Kerneuropa: Drohungen und Tendenzen

In der Europäischen Union herrscht nach dem Scheitern des Verfassungsgipfels im Dezember 2003 eine beispiellose Krisenstimmung. Die Zukunft der Europäischen Union ist offener denn je.

In der Europäischen Union herrscht nach dem Scheitern des Verfassungsgipfels im Dezember 2003 eine beispiellose Krisenstimmung. Das hat tiefere Ursachen als nur die polnische und spanische Unnachgiebigkeit im Streit über künftige Mehrheitsabstimmungen. Der Krieg der USA gegen den Irak spaltete die EU und hatte tiefgehende Brüche zur Folge. Gemeinsam mit Großbritannien und anderen Alt- EU-Staaten standen die mittelosteuropäischen Beitrittsländer an der Seite Washingtons, wohingegen Frankreich und Deutschland Gegner dieses Krieges waren. Am Beginn der Erweiterung der EU auf 25 Staaten befindet sich die Union in einer komplizierten Situation. Polarisierungen erlangen eine bislang nicht gekannte Schärfe. Nationale Interessenvertretung wird härter. Die unausgesprochene Hierarchie in der Union stößt auf schärfere Kritik. Der Bruch des Stabilitätspaktes zeigt, daß die Hauptmächte die immer wieder beschworene "Rechtsgemeinschaft" in Frage stellen, wenn sie ihren Interessen widerspricht. Langwierige Konflikte über die künftige Finanzverteilung zeichnen sich ab. Die absehbaren Beitrittsverhandlungen mit der Türkei stimulieren die Auseinandersetzung über die Zukunft der Union. Das Bürgervertrauen in die EU sinkt rapide. Nach dem jüngsten Euro-Barometer (für Herbst 2003) haben nur noch 39 % der Deutschen von der EU ein positives Bild. Möglichkeiten, die Gestaltung der größeren Union zu beeinflussen, werden kaum gesehen. Die Zukunft der Europäischen Union ist offener denn je. Eine klare Antwort auf die Frage, wohin dieses Gebilde treibt, hat niemand, urteilte die "Süddeutsche Zeitung" am 14. 1. 2004.

Kerneuropa als Drohkulisse
Nach dem Brüsseler Desaster wird insbesondere von Deutschland und Frankreich massiver Druck ausgeübt, um "Widerständler" zum Einlenken zu veranlassen. Verbesserte Handlungsfähigkeit der erweiterten Union soll unter maximaler Berücksichtigung ihrer hegemonialen Interessen durchgesetzt werden. Von deutscher Seite wird die Finanzkeule geschwungen und mit einem Europa "unterschiedlicher Geschwindigkeiten" gedroht. Sollte die gewünschte Einigung über den Verfassungsvertrag nicht in absehbarer Zeit erreicht werden, dann müsse, so Bundeskanzler Schröder, mit einem Kern weitergegangen werden.1 Für Außenminister Fischer wird sich die EU unausweichlich in ein Europa "unterschiedlicher Geschwindigkeiten " auseinander entwickeln, wenn keine Einigung erreicht werde. "Diejenigen, die weitergehen wollen - in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, in der Zusammenarbeit bei der Innenpolitik, bei Justiz und Recht -, werden weitergehen, wenn die Verfassung scheitert. Sie werden es um so entschiedener tun, je weniger sie daran glauben, dass dieses Europa als Ganzes handlungsfähige Strukturen bekommt ... . Das Kerneuropa, von dem ich rede, ist kein Ziel, nur faktische Konsequenz dessen, was wir zurzeit erleben."2

Kommissionspräsident Prodi bekundet Sympathie für derartige Vorstellungen. Eine solche Entwicklung könne jedoch erst akut werden, falls in diesem Jahr keine Einigung erreicht werde. Dann werde Europa "nicht stehen bleiben können". Mit dem Hinweis, die EU könne sich "nicht immer nach dem Langsamsten richten", wiederholte er seine Warnung, die Union werde ohne eine Verfassung in eine Gemeinschaft unterschiedlicher Entwicklungen verfallen.3 Der Luxemburger Ministerpräsident Juncker ist ebenfalls der Ansicht, bei einem Scheitern der Regierungskonferenz werde es zwangsläufig zu einem Europa unterschiedlicher Geschwindigkeiten oder auch zu einem Kerneuropa kommen. Eine solche Neugründung - beispielsweise aus Deutschland, Frankreich, Luxemburg und Belgien - wird von ihm nicht ausgeschlossen. "Vielleicht steckt der Karren irgendwann so fest, daß ein paar von uns allein weitermachen müssen. Wer aber schon heute mit einer solchen Drohung in die Verhandlungen geht, hilft nur denjenigen, die die EU sowieso zu gerne nur als großes Benefizkonzert sähen. Es gibt nun mal sechs Gründungsmitglieder, die einst das ganze Risiko eingegangen sind und die wissen, worum es bei der kontinentalen Sache geht. Alle anderen haben erst später mitgemacht, als sie sahen, wie gut das Ganze funktioniert - wobei ich das explizit nicht als Vorwurf an die Neumitglieder meine. Wer aber wie die Briten und Spanier schon länger dabei ist und bislang wenig für Europa getan hat, sollte diese Neuhinzugekommenen nicht dauernd mit seinem halbfertigen Wissen belasten."4

