Schlechter als die EU

Andreas Bachmann* zum Streit um die Regulierung von Leiharbeit und Werkverträgen

in (31.03.2016)

Schlechter als die EU

Andreas Bachmann* zum Streit um die Regulierung von Leiharbeit und Werkverträgen

 

Zwei Anläufe – und zwei Referentenentwürfe aus dem Bundesarbeitsministerium – zur Umsetzung des Koalitionsvertrages hinsichtlich der Regulierung von Leiharbeit und Werkverträgen hat es bis heute gegeben. Im Zentrum der Berliner Auseinandersetzung standen vor allem die Vorschläge zur Legal­definition des Arbeitsverhältnisses in Abgrenzung zum Werkvertrag. Diese Kontroverse in der Koalition konnte auch deshalb so viel Raum einnehmen, weil der Koalitionsvertrag zu den Werkverträgen bis auf eine Ausnahme weniger konkret ausformuliert ist als die relativ präzisen Passagen zur Leiharbeit.

Dass der zweite Referentenentwurf nach einer Intervention der CSU gestoppt wurde – die ressortübergreifende Abstimmung wurde noch einmal ausgesetzt –, hat nichts mit für Unternehmer schwer verdaulichen Inhalten in diesem zweiten Vorschlag von Ministerin Nahles zu tun. Schließlich haben nicht nur die beiden großen Industriegewerkschaften, sondern auch Arbeitgeber- und Industrieverbände sehr klar ihre Zustimmung signalisiert (FAZ, 20. Februar 2016; SZ, 20. Februar 2016; FAZ, 19. Februar 2016). Es ist die übergreifende Krawallstrategie der CSU in der Koalition, die aktuell vor allem durch die unterschiedlichen Positionen in der Flüchtlingspolitik befeuert wird, die diesen Konflikt antreibt. Die CSU versucht den Koalitionsvertrag selbst in den Punkten in Frage zu stellen, die kaum Interpretationsspielraum bieten, wie z.B., dass LeiharbeiterInnen nicht als StreikbrecherInnen eingesetzt werden dürfen.

Auch im zweiten Referentenentwurf wird der Koalitionsvertrag bezüglich der Streikfrage richtig abgebildet. Dieser Punkt ist neben der Regelung zur sogenannten »Vorratserlaubnis« (zur Arbeitnehmerüberlassung) bei Scheinwerkverträgen einer der wenigen erfreulichen Neuregelungen. Bislang war es so, dass die Unternehmer – und zwar sowohl der Auftragnehmer als auch der Werkvertragsunternehmer – bei Scheinwerkverträgen, die verdeckte Leiharbeit kaschieren sollten, mit einem blauen Auge davon gekommen sind, wenn der Werkvertragsunternehmer eine Vorratserlaubnis zur Arbeitnehmerüberlassung in der Hinterhand hatte. Die Rechtsfolge des AÜG, dass illegale Arbeitnehmerüberlassung zur Begründung eines Arbeitsverhältnisses beim Einsatzbetrieb führt, konnte über diesen Trick ausgehebelt werden. Ärgerlicherweise gibt es bei Scheinwerkverträgen ausländischer Entsendeunternehmen eine Regelungslücke: Die Bestandskraft der »Entsendebescheinigung für Werkvertragsunternehmer« aus dem Entsendeland schützt Einsatzbetrieb und verdeckten Entleiher, da die Rücknahme der Entsendebescheinigung ein sehr schwieriges und umständliches Unterfangen ist.

 

Ausgangslage: EU-Equal Pay in Deutschland ausgehebelt

Die Grundzüge des Koalitionsvertrages zur Leiharbeit, dass nämlich die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben der EU zu equal pay und zu equal treatment sowie zur arbeitsplatzbezogenen Betrachtung einer immer nur vorübergehend vorgesehenen Arbeitnehmerüberlassung durch Tarifverträge sehr weitgehend abgeändert werden dürfen, sind im zweiten Referentenentwurf noch einmal radikalisiert worden. Diese »Tarifdispositivität« von gesetzlichen Schutzregelungen führt dazu, dass durch Tarifverträge gesetzliche Leitbilder – wie hier equal pay – weitgehend über den Haufen geschmissen werden.

