfrage bestätigt der Angeklagte den Ausrottungsbefehl, der "die Juden und kommunistischen Funktionäre" betraf, auf Anordnung Himmlers einschließlich Frauen und Kinder. Ohlendorf: "Es war ja der Befehl, daß die jüdische Bevölkerung total ausgerottet werden sollte."
Der ausdrückliche Auftrag ist inzwischen vielfach belegt worden. Die zugrundeliegende Barbarei veranlaßte mich 1989, den Fall Ohlendorf als Hörspiel in meine "Trilogie der Schuldlosen" aufzunehmen, wo er als "Dialog unterm Galgen" das Mittelstück bildet. Die Trilogie wurde jahrelang vom HR, WDR, BR und anderen Radiostationen national und international ausgestrahlt und wiederholt, selbst die im Zuge der Vereinigung untergehenden Ostberliner und Leipziger Sender schlossen sich an. Das Mittelstück über Ohlendorf nutzte der Schulfunk. Dann verschwand die Trilogie, denn die Deutschen rückten als Opfer in den Vordergrund. Die durch Himmler zum Abschuß freigegebenen Frauen und Kinder waren ja nur Juden und Ausländer und bekümmerten niemanden mehr. Ab 1990 wurde infolge deutscher Einheit der Antifaschismus nicht weiter verordnet, und Neonazis hatten Konjunktur. So ändern sich Medienkriterien. Die Kultur geht brav an der Leine wie Struppi.
Daß man Frauen und Kinder nicht einfach abknallen dürfe, sensationalisierte Frau Birthler zum 13. August 2007, dem 46. Jahrestag des Mauerbaus, indem sie ein Schriftstück mit Schießbefehl als Neuentdeckung präsentierte, obwohl dergleichen vorher längst bekannt war. Zwar weiß offenbar niemand genau, wer da geheimdienstlich angeheuerte Grenzposten streng geheim anwies, auf Deserteure zu schießen, auch wenn sie sich bei der Flucht des Schutzes durch Frauen und Kinder bedienen sollten, doch Erregung und Empörung stiegen unermeßlich an.
Ich habe dazu nur zwei Fragen: Erstens: Wurde der geheime Befehl irgendwann irgendwo befolgt? Flüchtete jemals ein DDR- oder UdSSR-Deserteur mit Frau und Kind, und wo und wann wurde auf die Familie geschossen? Zweitens: Warum sucht niemand nach diesen Fakten?
Die zweite Frage richtet sich an die Strafverfolgungsbehörden von gestern und heute. Auch die ehemaligen DDR-Zuständigen sollten ein Aufklärungsinteresse zeigen. Wer von Mielkes Truppe verfaßte den so barbarischen wie idiotischen Befehl? Man bedenke dabei: Die deutsch-deutsche Grenze war zugleich ein Todesstreifen zwischen dem amerikanischen und sowjetischen Weltsektor, wo der kalte Krieg jederzeit in einen atomaren Krieg umschlagen konnte.
Der verständliche Aufruhr unserer freiheitsdurstigen Medien angesichts des ominösen Ostbefehls, auf Frauen und Kinder von Deserteuren zu schießen, korrespondiert mit der unterschiedlichen Reaktion, werden Frauen und Kinder gebombt. Sprengt ein Selbstmordattentäter sich und andere Menschen in die Luft, ist er ein abscheulicher Terrorist. Bomben unsere westlichen Freiheitsflieger irgendwo im Ausland Frauen und Kinder in Grund und Boden, schicken wir in gehorsamer Dankbarkeit unsere Tornados zur Beihilfe, weil andere die Ziele nicht so schön und punktgenau fotografieren können. Die dabei zerfetzten Frauen und Kinder werden als Kollateralschäden entschuldigt, abgebucht und schnell vergessen. Wer das nicht will, wird von den Medien zur Sau gemacht.
Als Deutschland 1939 Polen überfiel, erklärte Hitler, von nun an werde zurückgeschossen. Wer da nicht mitmorden wollte, zählte zu den Feinden.
Das kostete am Ende 55 Millionen Leben. An der kalten Kriegsgrenze wurde nach 1945 auch geschossen. Das kostete circa 1000 Menschenleben. Wie viele Leben unsere Teilhabe kostet, wenn heute zurückgebombt wird, steht nicht in den Sternen. Inzwischen avancierte die Meldung vom Schießen auf Frauen und Kinder im angehenden hessischen Wahlkampf wieder zur Propagandaparole. Roland Koch bezichtigte Hans Modrow, der vor dem Mauerfall als Hoffnungsträger gehandelt wurde, der Mitschuld am "Schießbefehl". Die Partei Die Linke solle Modrow deshalb ausschließen. Offenbar will Koch sich den Stahlhelm des verstorbenen Alfred Dregger aufsetzen und in Fulda bei übriggbliebenen Fundis und Fuldis Stimmen holen.
Was Schießbefehle betrifft, sei Koch die Lektüre von Ernst Klees "Personenlexikon zum Dritten Reich" empfohlen, zum Beispiel die Namen Oberländer, Heusinger, Gehlen und anderer Hitler- und Adenauer-Anhänger wie CDU-Kameraden. Alfred Dregger behauptete noch 1986 in seiner offiziellen Rede zum Volkstrauertag, Wehrmachtssoldaten, die an der Ostfront den Krieg bis zuletzt verlängerten, hätten "eine ehrenhafte Wahl getroffen". Wer so spricht, hält auch die Verteidigung von Konzentrationslagern für ehrenhaft, worauf schon das CDU-Mitglied Norbert Blüm verwies. Das wußten wir, die wir im Osten die Nazikriegsrechnung zu bezahlten hatten, noch etwas früher.
Da ich meine Hörspiel-Trilogie erwähnte, weil es im zweiten Stück um Ohlendorf geht, sei noch der Titel des ersten Teils genannt: "Antwort des toten Soldaten an seinen Herrn Hauptmann". Das bezog sich auf Dregger, und er wußte es. Zu meiner Zeit im Bonner Bundestag war Dregger immerhin einmal soweit, daß wir uns als Atomkriegsgegner verständigten. Dreggers Stahlhelm aber ist für seinen Nachfolger Koch ein paar Nummern zu groß. Wenn selbst Bayerns Stoiber einen Kranz an Ho Tschi Minhs Grab niederlegt, bleiben die kaltkriegerischen Rückfälle des Wiesbadener Schimpfers im osthessischen Manöverbereich.
Im übrigen wollen wir nicht vergessen, daß es sich bei den Frauen und Kindern, auf die laut Befehl geschossen werden sollte, um Angehörige von Deserteuren handelte, denen ja sonst nicht die größte Zuwendung unserer Politiker gilt. In meinem Geburtsort Gablenz in Sachsen gab es ein Denkmal für einen erschossenen Deserteur des Zweiten Weltkrieges. Im Zuge der Vereinigung wurde es abgeschafft. Gibt es also gute und schlechte Deserteure?