Derartige Drohungen widersprechen grob den mit der "Osterweiterung " verbundenen Erwartungen und Hoffnungen auf eine demokratisch und sozial verfaßte Union gleichberechtigter Mitgliedstaaten.

Die reale Renaissance der Kerneuropa-Idee
Erwägungen über "Kerneuropa" fungieren einerseits als Drohkulisse. Andererseits gibt es aber auch eine tatsächliche Renaissance derartiger Ideen, über die seit langem kontrovers diskutiert wird. Stichworte sind dabei: "variable Geometrie", "Europa der konzentrischen Kreise", "Europa à la carte", "abgestufte Integration". Forderungen nach einem Kerneuropa wurden in einem von Karl Lamers und Wolfgang Schäuble im September 1994 vorgestellten Papier der CDU/CSU-Bundestagsfraktion deutlich formuliert. Ex-Kommissionspräsident Jacques Delors sprach sich Anfang 2000 für eine "Avantgarde" in einer vertraglich - "Vertrag im Vertrag" - konstituierten "Föderation von Nationalstaaten" mit eigenen Institutionen und Regeln aus, die parallel zur EU-Erweiterung tätig werden und eine bessere Abstimmung der Währungspolitik, eine wirkungsvolle gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sowie die Schaffung eines "Raumes der Sicherheit" ermöglichen sollte.5

Außenminister Fischer engagierte sich für ein "Gravitationszentrum " in der Union. Staatspräsident Chirac regte im Bundestag an, die Dynamik der Integrationsprozesse durch "Pioniergruppen" zu fördern, notfalls auch außerhalb der Verträge.6 Helmut Schmidt und Giscard dÂ’Estaing nannten als Teilnehmer einer Avantgarde die Staaten der Euro-Zone.7

Mit derartigen Absichten waren stets weitreichende strategische und machtpolitische Überlegungen westeuropäischer Führungskreise verknüpft. Offener denn je wird nunmehr die Machtfrage in der Union gestellt. Eine Staatengruppe soll zur Basis europäischer Neuordnung werden, die die Richtung der Integration bestimmt und die Peripherie daran bindet. Bei den verschiedenen Varianten dominieren in der Regel außen- und sicherheitspolitische sowie militärische Bezüge.

Die Probleme und Spaltungen in der Union in Verknüpfung mit der nahenden Osterweiterung und dem Irak-Krieg veranlaßten Intellektuelle zu Wortmeldungen zur Zukunft der Union. Jürgen Habermas beschrieb die durch die unterschiedliche Haltung zum Irak- Krieg entstandene Situation so: "Offensichtlich wurde eine Kluft zwischen dem ›alten Europa‹ auf der einen und den mittelosteuropäischen Beitrittskandidaten auf der anderen Seite. Die mittelosteuropäischen Länder streben zwar in die EU, ohne jedoch schon bereit zu sein, ihre eben erst gewonnene Souveränität wieder einschränken zu lassen. Sie tendieren auch dazu, am bestehenden Modus des intergouvernementalen Regierens festzuhalten. Einstweilen sind wohl nur die kerneuropäischen Mitgliedstaaten bereit, der EU gewisse staatliche Qualitäten zu verleihen. Wenn Europa nicht auseinanderfallen soll, müssen diese Länder jetzt von dem in Nizza beschlossenen Mechanismus der ›verstärkten Zusammenarbeit‹ Gebrauch machen, um in einem ›Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten‹ mit einer gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik den Anfang zu machen. Das avantgardistische Kerneuropa darf sich nicht zu einem Kleineuropa verfestigen; es muß - wie so oft - die Lokomotive sein."8

Nach dem Scheitern des Verfassungsgipfels warb der französische Staatspräsident erneut für "Pioniergruppen". Für Außenminister Fischer ist es eine Aufgabe von "historischer Dimension", die Osterweiterung der EU durch eine stärkere Integration zu ergänzen. Ein Scheitern des Verfassungsprojekts werde "fast zwangsläufig die Entwicklung eines Europas der unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Kerne" nach sich ziehen. Seiner Ansicht nach werde es nicht "das Kerneuropa" geben. Vielmehr werde man es mit "unterschiedlichen Kernen, unterschiedlichen Geschwindigkeiten" zu tun haben. Aber es werde "eine Gruppe von Ländern geben, die überall dabei sind - sozusagen der Kern des Kerns." Es werde "unterschiedliche Teilmengen geben", aber auch eine, an der alle beteiligt sind.9 Auch EU-Kommissar Verheugen verbirgt seine Sympathie für Kerneuropa nicht, wie er im Januar im Europa-Ausschuß des Bundestages bekundete. Er bevorzuge aber den flexibleren Begriff "Gravitationszentren". Der Terminus "Kerneuropa" sei zu starr und abgrenzend, das Wort "Pioniergruppen" wiederum zu militärisch geprägt.

