(1) Frauen und Geschlechterverhältnisse in Irak

(Teil 1 des Artikels, Fortsetzung siehe Teil 2)

in (15.10.2004)

Allen, die während der letzten Monate die Medien verfolgt haben, sind sich bewusst, dass es in Irak unterschiedliche ethnische Gruppen gibt, vor allem Araber, Kurden und Turkmenen...

Die irakische Bevölkerung unterscheidet sich auch nach ihrer religiösen Zugehörigkeit: Die Mehrheit sind schiitische Muslime, obwohl in der Vergangenheit die Sunniten das Land regiert haben. Manche mögen sogar gehört haben, dass es auch christlichen Gruppen gibt - Katholiken, Orthodoxe und Assyrer; oder dass der Irak früher die Heimat der ältesten und größten jüdischen Gemeinschaft in der ganzen Region war.

Was in den Medienberichten aber untergeht oder ignoriert wird, ist die tatsächliche Bevölkerungsmehrheit: Frauen. Nach verschiedenen Schätzungen sind 55-60% der irakischen Bevölkerung Frauen. Diese demographische Schieflage geht auf drei Kriege (den Irak-Irankrieg 1980-1988, den Golfkrieg 1991 und die US-Invasion 2003), auf Auswanderung und auf die politische Repression und Hinrichtungen durch das gestürzte Regime zurück. In letzter Zeit sind die Gewalt im Zusammenhang mit den Besatzungsmächten und der Widerstand gegen sie hinzugekommen. Dennoch fehlen Frauen völlig in den meisten Medienberichten. Weder werden sie auf den Straßen der irakischen Städte wahrgenommen, noch sind sie Teil der politischen Gruppierungen, ob pro- oder antiamerikanisch.

Diese Lage kann westlichen Lesern, die sich an die Vorstellung von unterdrückten und passiven muslimischen und arabischen Frauen gewöhnt haben, als "natürlich" erscheinen (war es in Afghanistan nicht so ähnlich?). Der vorherrschende westliche Diskurs über Frauenrechte und Islam (oder das Fehlen solcher Rechte) ist insgesamt von Essentialismus und Orientalismus bestimmt. Aber im Falle Iraks ist der Versuch, die Leiden von Frauen und die Veränderung der Geschlechterverhältnisse unter Verweis auf den Islam zu erklären, besonders irreführend. Das Unterdrückungsregime von Saddam Hussein war im wesentlichen arabisch-nationalistisch mit sozialistischen Tendenzen und nicht islamistisch. Leid und Mühsal, die auf die beständigen Kriege und die Wirtschaftssanktionen zurückgehen, lassen sich nicht mit religiösem Eifer oder Ideologie erklären.

In Wirklichkeit spielten irakische Frauen bis vor ein paar Jahren jedoch sehrwohl eine Rolle in der "Öffentlichkeit". Trotz der allgemeinen politischen Repression durch das Baath-Regime von Saddam Hussein hatten sie mit den höchsten Bildungsstand in der ganzen Region. Sie waren erwerbstätig und auf fast allen Ebenen der staatlichen Institutionen und Bürokratie aktiv und sichtbar. Aber heute sehen sich Frauen aus Angst und großem Unsicherheitsgefühl kaum in der Lage, das Haus zu verlassen. Gewalttätige Einbrüche, mafia-ähnliche Banden, die nachts die Stadt durchstreifen, zunehmende sexuelle Gewalt, Vergewaltigungen eingeschlossen und schließlich der militante Widerstand und US-Scharfschüt-zen haben Frauen in den Hintergrund gedrängt. Schon vor dem Krieg 2003 war deutlich, dass die Errungenschaften von Frauen aus den 1970er und frühen 1980er Jahren gefährdet waren und erodierten. Neben den offensichtlichsten Auswirkungen der schrecklichen humanitären Situation zeigten sich Veränderungen in den Geschlechterverhältnissen und -ideologien im Zusammenhang der umfassenden sozialen Veränderungen infolge des Kriegs, der Sanktionen und Veränderungen in der staatlichen Politik.

Schon vor diesem letzten Krieg gab es aufgrund der Sanktionen eine massive Verschlechterung der Infrastruktur (Wasser, Gesundheitsversorgung, Kanalisation, Elektrizität). Dies hat die Lebensqualität irakischer Familien gravierend beeinträchtigt. Häufig müssen sie den Tag ohne Wasser und Elektrizität überstehen. Hohe Kindersterblichkeit, weitverbreitete Fehlernährung und gestiegene Leukämieraten, andere Formen von Krebs, Epidemien und Missbildungen bei Neugeborenen gehörten zu den offensichtlichsten "Nebenfolgen" des Sanktionsregimes. Aber das Alltagsleben veränderte sich nicht nur durch die drastische Verschlechterung der ökonomischen Bedingungen und der grundlegenden Infrastruktur: auch das soziale und kulturelle Gewebe der irakischen Gesellschaft war betroffen.

