Von der Arbeiterselbstverwaltung zum Neoliberalismus

25 Jahre Solidarnosc: Interview mit Zbigniew Kowalewski, der 1980/81 Mitglied der regionalen Leitung von Solidarnosc in Lódz und Delegierter auf dem ersten Kongress der Gewerkschaft war.

Das folgende, hier in Auszügen wiedergegebene Interview über Aufstieg und Niedergang der polnischen Gewerkschaft Solidarnosc führte Jakub Rzekanowski für die polnische Tageszeitung Trybuna im April 2005 mit Zbigniew Kowalewski. Kowalewski war 1980/81 Mitglied der regionalen Leitung von Solidarnosc in Lódz und Delegierter auf dem ersten Kongress der Gewerkschaft. Er ist gegenwärtig Redakteur der gewerkschaftlichen Wochenzeitung Nowy Tygodnik Popularny und der theoretischen Zeitschrift Rewolucja.

F: Die Vision von Arbeiterräten, die die Fabriken leiten, erscheint heute komplett als Utopie. Doch 1980 handelte es sich um etwas sehr Reales. Wie ist diese Idee unter den Arbeitern aufgekommen?

Es gab damals eine massive soziale Mobilisierung, eine zunehmende Aktivität der Arbeitenden, die sehr weit reichte, sehr kämpferisch und sehr radikal war. In solchen Situationen tauchte im Laufe der Geschichte mehrfach der Wille auf, Arbeiterräte zu schaffen, die die Macht in den Fabriken ergreifen; die Bestrebungen der Werktätigen reiften bis zur Absicht, die Führung des Staates zu ändern. So gesehen war die Situation keineswegs außergewöhnlich, sie bestätigte diese Regel. Aber es gab einen anderen wichtigen Aspekt: Wir waren uns im Klaren, dass die Erinnerung an die Arbeiterräte von 1956 immer noch lebendig war.

Ich möchte betonen, dass unsere Vorstellung von Arbeiterselbstverwaltung nicht primitiv oder simpel war. Sie verband die demokratische Verwaltung der Betriebe mit dem Wettbewerb. Der Arbeiterrat sollte die Entwicklungslinien eines Betriebs leiten und bestimmen und die strategischen Entscheidungen treffen. Die tägliche, operationelle Leitung lag in den Händen des vom Rat nach einem Wettbewerb unter Spezialisten gewählten Direktors.

F: Welchen Einfluss auf das Bewusstsein der Arbeiter hatte die Kluft zwischen der offiziellen Propaganda, die behauptete, dass die Arbeiterklasse die führende Klasse sei, und der Realität?

Einerseits gab es das Gefühl, dass der Staatsapparat, die Parteibürokratie herrscht; es gab auch das Gefühl, ausgebeutet zu werden. Verschiedene Arbeiterrebellionen in der Volksrepublik Polen begannen mit einer Heraufsetzung der Leistungsnormen, es gab also das Phänomen der Intensivierung der Arbeit, das Marx im Kapital beschrieben hat. Es gab auch das Gefühl, dass die Arbeitenden nichts zu sagen haben, dass die Macht in ihrem Namen regierte, der Arbeiterklasse aber fremd war.

Andererseits gab es die Überzeugung, dass die Arbeitenden wirklich eine Klasse sind, die auch tatsächlich die Rolle spielen sollte, die ihr die offizielle Propaganda und der ideologische Diskurs zuwiesen. Das Bestreben, eine solche Stellung einzunehmen, war sehr stark und vom Bewusstsein begleitet, dass sie nur durch Kampf erreicht werden konnte - niemand würde sie ihnen gewähren, man musste mit dem Machtapparat kämpfen, um sie zu erlangen.

F: Wie reagierte die Macht generell auf die Bewegung?

Die Forderung nach Selbstverwaltung war im Herbst 1981 der am stärksten umkämpfte Punkt im Konflikt zwischen Solidarnosc und der Macht. Aber die Führung von Solidarnosc unterstützte unsere Forderungen nicht. Sie wurden ihr von den Arbeitern aufgezwungen. Der erste Kongress von Solidarnosc verabschiedete hinsichtlich der Selbstverwaltung die härtesten Resolutionen, Lech Walesa zum Trotz. Das hatten die Betriebe erreicht, die Basis, dort wo die zentrale Führung der Gewerkschaft nichts zu sagen hatte. Unsere Bewegung hatte auch die Unterstützung zahlreicher Aktivisten aus den Branchengewerkschaften.

F: Woher kam dieses Misstrauen der Solidarnosc-Führung gegenüber der Idee der Arbeiterselbstverwaltung? Handelte es sich um einen ideologischen Konflikt oder bloß um eine opportunistische Tendenz?

Je höher man in der Gewerkschaftshierarchie hinaufstieg, desto geringer wurde die Popularität der Selbstverwaltung, desto stärker der Widerstand dagegen. Je weiter man zur Basis hinabging, desto deutlicher sah man die authentischen Bestrebungen der Arbeitenden. Auf der ersten Konferenz, die der Selbstverwaltung gewidmet war und im März 1981 von Ryszard Bugaj und Bronislaw Geremek organisiert wurde, kam es zur Konfrontation.