Beide Referentenentwürfe (November 2015 und Februar 2016) zum AÜG bekräftigen den Grundsatz, dass Tarifverträge den Grundsatz equal pay aushebeln können. Im ersten Entwurf wurde diese Sperrwirkung auf zwölf und im zweiten Referentenentwurf auf 15 Monate eines Leiharbeitereinsatzes in einem Betrieb begrenzt. Solange darf also equal pay unterlaufen werden – sofern ein Branchenzuschlagstarif (der auch durch bloße arbeitsvertragliche Bezugnahmeklausel hergestellt werden kann) zur Anwendung kommt.

Ohne Zuschlagtarife ist nach dem Referentenentwurf die Suspendierung von equal pay für neun Monate möglich, vorausgesetzt, es gibt eine einfache tarifliche Grundlage dafür – und die gibt es durch den DGB-Tarifvertrag zur Leiharbeit mit den Verbänden BAP/IGZ. Gelbe Tarifverträge gibt es seit dem Debakel für die »christlichen« Scheingewerkschaften bezüglich ihrer Tarif- und Handlungsfähigkeit nicht mehr.

 

Verleihdauer: länger, als von EU vorgesehen

Im zweiten Referentenentwurf sind damit nicht nur die Fristenregelungen zu equal pay noch ungünstiger für die LeiharbeiterInnen ausgestaltet. Im Entwurf vom 17. Februar 2016 soll es jetzt auch über Betriebsverein­barungen möglich sein, die Höchstüberlassungsdauer eines Leiharbeiters im Einsatzbetrieb über die im Koalitionsvertrag vorgesehenen 18 Monate hinaus zu verlängern, wenn diese Betriebsvereinbarung (in einem nicht tarifgebundenen Betrieb im Geltungsbereich des Tarifvertrags) einen Tarifvertrag zur Leiharbeit in einer Einsatzbranche nachbildet. Abgesehen davon, dass der Referentenentwurf den Arbeitsplatzbezug des nur vorübergehend erlaubten Verleiheinsatzes in der EU-Leiharbeitsrichtlinie ignoriert und die rotationsfreundliche Bezugnahme auf den einzelnen Leiharbeitnehmereinsatz wählt, schießt eine mögliche Einsatzdauer über 24 Monate hinaus – sei es mittels Tarifvertrag der Einsatzbranche oder durch bezugnehmende Betriebsvereinbarung – deutlich über die Grenzen des gemeinschaftsrechtlich Zulässigen hinaus.

Wenn sich eine Betriebsvereinbarung eines nicht tarifgebundenen Betriebes inhaltlich nicht auf den gesamten Tarifvertrag, sondern nur auf eine Öffnungsklausel im Tarifvertrag zu den Rahmenbedingungen der Leiharbeit in einer Einsatzbranche bezieht, ist eine Verlängerung der Einsatzdauer auf 24 Monate begrenzt. In allen Fällen sieht der Referentenentwurf vor, dass bei Überschreitung der zulässigen Höchstüberlassungsdauer ein Arbeitsverhältnis beim Entleiher begründet wird. Der Zeitpunkt für eine Festanstellung des Leiharbeiters wird also in allen Fällen nach hinten geschoben.

Wie sehen die diesbezüglichen Regelungen in den aktuellen Tarifverträgen zur Leiharbeit der Einsatzbranche aus? Im »TV LeiZ« der IGM z.B. entfällt der Beschäftigungsanspruch nach 24 Monaten Einsatzdauer, wenn der Arbeitgeber nach »Beratung« mit dem Betriebsrat akute Beschäftigungsprobleme geltend macht, oder wenn eine Betriebsvereinbarung, die durch Öffnungsklausel im »TV LeiZ« möglich ist, andere Festlegungen zur Übernahme nach 18 bzw. 24 Monaten Einsatz­dauer trifft. Es ist davon auszugehen, dass diese tariflichen Regelungen auch nach der Novellierung des AÜG fortgeführt werden können.