Irakische Frauen haben eine Reihe tiefgehender sozialer und kultureller Veränderungen durchgemacht, die mit den Geschlechterverhältnissen und -ideologien verknüpft sind. Diese Veränderungen lassen sich nicht leicht quantifizieren und sind für Beobachter von außen nicht so einfach erkennbar. Aber wenn einer Zivilbevölkerung Krieg und wirtschaftliche Not auferlegt werden, dann leiden Frauen in verschiedener Weise. Daten über Kriege und innere Konflikte in Ländern wie Irak tendieren dazu, die geschlechtsspezifischen Notlagen zu verdecken. In diesem Artikel befasse ich mich hauptsächlich mit einer Reihe sozialer und kultureller Veränderungen, die Frauen und die Geschlechterverhältnisse beeinflusst haben. Es ist noch zu früh, um die Auswirkungen dieses letzten Krieges und der weiterbestehenden Konflikte im Irak mit Sicherheit einzuschätzen, doch einige Trends sind schon deutlich festzustellen. Für statistische Informationen und Belege wäre längerfristige und quantitative Forschung notwendig, so dass ich nur eine grobe Skizze gewisser Trends und Transformationen geben kann. Meine Ergebnisse beruhen auf Beobachtungen während meiner Aufenthalte im Irak (die letzten beiden 1991, 1997), Interviews mit weiblichen Flüchtlingen in Großbritannien und Deutschland, die erst kürzlich den Irak verlassen haben, Diskussionen mit meinen Eltern und Freunden, die den Irak regelmäßiger besuchen, Telefonkontakten mit Verwandten und Diskussionen mit einer Doktorandin, die Feldforschung im Irak durchgeführt hat.

Zum historischen Kontext

Eine Analyse der Auswirkungen der Wirtschaftssanktionen und des Krieges auf die Frauen im Irak erfordert zunächst einige kurze historische Hintergrundinformationen zur allgemeinen Lage der irakischen Frauen vor dem Einsetzen des Sanktionsregimes 1990. Trotz der unbestreitbaren politischen Unterdrückung in den 1970er und frühen 1980er Jahren genoss die Mehrheit der irakischen Bevölkerung aufgrund des Wirtschaftsbooms und der raschen Entwicklung, die sich aus den steigenden Ölpreisen und der Entwicklungspolitik der Regierung ergaben, einen hohen Lebensstandard. Dies waren die Jahre einer wirtschaftlichen Blüte und der Entstehung und Ausweitung einer breiten Mittelschicht. Staatliche politische Maßnahmen wirkten darauf hin, den Analphabetismus auszurotten, den Frauen eine Ausbildung zu geben und sie in die Erwerbstätigkeit einzubeziehen. Die anfängliche Periode nach der Nationalisierung der irakischen Ölindustrie 1972 war von wirtschaftlicher Not und Schwierigkeiten geprägt. Aber auf das Öl-Embargo der OPEC-Länder 1973, die sogenannte "Erdölkrise", folgte eine Zeit des Booms und der Wirtschaftsexpansion. Die Rohölpreise schossen in die Höhe und die erdölfördernden Länder wurden sich ihrer Verhandlungsmachtbewusst, die auf der Abhängigkeit der westlichen Länder vom Öl beruhte.

Vor dem Hintergrund dieses schnellen Wirtschaftswachstums bemühte sich die irakische Regierung aktiv darum, Frauen in die Erwerbstätigkeit einzubeziehen. 1974 bestimmte ein Regierungsdekret, dass alle Hochschulabsolventen - Männer wie Frauen - automatisch beschäftigt werden sollten. In bestimmten Berufsgruppen wie im Gesundheits- und Ausbildungsbereich bedeutete das Durchlaufen der Ausbildung einen Vertrag mit der Regierung, der die Absolventen verpflichtete, in ihren jeweiligen Berufen eine Tätigkeit anzunehmen.