Geremek stand der Idee feindselig gegenüber. Bugaj war dafür, aber auf moderate Weise. Seine Unterstützung war begrenzt, denn er hatte die ganze Zeit Angst, dass die Selbstverwaltung die zentrale Planung aufbrechen würde. Wir warfen die Frage einer demokratischen Planung auf und er hatte Angst um die zentrale Planung.

Ein weiterer Grund für die Abneigung der Solidarnosc-Führer gegenüber der Arbeiterselbstverwaltung war der starke Einfluss des KOR, dessen Aktivisten nicht zu unserer Bewegung gehörten und uns oft angriffen.

F: Nach dem Ende des Kriegsrechts 1983 wurde die Bewegung für Selbstverwaltung innerhalb von Solidarnosc marginalisiert. Sie ist dann aus Solidarnosc, die am Runden Tisch teilnahm, vollständig verschwunden.

Das Kriegsrecht machte der sozialen Bewegung insgesamt ein Ende. Die unabhängige Aktivität der Arbeitenden wurde gestoppt. Vorher, im Herbst 1981, hat es einen Tatbestand gegeben, der auf die Frage der Arbeiterselbstverwaltung Einfluss nahm. Das Parlament hatte damals ein Gesetz zur Arbeiterselbstverwaltung verabschiedet. Dieses Gesetz wurde als sehr unzureichend angefochten, aber im Vergleich zu den Gesetzen anderer Länder war es ohne Beispiel. Auch wenn es nicht die Gesamtheit der Bestrebungen der Bewegung für Selbstverwaltung widerspiegelte, war es sehr fortgeschritten. Aber die auf der Basis dieses Gesetzes während der 80er Jahre gebildeten Räte arbeiteten in einem leeren Raum und begannen einzugehen. Sie konnten sich auf keinerlei massive und demokratische Organisation stützen, die fähig gewesen wäre, das System zu kontrollieren.

F: Nach 1989 sind wir zu einem völlig anderen System gelangt als dem, wofür die Arbeitenden 1980 gekämpft haben. Wie gelang es der Solidarnosc-Führung, die Arbeitenden mit dem Kapitalismus zu narren?

Es gab mehrere Gründe. Einer davon war die schwere Wirtschaftskrise, die für die Menschen langfristig bedrückend war. Das führte zu einer Delegitimierung der verstaatlichten Ökonomie in den Augen der Gesellschaft, die in der Vergangenheit als sehr legitim galt. Es gab für die Leute auch keinen Anreiz mehr, die Betriebe zu führen. Etwas, das verfällt, kann nicht in diese Richtung mobilisieren.

Dazu kommt noch der sehr starke Einfluss der Rechten in Solidarnosc, ein Effekt der Arbeit im Untergrund, des Einflusses der Kirche. Die in Verbindung mit der Kirche funktionierende Solidarnosc wurde von ausländischer Hilfe abhängig. Am Anfang kam die Hilfe vor allem von Gewerkschaften und linken Organisationen. Dann wurde sie von Filialen westlicher Staaten geleistet, die auf diese Weise Solidarnosc sehr von sich abhängig machten.

Vergessen wir nicht, dass wir es 1989 mit einer schwachen sozialen Mobilisierung zu tun hatten. Die Aktivität der Arbeitenden war schwach. Natürlich gab es Streiks, aber mit einer großen Welle von Kämpfen hatte das nichts tun. Es gab sehr verzweifelte Mobilisierungen, infolge des wirtschaftlichen Zusammenbruchs, die sehr unmittelbare Interessen und Forderungen betrafen.

F: Können die Ideen der Arbeiterselbstverwaltung eine Alternative zum Neoliberalismus sein? Wir haben in den letzten Jahren Übernahmen von Fabriken durch die Beschäftigten erlebt.

Tatsächlich hat es einige Fälle in Polen gegeben. In anderen Regionen der Welt waren sie zahlreicher, z.B. in Argentinien. Die polnischen Erfahrungen waren jedoch sehr begrenzt. Es handelte sich um sehr verzweifelte Defensivkämpfe, es ging um die Rettung der Jobs, der Fabriken. Die Idee der Selbstverwaltung kann sich nur entwickeln und eine Stütze finden in Situationen sehr intensiver sozialer Kämpfe, die nicht isoliert und nicht defensiv sind.

Es ist sehr schwierig für isolierte Betriebe, die sich in den Händen der Beschäftigten befinden, im Rahmen der liberalen Ökonomie zu überleben. Das sind keine optimalen Bedingungen für diese Art von Erfahrungen. Aber die Ideen der Arbeiterselbstverwaltung werden wieder auferstehen und zu einer Alternative werden, die unter den Beschäftigten in Situationen des breiteren Klassenkampfs starke Unterstützung genießt.