Schon von der Mechanik der Regelungen her laufen diese ins Leere und führen nur selten zur Übernahme. Genauso ins Leere laufen die geplanten gesetzlichen Formeln und vorhandenen tariflichen Regelungen (Zuschlagstarife) zur schrittweisen Heranführung an equal pay. Nach dem IAB-Kurzbericht von 13/2014 liegt die Verweildauer im Entleihbetrieb im Bezugsjahr 2011 bei ca. 47 Prozent der Einsätze im Entleihbetrieb unter drei Monaten, bei ca. 17 Prozent zwischen vier und sechs Monaten und nur 27 Prozent der Einsätze dauern über neun Monate. Auch wenn es sich um Näherungswerte handelt und die tatsächlichen Einsatzzeiten noch etwas kürzer ausfallen dürften, da statistisch nur die Beschäftigungsdauer im Verleihunternehmen erfasst werden kann, schreibt das IAB: »Dennoch wird deutlich, dass von den anvisierten Schwellenwerten (des Koalitionsvertrages) nur relativ wenige Leiharbeiter profitieren werden.« (IAB-Kurzbericht, Nr. 13/2014; S. 6).

Selbst in der Metall- und Elektroindustrie, wo die nach Einsatzdauer gestaffelten Branchenzuschläge der Leiharbeiterlöhne zuerst eingeführt wurden, beträgt der Unterschied zwischen dem durchschnittlichen Leiharbeitereinkommen und dem durchschnittlichen Verdienst in der Branche noch 41 Prozent (lt. Angaben der Bundesagentur für Arbeit, in: Der Arbeitsmarkt in Deutschland – Zeitarbeit – Aktuelle Entwicklungen, Januar 2016, S. 20). Dieser Vergleich mag einige Ungenauigkeiten haben, da sich die Leiharbeit nicht gleichmäßig auf alle Funktionsgruppen in der Metall- und Elektroindustrie verteilt. Ein Blick auf die Wirkung der Zuschläge in der Metall- und Elektroindustrie schärft jedoch den Blick: Nach drei Monaten beträgt der Stundenlohn nach Zuschlagstarif Metall- und Elektroindustrie 13,18 Euro in der Entgeltgruppe 3 des DGB-Leiharbeitstarifs, nach sechs Wochen 12,63 Euro und ohne Zuschlag 10,98 Euro (alle Daten vom 1. April 2015 und für das Tarifgebiet West; EG 3: abgeschlossene Berufsausbildung und mehrjährige Erfahrung).

Ordnungspolitisch schlimm ist, dass im zweiten Referentenentwurf die Schwelle zur Absenkung von gesetzlichen Schutzniveaus (hier: Höchstüberlassungsdauer) noch einmal gesenkt wurde, weil jetzt auch die Betriebsparteien über Betriebsvereinbarungen aktiv werden können.

 

Mit dem BGB gegen Scheinwerkverträge und Scheinselbständigkeit?

Der § 611a BGB des ersten Referentenentwurfs (siehe Kasten) ist in der öffentlichen Diskussion vielfach missverstanden worden. Es handelt sich nicht um eine materiell-rechtliche Neubestimmung des Verhältnisses von Lohnarbeit und Selbständigkeit mit einer strukturellen Schärfung des Blicks auf Lohnarbeit in neuen Formen. Es handelt sich auch nicht um eine indikative Lösung, wo eine bestimmte Anzahl von Kriterien zur Vermutung eines Lohnarbeitsverhältnisses führt und in Beweislastumkehr der Unternehmer nachweisen muss, dass es sich um einen Werkvertrag und nicht um ein Arbeitsverhältnis handelt. Ende der 90er Jahre hat sich die rot-grüne Regierung für einige Monate an solch einer gesetzlichen Regelung versucht.

Der Referentenentwurf stellt dagegen darauf ab, dass am Ende immer »eine wertende Gesamtbetrachtung« stattfinden muss. Der Begriff der Lohnarbeit im ersten Absatz der neu formulierten BGB-Regelung kommt mit der »Weisungsgebundenheit und Eingliederung in die Organisation des Unternehmers« sehr traditionell daher. Dieser traditionelle Arbeitnehmerbegriff trifft schon bei neuen Typen der Betriebsorganisation wie Vertrauensarbeitszeit und indirekten Steuerungsmodellen die Wirklichkeit nur sehr ungenau. Die in der Öffentlichkeit aufgeregt diskutierten Kriterien sind eine noch nicht einmal vollzählige Auflistung von kritischen Sachverhalten, die bei der rechtlichen Bewertung, ob Lohnarbeit oder Selbstständigkeit vorliegt, relevant sein können. Es fehlt in der Aufzählung z.B. das Kriterium, ob ein eigener Marktauftritt als Unternehmer vorliegt oder nicht. In der öffentlichen Auseinandersetzung zu diesem Vorschlag wurde deutlich, dass einige Branchenverbände selbst bei diesem moderaten Herangehen des Gesetzgebers ein höheres Maß an Rechtsunsicherheit und mehr Planungsrisiken beim Fremdfirmeneinsatz befürchten.