Allerdings lassen sich die politischen Maßnahmen, die den Eintritt von Frauen in die Erwerbsarbeit förderten, nicht auf egalitäre oder gar feministische Grundsätze zurückführen, wenn sich auch eine Reihe von Frauen in meinen Interviews positiv über die frühe Politik der Baathisten äußerten, soweit sie zur sozialen Einbeziehung von Frauen beitrug. Anfangs beruhte die Ideologie der Baath-Partei, die bis 2003 den Irak regierte, auf arabischem Nationalismus und Sozialismus. Im Rahmen dieses Artikels kann die spezifische Motivlage und Ideologie des Baath-Regimes in bezug auf die Rollen und Position der Frau nicht im Detail untersucht werden. Man kann aber sagen, dass menschliche Arbeitskraft knapp war und dass - während die Golfstaaten Arbeitskräfte von außerhalb anwarben - die irakische Regierung die eigenen Humanressourcen des Landes erschloss. In der Folge wurde das Arbeiten außer Haus für Frauen nicht nur akzeptabel, sondern wurde zur Norm und gab Prestige. Weiter ist der Faktor zu berücksichtigen, dass der Staat versuchte, seine BürgerInnen - ob männlich oder weiblich - zu indoktrinieren. Eine Vielzahl von Parteimitgliedern wurde am Arbeitsplatz rekrutiert. Offensichtlich war es viel einfacher, Frauen zu erreichen und sie zu rekrutieren, wenn sie Teil der sogenannten Öffentlichkeit und außerhalb der Schranken ihres Heims sichtbar waren.

Unabhängig von den Absichten der Regierung führte dies dazu, dass die irakischen Frauen zu den am besten ausgebildeten und beruflich am besten gestellten in der gesamten Region gehörten. Es ist eine offene Frage, inwieweit dieser Zugang zu Ausbildung und zum Arbeitsmarkt für Frauen einen verbesserten Status bedeutete. Wie vielerorts, so veränderte auch hier die Tatsache, dass Frauen anfingen zu arbeiten, nicht automatisch die konservativen und patriarchalischen Wertvorstellungen. Außerdem bestanden große Unterschiede zwischen Frauen auf dem Land und in der Stadt und ebenso zwischen Frauen aus unterschiedlichen sozialen Klassen.

Obwohl es bereits während des Iran-Irakkriegs (1980-1988) deutliche Anzeichen für eine Verschlechterung der Lebensbedingungen und Veränderung der Geschlechterbeziehungen gab, herrschte anscheinend die Überzeugung, die Lage werde sich wieder zum Besseren wenden, wenn der Krieg erst vorbei sei. Zwar verloren während dieser Zeit viele Familien Söhne, Brüder, Väter, Freunde und Nachbarn, doch erschien der Alltag in den Städten relativ "normal", und Frauen spielten eine sehr bedeutende Rolle im öffentlichen Leben.

Auf lediglich zwei kurze "Friedens"-Jahre folgten die Invasion von Kuwait (August 1990) und der Golfkrieg (Januar-März 1991). Dieser wirkte besonders traumatisierend, weil die beständigen nächtlichen Bombardements nicht nur den Schlaf raubten und das Familienleben zerrütteten, sondern bei vielen auch dauerhafte Schocks und Angstzustände zurückließen. Ohne Unterschied haben Irakis lebhafte Erinnerungen an den Golfkrieg, und auch schon vor dem letzten Krieg berichteten viele von anhaltenden Alpträumen, Angstgefühlen und hoher Empfindlichkeit gegen bestimmte Geräusche, die auch nur entfernt an Bombe erinnern. Im Unterschied zu anderen Ländern wie etwa Bosnien-Herzegowina ist das "posttraumatische Stress-Syndrom" in Irak keine anerkannte Krankheit im medizinischen Sinn. Und selbst wenn es anerkannt würde, so würde der Mangel an Ressourcen und Kenntnissen die Behandlung unmöglich machen.

Die Folgen von Kriegen und Wirtschaftssanktionen

Ungeachtet der verallgemeinerten Darstellungen von Irakis als Täter oder Opfer ergibt eine genauere Betrachtung der irakischen Gesellschaft die offenkundige Tatsache, dass irakische Frauen wie Männer keine homogene Gruppe sind und dass sie von Sanktionen und Krieg in unterschiedlicher Weise betroffen waren. Zu diesen Unterschieden tragen u.a. folgende Faktoren bei: Wohnort (Stadt gegenüber Land), ethnische (Araber oder Kurde) und religiöse (Schiiten, Sunniten, Christen) Herkunft und, vielleicht am wichtigsten, Klasse. Das zuvor bestehende Klassensystem ist jedoch umgekehrt worden. Das geschah vor allem durch die Verarmung der zuvor breiten und stabilen gebildeten Mittelklasse und den Aufstieg einer Klasse, die vom Krieg und den Sanktionen profitierte. Diese Gruppe hatte meist enge Verbindungen zum irakischen Regime und schuf sich politische und wirtschaftliche Netzwerke zur Vergabe von Privilegien. Weiter wurden die Auswirkungen der Sanktionen und des Krieges auf das Alltagsleben überaus stark davon beeinflusst, ob man Verwandte oder enge Freunde in westlichen Ländern hatte. Überweisungen von Verwandten aus der ganzen Welt, besonders aus dem nördlichen Europa und den Vereinigten Staaten, bedeuten oft den Unterschied zwischen Elend und Durchkommen.

Für Frauen aus Klassen mit niedrigem Einkommen in städtischen Gebieten oder für Frauen, die auf dem Lande leben, ist das schiere Überleben zum hauptsächlichen Lebenszweck geworden. Es lässt sich nicht bezweifeln, dass es vor allem die armen Mütter sind, deren Kinder mit größerer Wahrscheinlichkeit nur zu einem weiteren statistischen Fall der unglaublich hohen Kindersterblichkeit werden, die auf Krankheiten und Fehlernährung zurückgeht. Aber selbst für gebildete Frauen, die einmal zu den breiten und wohlhabenden Mittelklassen Iraks gehört haben, ist die Ernährung der Kinder zur wichtigsten Sorge und zum Angelpunkt ihres Lebens geworden. HanaÂ’, die den Irak vor kurzem verlassen hat und nun in London lebt, erinnert sich:

"Ich gab meinen Kindern und meinem Mann zu essen, bevor ich selbst etwas aß. Häufig bekam ich nichts. Ich gab meinen Kindern auch zu essen, bevor ich jemanden besuchte. Vor den Sanktionen waren die Leute sehr großzügig. Man bewirtete Besucher immer mit Tee und Keksen, wenn es nicht ein richtiges Essen gab. Jetzt besuchen die Leute einander nicht mehr, um sich nicht gegenseitig in Verlegenheit zu bringen."

Während der Sanktionen waren etwa 60% der Bevölkerung von den monatlichen Nahrungsmittelrationen abhängig, die von der Regierung verteilt und durch das Programm Erdöl für Nahrungsmittel bezahlt wurden, nach dem der Irak unter UN-Aufsicht eine begrenzte Menge Erdöl fördern und mit dem Erlös dringend benötigte Nahrungsmittel auf dem Weltmarkt kaufen durfte. Nach neueren Angaben der UNICEF sind jetzt 100% der irakischen Bevölkerung von Nahrungsmittelhilfe abhängig, die gegenwärtig von den Besatzungsstreitkräften verteilt werden müssen (vgl. UNICEF 2004). Sanktionen und Krieg haben zu gewaltiger Verarmung und Unsicherheit geführt, und dies hat Frauen aus unterschiedlichen sozialen Schichten erheblichen materiellen Belastungen ausgesetzt. Die Haushaltsführung war unter den Bedingungen von Stromausfällen und Wasserknappheit zeitaufwendig, erschöpfend und frustrierend.

Die weit verbreitete Arbeitslosigkeit, hohe Inflation und der faktische Zusammenbruch der Wirtschaft haben das Alltagsleben der meisten Frauen betroffen. Über eine Bevölkerung, die gewohnt war, reichlich versorgt und selbst im Überfluss zu leben (ein Beispiel waren die wohl gefüllten häuslichen Kühltruhen), ist die Knappheit wie ein Schock hereingebrochen. Viele Frauen mussten auf hausfrauliche Fähigkeiten ihrer Großmütter zurückgreifen oder sie neu lernen. So war das Brot zu teuer, als dass man es auf dem Markt hätte kaufen können, und viele irakische Frauen hatten keine andere Wahl als mit der von der Regierung verteilten Mehlration täglich ihr eigenes Brot zu backen. Auch ist für viele Frauen vor allem auf dem Land und im Süden Iraks die Aufbewahrung von Nahrungsmitteln wegen der häufigen Stromausfälle weitgehend unmöglich geworden. Neben den offensichtlicheren Folgen im Bereich von Überlebensstrategien und Alltagsproblemen haben die Sanktionen und der Krieg ihren Eindruck auch im sozialen und kulturellen Gewebe der irakischen Gesellschaft hinterlassen. Ohne Zweifel haben die irakischen Frauen einige der Errungenschaften aus den vorangegangenen Jahrzehnten eingebüßt. Sie können sich nicht mehr durch Bildung oder Erwerbstätigkeit Geltung verschaffen, weil beide Bereiche einen rapiden Verfall erlebt haben.