Aus meiner Sicht ist es um diesen Punkt, da eben keine Beweislastumkehr, nicht wirklich schade. Der neue »§ 611a« (Arbeitnehmer) des zweiten Referentenentwurfs ist so redundant wie eine Definition des Arbeitnehmerbegriffs in einem Jurareferat für das dritte Semester, bei genauem Hinsehen nicht viel besser oder schlechter als die ersten beiden Absätze im ersten Referentenentwurf.

Wirklich schade ist es um den dritten Absatz des ersten Referentenentwurfs, der in der zweiten Version verschwunden ist: Dort war vorgesehen, dass ein Arbeitsverhältnis (Arbeitsrecht) widerleglich vermutet wird (Beweislastumkehr), wenn die gesetzliche Rentenversicherung (Sozialrecht) im Statusfeststellungsverfahren ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis festgestellt hat. Im Koalitionsvertrag war dieser Punkt leider nicht fixiert.

 

Kriterien für »missbräuchliche« Werkverträge: Fehlanzeige

Die Agenda des Koalitionsvertrages bezieht sich bei Werkverträgen auf die »Verhinderung von Missbrauch«. Allerdings ist das Verständnis von Missbrauch sehr eng ausgelegt: Es geht um die Spitze des Eisbergs, um illegale oder versteckte Leiharbeit unter dem Mantel eines Werkvertrages. Also um Fälle, in denen ArbeitnehmerInnen wie LeiharbeiterInnen vollständig in die betriebliche Organisation des Einsatzbetriebes integriert werden. Oder es geht um die auf der Hand liegenden Fälle von Scheinselbständigkeit, wo die Selbständigkeit nur als textliche Fiktion im Werkvertrag existiert. Die Grauzonen der Soloselbständigkeit in wirtschaftlicher Abhängigkeit von einem Auftraggeber hat der Koalitionsvertrag nicht im Blick. Ebenso fehlen rechtliche Kriterien, die unmittelbar helfen würden, Scheinwerkverträge (verdeckte Leiharbeit) zu identifizieren. Bei diesen Streitfällen ist klar, dass es sich bei den Aktiven um ArbeitnehmerInnen handelt. Strittig ist, welchem Betrieb und welchem Arbeitgeber diese Beschäftigten zuzurechnen sind. Ein materieller Begriff von missbräuchlichem Werkvertragseinsatz fehlt im Koalitionsvertrag völlig. Nach unserem Verständnis beginnt der Missbrauch schon dann, wenn es bei Werkverträgen nicht darum geht, fehlendes spezielles Know How dazu kaufen, sondern im Kernbereich der Produktion oder Dienstleistung durch Fremdvergabe tarifliche, rechtliche oder soziale Standards zu unterlaufen. Damit sind z.B. die Onsite-Werkverträge1 in der Fleisch­industrie gemeint, wo das Elend der Chicagoer Schlachthöfe auch im beschaulichen Emsland zu besichtigen ist.

Ehrlichweise muss man sagen, dass eine Eingrenzung (oder gar ein »Verbot«) von solchen Werkvertragskonstellationen in der bestehenden Rechtsordnung nur schwer unterzubringen ist. Interessant könnte es allerdings sein, das Kriterium der tatsächlichen Gewährleistung des Werkvertragsunternehmens und die Frage, ob das Werkvertragsunternehmen ein effektives eigenes Qualitätsmanagement hat und nicht nur äußerlich (z.B. durch andersfarbige Arbeitskleidung) von der Stammbelegschaft unterscheidbar und eigenständig ist, in der Abgrenzung von Leiharbeit zu Werkverträgen bzw. Arbeits- und Werkvertrag heranzuführen2. Bei einer Menge sozial- und tarifpolitisch missbräuchlicher Werkvertragsgestaltungen dürfte ein eigenes effektives Qualitätsmanagement des »Zulieferers« in der Regel wohl fehlen. Der Referentenentwurf folgt dieser Spur nicht.

Die Referentenentwürfe schaffen keine Mitbestimmungs- oder Zustimmungsverweigerungsrechte für Betriebsräte beim Fremdfirmeneinsatz per Werkvertrag, sondern konkretisieren Informationsrechte für Betriebsräte zu Werkverträgen und Fremdvergabe, so wie sie sich in den letzten Jahren durch die Arbeitsgerichtsbarkeit entwickelt haben.

 

Doppelpass zwischen Gesetzgeber und Gewerkschaften

Das Gesetzesvorhaben der großen Koalition zu Leiharbeit und Werkverträgen knüpft an die Legitimationsprobleme dieser prekären Beschäftigungsformen an. Die Skandalisierung der vielfältigen Missstände hat zu einem Imageschaden dieser Beschäftigungsformen geführt. Dabei handelt es sich um Missstände, die nicht nur Folge von Unternehmensstrategien sind, sondern durch den Gesetzgeber mit den Hartz-Reformen der rot-grünen Koalition befeuert wurden. Das vormals sehr restriktive AÜG wurde von 1985 an sechsmal zu Lasten der Sicherheit der LeiharbeiterInnen novelliert. Noch 1993 war die Überlassungshöchstdauer auf sechs Monate begrenzt. Noch bis 2002 galt das Synchronisationsverbot, das eine zeitliche Kopplung von befristeter Einstellung beim Verleiher mit befristeter Beschäftigung bei einem konkreten Einsatzbetrieb verhindern sollte. Die Entkoppelung der Arbeit im Betrieb von der Betriebszugehörigkeit hat von 1993-2013 sowohl bei Werkvertragsbeschäftigten (von 1,4 Mio. auf 2,2 Mio. gestiegen) als auch bei Leiharbeiten (von 0,15 Mio. auf 0,9 Mio.) massiv zugenommen. Nun bemühen sich die Koalitionsparteien, die Akzeptanz von Leiharbeit und Werkverträgen zu stabilisieren und die allergrößten Auswüchse zu regulieren. Bei der Leiharbeit modellieren sie nun einfach bestehende tarifliche Regelungen (Branchenzuschläge, Suspendierung von equal pay, Gestaltung der Überlassungsdauer) nach. So stellt sich hier erneut die Frage nach dem Umgang der Gewerkschaften mit der Leiharbeit.

»Es waren eben nicht nur die Gefälligkeitstarife von den gelben ›Christlichen‹ Gewerkschaften, die die Dumpinglöhne in der Leiharbeit abgesichert haben. In den immer wiederholten Deutungen und Erklärungen der DGB-Gewerkschaften zu dem unterirdischen Niveau der DGB-Leiharbeitstarifverträge mit den beiden Dachverbänden BZA und IGZ wird der sehr enge Gestaltungskorridor durch die konkurrierenden und älteren gelben Tarifverträge als die wesentliche Ursache für das Elend der Leiharbeit betont. Dabei wurde und wird ausgeblendet, dass es nicht nur in Großbetrieben eine mehr oder weniger große Toleranz bei vielen Betriebsräten und Beschäftigten in den Belegschaftskernen gegenüber den Kosten- und ›Flexibilitätspuffern‹ Leiharbeit und befristete Arbeitsverträge gibt. Diese Flexibilitätspuffer führen zu einer Risikominimierung bei den Belegschaftskernen in Phasen von Umsatz- und Beschäftigungseinbrüchen oder Umstrukturierungen. Gleichzeitig gibt es bei denselben Beschäftigten und betrieblichen Funktionsträgern ein großes Unbehagen wegen der moralischen Folgekosten dieser tolerierten sozialen Spaltung und Befürchtungen, dass sich die Prekarität der Leiharbeit in dieser Dosierung in die Beschäftigten- und Belegschaftskerne hineinfrisst. Dieses Unbehagen und die Beobachtung, dass die Differenz von Leih- zur Stammarbeit geradezu obszöne – in dieser Ausprägung nicht gewollte und auch für alle Beschäftigten destabilisierende – Auswirkungen hat, führte schließlich zu den Initiativen der Branchenzuschläge auf die Entgelte der Leiharbeitstarife per sektoralem Tarifvertrag, um die Spanne von Einkommen und sonstigen Arbeitsbedingungen zu verkleinern. Sachlogische Voraussetzung für diese tarifliche Teillösung ist aber zwingend die Einkommensdifferenz zwischen Leiharbeit und Stammarbeit. Die entscheidende Voraussetzung für die Abweichung vom europarechtlichen Gebot des equal pay und equal treatment ist ein primärer Tarifvertrag bzw. die arbeitsvertragliche Bezugnahme auf einen solchen primären diskriminierenden Tarifvertrag. Die Vorstöße mit den Branchenzuschlägen, die ein beträchtliches organisationspolitisches Gewicht bekommen haben, waren m.E. ein (nicht das einzige) Motiv dafür, die alten DGB-Tarifverträge nicht ersatzlos zu kündigen, sondern sofort Anschlussverhandlungen über neue, modifizierte, aber immer noch diskriminierende Tarifverträge aufzunehmen.«3