Der Zusammenbruch des Wohlfahrtsstaates hatte unverhältnismäßig schwere Folgen für Frauen, die hauptsächlich davon profitiert hatten. Frauen wurden in ihr Heim und in die traditionellen Rollen als Mutter und Hausfrau zurückgedrängt. Wie die UNDP 2000 berichtete, fiel die weibliche Beschäftigungsquote von 23% vor 1991 - die höchste der Region - auf nur noch 10% 1997. Die Monatsgehälter im öffentlichen Sektor, der seit dem Iran-Irak-Krieg zunehmend mit Frauen besetzt war, fielen drastisch ab und hielten nicht Schritt mit den hohen Inflationsraten und den Lebenshaltungskosten. Viele Frauen berichteten, dass sie es sich einfach nicht mehr leisten konnten, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Der Staat stellte seine kostenlosen Dienstleistungen ein, zu denen auch Kinderbetreuung und Beförderung gehörten.

Es ist auch zu einem drastischen Rückgang beim Zugang für Mädchen und junge Frauen zu allen Sektoren des Bildungsbereichs gekommen, denn viele Familien konnten es sich nicht mehr leisten, alle Kinder in die Schule zu schicken. Der Analphabetismus, der während der 1970er und 1980er Jahre drastisch zurückgegangen war, stieg nach dem Iran-Irak-Krieg wieder stetig an, von 1985 bis 1995 von 8% auf 45%. Die Schulabbrecherquote für Mädchen in der Primarschule erreichte nach dem Frauenbericht der UNDP für 2004 35%. Nach UNICEF sind 55% der Frauen zwischen 15 und 49 Jahren Analphabetinnen (vgl. UNICEF 2004).

Der Niedergang des allgemeinen Erziehungssystems war bereits in den 1990er Jahren deutlich erkennbar. Wadat, eine gebildete Angehörige der Mittelklasse Ende vierzig, hatte bis 1995 als Lehrerin in einer Oberschule gearbeitet. Sie berichtete mir:

"Während der ersten Jahre der Sanktionen haben wir nicht so viel gemerkt, aber 1994 waren wir wirklich davon betroffen. Die sozialen Bedingungen verschlechterten sich; die Währung wurde abgewertet, aber die Gehälter waren eingefroren. Viele Frauen hörten dann auf zu arbeiten. Manche meiner Freundinnen konnten sich nicht einmal die Fahrtkosten zur Schule leisten. Vor den Sanktionen sorgten die Schulen dafür, dass wir von einem Bus abgeholt wurden, aber jetzt wurde das alles gestrichen. Für mich waren der wichtigste Grund meine Kinder. Ich wollte nicht, dass sie nach Hause kämen und dort allein wären. Das ist zu unsicher geworden. Und dann weiß ich von meiner eigenen Arbeit, wie schlecht die Schulen geworden sind, weil die Lehrerinnen gegangen sind und es für alles kein Geld gibt. So beschloss ich, dass ich sie zu Hause unterrichten muss."

Wegen der schlechten Verhältnisse, die in den Schulen aufgrund des Mangels an Ressourcen und Lehrpersonal herrschen, sind viele Eltern zu dem Schluss gekommen, dass sie selbst einen Beitrag zur Ausbildung ihrer Kinder leisten müssen.

Die höhere Bildung ist faktisch zusammengebrochen, und Abschlüsse sind angesichts der weitverbreiteten Korruption und der ununterbrochenen Abwanderung der Professoren während der 1990er Jahre wertlos geworden. In der Zeit der Wirtschaftssanktionen wurde selbst den wenigen WissenschaftlerInnen, die noch eine Stelle hatten, häufig ihr Gehalt nicht ausgezahlt. Während der gegenwärtigen Post-Saddam-Periode sind die Gehälter deutlich angestiegen. Doch die Arbeitslosenquote ist noch immer sehr hoch, und Frauen halten sich wegen der allgemeinen Unsicherheit überaus stark zurück, wieder erwerbstätig zu werden. Es gab auch viele Berichte über ein absolutes Chaos an den Universitäten, die Ausplünderung der Bibliotheken, den erzwungenen Rücktritt von Professoren, von denen viele von Studierenden mit dem Tod bedroht wurden, weil sie für Baathisten gehalten wurden.

Arbeitende Frauen wie Wadat litten unter dem Zusammenbruch ihrer Unterstützungssysteme. Ein früher bestehendes, staatlich finanziertes Unterstützungssystem bestand aus zahlreichen Krabbelstuben und Kindergärten sowie freier Beförderung zur Schule und zurück und ebenso zu den Arbeitsplätzen der Frauen. Das andere wichtige Unterstützungssystem beruhte auf der erweiterten Familie und Nachbarschaftsbeziehungen, die hilfreich bei der Kinderbetreuung waren. Seit dem Einsetzen der Sanktionen sind Frauen wegen des allgemeinen Unsicherheitsgefühls sehr zögerlich geworden, ihre Kinder bei Nachbarn zu lassen.

Die Kriminalitätsrate ist seit dem Golfkrieg angestiegen. Viele Frauen berichteten, das sie vor der Auferlegung der Sanktionen alle Türen offen ließen und sich völlig sicher fühlten. Während des Sanktionsregimes gab es zahlreiche Berichte über Einbrüche, die oft gewaltsam waren. Und in der gegenwärtigen Lage sind Plünderung, Einbruch, Mord und Vergewaltigung weit verbreitet. Abgesehen von den mafiaähnlichen Banden, die nachts die Stadt durchstreifen, wollen die meisten Iraker ihre Waffen nicht abgeben, weil sie der Meinung sind, sie müssten sich und ihre Familien verteidigen. Weil die britischen und US-Soldaten Krankenhäuser, Museen, Bibliotheken usw. nicht effektiv schützen, sind die Imame in den Moscheen die Einzigen, die erkennbar in systematischer Weise für Sicherheit gesorgt haben.

Familien- und Geschlechterverhältnisse im Wandel

Obwohl irakische Familien herkömmlich sehr eng verbunden waren und sich gegenseitig unterstützten, sind die Familienbeziehungen durch Neid und Konkurrenz im Überlebenskampf belastet worden. Früher wuchsen Kinder inmitten ihrer erweiterten Familien auf. Sie waren oft im Haus ihrer Großeltern, Onkel und Tanten und übernachteten dort. Heutzutage, wo die Leute zuerst an sich selbst und die ihnen am nächsten Stehenden denken müssen, sind die Kernfamilien sehr viel wichtiger geworden.

Manche Frauen berichteten, sie besuchten ihre Verwandten nicht mehr, um sie nicht in Verlegenheit zu bringen, weil sie ihnen keine Mahlzeit vorsetzen könnten. Gastfreundschaft, vor allem im Hinblick auf Essen, ist ein sehr wichtiger Bestandteil der irakischen Kultur. Heutzutage können die meisten irakischen Familien ihren Gästen kein vollständiges Essen geben. Schuld daran sind die verbreitete Arbeitslosigkeit und die niedrigen Gehälter während der Sanktionsperiode und jetzt die Zustände von Chaos, mangelnder Sicherheit und nach wie vor verbreiteter Arbeitslosigkeit unter dem Besatzungsregime. Dieser Umstand hat sich verheerend auf das Familien- und sonstige soziale Leben im gegenwärtigen Irak ausgewirkt. Abgesehen von ihrer Traurigkeit, ihrer Depression und manchmal ihrem Zorn sind die irakischen Frauen und Männer aller Altersgruppen bemerkenswert fatalistisch geworden und haben eine unglaubliche Widerstandsfähigkeit gegen Schmerz und Leid aufgebaut.

Der Verlust geliebter Menschen ist zu einer gemeinsamen Erfahrung für viele irakische Frauen geworden. Drei Kriege, beständige politische Repression, verbreitete Krankheiten, Fehlernähung und der Zusammenbruch des Gesundheitswesens sind verantwortlich für die vielen Todsfälle, zu denen es im heutigen Irak kommt. Nach UNICEF starben seit 1991 monatlich 4.000-5.000 Kinder wegen Fehlernährung und durch unsauberes Wasser verursachte Krankheiten, aber auch durch unterschiedliche Krebsarten, die im Zusammenhang mit den Auswirkungen von abgereichertem Uran stehen (vgl. UNICEF 2001).

Die demographischen Kosten zweier Kriege und die aufgezwungene Wirtschaftsmigration von Männern, die durch die Auferlegung der Sanktionen ausgelöst wurde, erklärt die hohe Zahl weiblicher Haushaltsvorstände. In Basra waren 2003 nach dem UNICEF-Bericht von Oktober 2003 bis zu 60% aller Haushaltsvorstände Frauen. Die Human Relief Foundation schätzt, dass es in Irak nahezu 250.000 Kriegerwitwen gibt. Nach einer neueren Studie im Auftrag der UNDFW über Witwen in Bagdad lebt in dem kleinen Distrikt von Al-Sadr City HaiÂ’our fast in jedem Mehrfamilien-Haushalt eine Witwe (vgl. UNDFW 2004). Nicht allein Kriegswitwen haben ihren Mann verloren, sondern auch Frauen, deren Männer ins Ausland gingen, um der trostlosen Lage zu entgehen und Wege zu finden, ihre Familien zu versorgen. Andere Männer verließen ihre Frauen und Kinder einfach, weil sie nicht damit zurechtkommen konnten, dass sie die sozialen Erwartungen an einen Familienversorger und Brotverdiener nicht erfüllen konnten. Während der 1990er Jahre wiesen die Haushalte mit weiblichem Vorstand, solche in ländlichen Gebieten und arme Haushalte die höchsten Raten bei Kleinkind- und Kindersterblichkeit auf. Während diejenigen, deren Männer im Krieg gefallen sind, eine kleine staatliche Rente erhielten, haben die, deren Männer vom früheren Regime aus politischen Gründen umgebracht worden sind, überhaupt nichts bekommen und mussten sich alleine durchschlagen.