Darüber hinaus bleibt hier nur, wiederum auf frühere Einschätzungen zu verweisen: »In dieser Gemengelage hat vor allem die IGM mit ihren Tariflösungen zu zeitlich gestaffelten Branchenzuschlägen auf die Leiharbeitsentgelte (Tarifpartner IGZ und BAP) und den Rahmenbedingungen zum Einsatz Leiharbeit (Tarifpartner Arbeitgeber Metall/Elektro) einen Mittelweg versucht. Diese sehr komplexe tarifpolitische Dreieckskonstellation und die relative Verbesserung der Leiharbeitsentgelte (...) hat die IGM viel Kraft gekostet und ihr eine Menge neuer Mitglieder gebracht. Eine Strategie über eine Beendigung der equal pay suspendierenden Leiharbeitstarife hätte neben der Herausforderung durch einige rechtliche Unklarheiten den Mittelweg der IGM komplett über den Haufen geschmissen. So viel politischen Abschreibungsbedarf wollten sich die IGM und die anderen DGB-Gewerkschaften (...) nicht zumuten.«4

 

Wettbewerbsfähigkeit – auch bei Werkverträgen für BR ein Argument

Im Feld der Werkverträge zeigt sich eine ähnliche Ambivalenz im politischen Umgang durch Gewerkschaften und Betriebsräte mit prekärer Beschäftigung wie bei der Leiharbeit. Neben Abwehrstrategien und Betriebsräten, die in der Auseinandersetzung mit Werkverträgen einfach nur überfordert sind, gibt es auch einen Typus von Betriebspolitik und Betriebsräten, die Fremdvergabe akzeptieren: »Werkverträge werden akzeptiert, wenn die Stammbelegschaft hierdurch nicht oder nicht allzu gravierend negativ tangiert wird – und erst recht, wenn die Werkvertragsnutzung nach Wahrnehmung des Betriebsrates Vorteile für die Stammbeschäftigten mit sich bringt, typischerweise wird eine Stabilisierung der Beschäftigungsverhältnisse durch eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens qua Werkvertragsnutzung unterstellt« (Werkverträge im Betrieb – eine empirische Untersuchung von Hertwig/Kirsch/Wirth, Hans-Böckler-Stiftung 2015, S. 181).

Der Betriebsratsvorsitzende von Porsche, Uwe Hück, plädierte vor einigen Tagen gegen eine gesetzliche Lösung, da eine gesetzliche Regelung von Werkverträgen »eine hohe Gefahr für die Flexibilität (sei), die Unternehmen benötigen« (Wirtschaftswoche, 25. Februar 2016).

 

Tarifverträge zur Leiharbeit auf dem Prüfstand

Nach gut drei Jahren Erfahrung mit Branchentarifverträgen zu Leiharbeit, nach dem endgültigen Untergang und Abgang der gelben Gewerkschaften im Bereich der Leiharbeitstarifpolitik und vor dem Hintergrund der Gesetzesdebatte zu Werkvertrag und Leiharbeit in Berlin gilt es eine vorläufige Bilanz zu ziehen.

Die Effektivität der Branchenzuschlagstarife und der tariflichen Regelungen in den Einsatzbranchen zu den Rahmenbedingungen der Leiharbeit und zur Übernahme von LeiharbeiterInnen ist begrenzt. Die Branchenzuschläge auf die Leiharbeitsentgelte nach einer sechswöchigen Einarbeitungszeit (+ 15 Prozent nach sechs Wochen, + 20 Prozent nach drei Monaten, + 30 Prozent nach fünf Monaten, usw.) laufen wegen der typischen Einsatzdauer der meisten Leiharbeiter häufig ins Leere.

Das Gesetzesvorhaben der großen Koalition verfestigt den rechtlichen und politischen Grundsatz, dass die Diskriminierung der LeiharbeiterInnen die Regel und nicht die Ausnahme ist. Tarifpolitik bekommt in dieser Dramaturgie und Gesetzestechnik eine völlig neue Funktion und Dimension: Tarifverträge ermöglichen regelungstechnisch eine Verschlechterung von allgemein-gesetzlichen Standards und setzen nicht mehr an gesetzlichen Mindeststandards an, um auf dieser Grundlage im Einzelnen bessere Regelungen zu installieren. Wenn es schwarze Pädagogik gibt  – gibt es dann auch eine schwarze Tarifpolitik?

Wir sollten uns daran erinnern, dass die EU-Richtlinie zur Leiharbeit (2008/104/EG) Ausnahmen von equal pay im Kern nur für die Konstellation zulässt, wo der Verleiher auch in den verleihfreien Zeiten das volle Arbeitgeberrisiko (inklusive Vergütung) trägt. Diese Konstellation ist in Deutschland in der Leiharbeitslandschaft eher die Ausnahme, da (kurze) befristete Einsätze beim Entleiher mit befristeter Beschäftigung beim Verleiher synchronisiert werden und die trickreiche Ge­staltung der Arbeitszeitkonten die Verleiher weitgehend vom Vergütungsrisiko in der verleihfreien Zeit entlastet.

Selbst in der o.g. Konstellation, wo die EU-Richtlinie Ausnahmen von equal pay zulässt, muss das »Gesamtschutzniveau« der LeiharbeiterInnen gewährleistet sein. Bei Einkommensdifferenzen von 30-40 Prozent im Vergleich zu Stammbeschäftigten und gleichzeitig höheren Arbeitsmarktrisiko als die Stammbelegschaft kann von »Gesamtschutz« wohl nicht mehr die Rede sein. Das EU-
Gemeinschaftsrecht zur Leiharbeit stellt auf personalwirtschaftliche Flexibilitätsanforderungen der Unternehmen ab. Leiharbeit soll vorübergehende Bedarfe abdecken und nicht dauerhaft Teile der betrieblichen Arbeit unter die üblichen Standards der tariflichen Arbeitsbedingungen drücken. Daher ist das gemeinschaftsrechtliche Verständnis von personalwirtschaftlicher Flexibilität arbeitsplatz- und nicht leiharbeiterbezogen, wenn es darum geht, die nur vorübergehend erlaubte Überlassung zu quantifizieren und zu definieren.

Das AÜG dreht die Logik um und ermöglicht darüber eine Rotation und den Austausch von LeiharbeiterInnen auf Dauerarbeitsplätzen. Die Koalition will über Tarifverträge die Höchstüberlassungsdauer auf – wenn es der Tarifvertrag hergibt – über 24 Monate hinaus legalisieren.

Aus der Gemengelage 2012/2013 heraus – hier vor allem wegen des ›Nachglühens‹ der gelben Tarifverträge und wegen der diffusen gewerkschaftliche Strategiebildung – war die Strategie der IGM mit Branchenzuschlagstarifen nicht per se verwerflich. Heute können wir überprüfen, wie effektiv dieser Ansatz ist und welche selbstzerstörerischen Nebenwirkungen die diskriminierenden Leiharbeits­tarife haben, die die rechtliche Basis für die Suspendierung von equal pay liefern.

 

Was kann das praktisch bedeuten?

Wenn die Strategie über Branchenzuschläge fortgesetzt werden sollte, muss die Progression der Zuschläge den typischen Verleihkonstellationen angepasst werden; eine Annäherung an die Branchenvergütung muss viel schneller erreicht werden. Die Leitbilder des AÜG-Referentenentwurfs (9 bzw. 15 Monate) sind dafür nicht brauchbar. Bei den Einsatzbranchentarifverträgen ist eine Selbstdisziplinierung für die Gewerkschaften angezeigt, Öffnungsklauseln für weitreichende betriebliche Regelungen sind riskant. Bei den Einsatzbranchentarifverträgen steht mehr Rücksichtnahme darauf, was EU-rechtlich geboten ist, auf der Tagesordnung.