Aber auch die Frauen, die immer noch Männer haben, die am Leben sind, stehen unter Druck: Die schwierige wirtschaftliche und politische Lage scheint sich auf die Beziehungen zwischen Ehemännern und Ehefrauen auszuwirken. Es gibt keine genauen Zahlen, aber anscheinend ist die Scheidungsrate beträchtlich angestiegen. Eine Sozialarbeiterin, die irakische Flüchtlinge in London betreut, berichtete, dass die Paare, die vor kurzem aus dem Irak gekommen sind, eine sehr hohe Scheidungsrate aufweisen. Etwa 25% der irakischen Flüchtlinge in Großbritannien leben entweder getrennt oder sind geschieden. Einige Frauen sagten, ihre Männer seien in den letzten Jahren gewalttätiger und ausfälliger geworden. Weitverbreitete Verzweiflung, Frustration und die Beschämung, die sich in der Wahrnehmung damit verbindet, die Familie nicht versorgen zu können, rufen nicht nur Depression, sondern auch Zorn hervor. Frauen sind oft diejenigen, die unter der Frustration ihrer Männer zu leiden haben.

Die Familienplanung ist zu einer Quelle von Spannungen und Konflikten zwischen Ehemännern und Ehefrauen geworden. Vor dem Iran-Irak-Krieg waren alle Formen der Verhütung zugänglich und legal. Während des Krieges wurde die Verhütung illegalisiert, weil die Regierung versuchte, die Frauen dazu zu bewegen, eine große Zahl neuer Bürger zu "produzieren", um die Verluste während des Kriegs auszugleichen. Es wurden zahlreiche Anreize geschaffen, wie die Ausweitung des Mutterschaftsurlaubs auf ein Jahr, wovon sechs Monaten bezahlt wurden. Babynahrung und -güter wurden importiert und subventioniert.

Nach dem Golfkrieg 1991 gab es immer noch keine Verhütungsmittel, aber die Einstellung der Frauen zu Kindern hatte sich wegen der materiellen Umstände und des moralischen Klimas verändert. Es besteht eine Furcht vor angeborenen Krankheiten und Geburtsfehlern, die seit dem Golfkrieg 1991 unglaublich hoch sind. Anders als früher wollen irakische Frauen nicht gerne viele Kinder. Abtreibung ist illegal, und daher riskieren viele Frauen Gesundheit und Leben bei illegalen Abtreibungen im Hinterzimmer. Der Direktor eines Waisenhauses in Bagdad sprach 1997 von einer neuen Erscheinung im Irak: Frauen setzen neugeborene Kinder auf der Straße aus. Diese Babys können sogenannten unstatthaften Beziehungen entstammen, aber wie der Direktor berichtet, werden sie von verheirateten Frauen ausgesetzt, die es einfach nicht ertragen können, dass sie ihre Kinder nicht ernähren können.

Trotz der allgemeinen Belastungen für die ehelichen Beziehungen sagen einige Frauen, die Beziehung zu ihrem Mann sei besser geworden. Aliya, eine Hausfrau Ende dreißig, sagt:

"Mein Mann hat vor den Sanktionen nie etwas im Haus gemacht. Er arbeitete in einer Fabrik außerhalb Bagdads. Seit er nicht mehr arbeitet, hilft er mir beim Brotbacken und der Kinderbetreuung. Wir verstehen uns viel besser als vorher, weil ihm allmählich klar wird, dass ich zuhause sehr hart arbeite."