Außerdem kann man den Gewerkschaften die Auseinandersetzung um eine ganz andere Option des Umgangs mit der Leiharbeit nicht ersparen: Ohne diskriminierende tarifliche Regelungen würde es in der Leiharbeit equal pay geben.

Es ist durchaus möglich, dass es zum 1. Januar 2017 kein neues AÜG gibt, wenn der Regulierungsversuch der Großen Koalition im Berliner Getöse stecken bleibt. Das bestehende AÜG ist jedoch mit der EU-Richtlinie zur Leiharbeit noch weniger in Einklang zu bringen als der Nahles-Entwurf. Im geltenden Recht fehlt z.B. überhaupt eine Bestimmung oder Begrenzung der Höchstüberlassungsdauer völlig.

Die Leiharbeitstarife (DGB/BAP/IGZ) laufen Ende 2017 aus. Das wirft die Frage auf, ob die Leiharbeitstarife, die ihre technische Hauptfunktion in der Diskriminierung der Leiharbeiter haben, so fortgesetzt werden sollen. Das heißt überhaupt nicht, für tarifpolitische Abstinenz einzutreten. Zu regeln gäbe es im Leiharbeitsverhältnis mit seinen Besonderheiten wie z.B. wechselnden Einsatzorten, verleihfreien Zeiten, komplexen Arbeitszeitkonten, spezifischen Qualifizierungsthemen usw. eine ganze Menge.

Bei den Werkverträgen ist die Ausgangslage noch schwieriger. Das EU-Recht bietet hier weniger Flankenschutz als bei der Leiharbeit. Eine gesetzliche Regelung des nationalen Parlaments, die den Missbrauch von Werkverträgen im Sinne vom Unterlaufen von sozialen Standards eindämmt, ist nicht in Sicht.

Ansatzpunkte sehe ich dennoch in folgenden Handlungsfeldern: Es gibt häufig eine Auseinandersetzung innerhalb des Managements um die negativen Dimensionen der Fremdvergabe (auch der Leiharbeit), die sich in versteckten Kosten, Steuerungsproblemen, Rechtsrisiken, Know-How-Verlust und Risiken im Qualitätsmanagement abbilden. Hier können Betriebsräte und Gewerkschaften die vergabeskeptische Fraktion im Management (sofern es die vor Ort gibt) stützen. Diese eher instrumentelle Argumentation ersetzt nicht das projekthafte politische Auftreten von Betriebsräten und GewerkschafterInnen in Stammbetrieben, wenn es um elementare Arbeitsbedingungen (Arbeitsschutz, Arbeitszeit) der Werkvertragsbeschäftigten geht. Politische Interventionen werden nicht deswegen unmöglich, weil und wenn die rechtlichen Zuständigkeiten nicht klar sind.

Bei den denkbaren (freiwilligen) Betriebsvereinbarungen zum Werkvertragseinsatz gibt es ein breites Spektrum von Optionen: von Regelungen, die den Werkvertragseinsatz aus der Perspektive der Stammbelegschaft nur kanalisieren bis hin zu Betriebsvereinbarungen, die auf vergleichbare Arbeitsbedingungen wie im Stammbetrieb bei der Werkvertragsvergabe abstellen. Mit der Formel der Tarifierung entlang der Wertschöpfungskette hatte vor allem die IGM die Arbeitsbedingungen in Werkvertragsunternehmen auf die Tagesordnung gesetzt. Bleibt abzuwarten, wie stark die inhaltlich-materielle Synchronisierung von tariflichen Regelungen zwischen Kernbranche und Zulieferer angepackt wird.

 

*  Andreas Bachmann ist Mitglied der express-Redaktion und Betriebsrat bei einer Versicherung.

 

Anmerkungen:

1)  Onsite-Werkvertrag: Dauerhafte Werkvertragsvergabe im Kernbereich der Wertschöpfung bzw. des Betriebszwecks des Bestellers, häufig auf seinem Betriebsgelände

2)  So der Vorschlag von C. Brors und P. Schüren im Gutachten für das Land NRW »Missbrauch von Werkverträgen und Leiharbeit verhindern« (2014) S. 11

3) Andreas Bachmann in express, Nr. 4/2013

4) Andreas Bachmann in express, Nr. 10/2013