Während Ehen und Familien in vielfältiger Weise betroffen sind, können viele irakische Frauen von einer Heirat und einer eigenen Familie nur träumen. Eine der zahlreichen Konsequenzen des gegenwärtigen demographischen Ungleichgewichts zwischen Männern und Frauen besteht darin, dass junge Frauen nur schwer heiraten können. Die Polygamie, die allmählich weitgehend auf den ländlichen Raum und Personen ohne Schulbildung zurückgedrängt worden war, hat in den letzten Jahren wieder zugenommen. Es gibt auch immer mehr junge Frauen, die irakische Migranten im Ausland heiraten, die meist viel älter sind als sie selbst. Dem liegen vor allem wirtschaftliche Ursachen zugrunde, weil die meisten irakischen Männer nicht in der Lage sind, eine Familie zu ernähren. Wie einige Frauen berichten, gibt es zahlreiche Fälle von Frauen, die mit dem Leben im Ausland nicht zurecht gekommen sind und sich gegenüber ihren Ehemännern und ihrer neuen Umgebung völlig fremd fühlen. Andere werden an ältere Männer in Irak verheiratet, häufig um innerhalb der Familie Schulden zu begleichen.

Eine weitere weit verbreitete Erscheinung ist das, was eine irakische Frau als "Heirat unterhalb der eigenen Klasse" bezeichnete. Traditionell ist der Irak eine sehr klassenorientierte Gesellschaft gewesen, in der ein Familienname oder Herkunft viele Türen öffnen oder schließen konnte. Jetzt lassen sich höhere Mobilität und weniger starre Klassenschranken erkennen. Das liegt teilweise an der uneinheitlichen demographischen Situation zwischen Männern und Frauen, bezieht sich aber auch auf die oben erwähnte radikale Umkehrung der Klassenstrukturen. Die Verarmung der vormals wohlhabenden Mittelklassen geht mit dem Auftreten einer Klasse von Neureichen aus Kriegs- und Sanktionsprofiteuren einher.

Während die Mehrheit der irakischen Bevölkerung verarmte und schwer unter der Politik ihrer eigenen Regierung sowie unter Krieg und Sanktionen zu leiden hatte, war ein kleiner Prozentsatz in der Lage, aus der Situation Profit zu schlagen. Diese Leute arbeiten vor allem im Bereich des Schwarzmarktes und der Schattenwirtschaft und betätigen sich beispielsweise beim Schmuggel über die jordanische, syrische, iranische oder türkische Grenze. Diese Profiteure hatten früher meist enge Beziehungen zum irakischen Regime. Das Leben in Luxus inmitten von weit verbreiteten Leiden und Armut rief Neid und Verachtung hervor. Aber es war auch die Garantie für bessere Heiratsaussichten und für den Zutritt zu gesellschaftlichen Kreisen, die zuvor der gebildeten Mittel- und Oberklasse vorbehalten waren.

Islamisierung und zunehmender Konservatismus

Während eine Heirat zu einem relativ schwierigen Vorhaben geworden ist, fühlen sich vor allem junge Frauen durch eine neue "kulturelle" Umgebung unter Druck. Sie ist bestimmt durch den Niedergang moralischer Werte wie Ehrlichkeit, Großzügigkeit und Geselligkeit sowie durch eine verstärkt öffentlich zur Schau getragene Religiosität und durch Konservatismus. Viele Frauen, die ich interviewte, stimmten mit einer meiner weiblichen Verwandten überein, wenn sie traurig über die umfassende Umkehrung der kulturellen Kodices und moralischen Werte sprachen. Ich werde nie vergessen, wie mir eine meiner Tanten sagte: "Weißt Du, Brücken und Häuser lassen sich leicht wieder aufbauen. Das dauert, aber das geht. Aber was sie wirklich zerstört haben, das sind unsere Moral und unsere Werte." Wie viele andere irakische Frauen, mit denen ich sprach, meinte sie traurig, Ehrlichkeit lohne sich nicht mehr. Die Leute sind korrupt und raffgierig geworden. Vertrauen ist ein sehr seltenes Wort geworden und Neid gibt es selbst in der engsten Verwandtschaft.

Junge irakische Frauen sprechen oft über Veränderungen im gesellschaftlichen Verkehr, in Beziehungen, in den Familien, der Nachbarschaft und zwischen Freunden. Oft werden Eltern oder ältere Verwandte als Beleg dafür zitiert, wie anders es früher aussah, als der gesellschaftliche Verkehr einen viel größeren Teil im Leben einnahm. Zeinab, eine fünfzehnjährige junge Frau aus Bagdad sprach vom mangelnden Vertrauen zwischen den Leuten. Sie meinte, die Veränderung der Bekleidungsvorschriften für Frauen und die sozialen Beschränkungen, denen sie und ihre Freundinnen sich ständig ausgesetzt sehen, erklärten sich wie folgt:

(Fortsetzung siehe Teil 2)