Diffuse Ansichten
Mit "Kerneuropa" werden zentrale politische, wirtschaftliche und militärische, institutionelle, konstitutionelle und rechtliche Fragen aufgeworfen. Wird von Kerneuropa gesprochen, so ist in der Regel eine Union mit einem machtpolitischen Zentrum von Mitgliedstaaten im Blick, die sich um das deutsch-französische Tandem scharen und die bereit sind, schneller voranzugehen. Derartige Vorstellungen und Projekte zielen zum einen auf engere Integration innerhalb der EU-Verträge bzw. innerhalb einer etwaigen Verfassung. Romano Prodi kann sich mehr Integration in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, in der Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie in der Innen- und Rechtspolitik sowie im justitiellen Bereich vorstellen.

Zum anderen wird aber auch die Konstituierung einer engeren Staatengruppe außerhalb des verfassungsmäßigen EU-Rahmens mit eigenen Institutionen und Entscheidungsmechanismen nicht ausgeschlossen. Für manche Politiker und Analytiker muß sich ein Abschied von der alten Einheits-EU zu einer neuen Ebene politischer Integration vollziehen, damit die mit der Osterweiterung heterogener werdende Gemeinschaft funktionieren könne.

Derartige Vorstellungen bergen - wie in der "Süddeutschen Zeitung " zu lesen war - große Gefahren in sich. "Zum einen könnten viele Pioniergruppen mit wechselnden Mitgliedern entstehen. Die EU würde zerfallen. Zum anderen werden die Pioniere versuchen, Kerneuropa unter sich auszumachen ...".10 Großeuropa und Kerneuropa liefen auf eine Doppelstruktur hinaus, auf eine EU innerhalb der EU.

Daß in manchen elitären Kreisen so gedacht wird, widerspiegelt sich in der Ansicht von Jacques Attali, vormaliger Präsident der Europäischen Entwicklungsbank, wonach es die dazu bereiten Länder wagen müßten, "außerhalb der bestehenden Strukturen der Union durch die Koordination ihrer politischen, militärischen und wirtschaftlichen Systeme, solange diese noch existieren, eine echte europäische Gemeinschaft zu gründen."11 Ähnlich sieht auch Jacques Delors die Dinge, falls die Zustimmung der Bevölkerung zum Verfassungsprojekt nicht erreicht werde: "Im nicht unwahrscheinlichen Extremfall könnte sich der Klub integrationswilliger Staaten vor der Alternative sehen, die übrigen Mitglieder in den Austritt aus der Gemeinschaft zu treiben oder die Verfassungskrise mit der Bildung eines autonomen Staatenbunds außerhalb der EU zu beantworten."12

Gegen ein Mehrklasseneuropa
Allergisch reagieren sowohl einige Alt-EU-Staaten als auch Neumitglieder auf exklusive Kerneuropa-Ambitionen, wobei die Schlußfolgerungen jeweils unterschiedlich ausfallen. Deutsch-französische Ansprüche auf einen privilegierten Status in der Union werden mehr oder minder deutlich zurückgewiesen. Warnungen vor desintegrativen Gefahren, vor einem karolingischen Kerneuropa, kennzeichnen viele Reaktionen. Kerneuropa-Absichten würden Gefahren für die Einheit der Union heraufbeschwören und könnten zu ihrer Spaltung in ein "Mehrklasseneuropa" führen.

Der irische Ratspräsident, Bertie Ahern, lehnt die Idee eines "Europa der zwei Geschwindigkeiten" rundweg als "grundlegend schlecht" ab. Er könne nicht erkennen, wo und wie eine solche EU funktionieren könne. Das würde eine Menge von Teilungen und Schwierigkeiten schaffen. In den jetzigen Verträgen seien erweiterte Kooperationsmechanismen fixiert, die es Mitgliedstaaten gestatteten, weiter zu gehen, so wie es mit dem Euro geschehen sei. "Unter einem System mit einem Kerneuropa, das ein anderes Programm verfolge als der Rest der Staaten, würden auch der Zusammenhalt und die Solidarität in der Europäischen Union leiden."13

Sorgen über Ausgrenzungen widerspiegeln sich insbesondere in Stellungnahmen aus den Beitrittsländern. Innerhalb der Union dürfe kein exklusiver, sie ausschließender Klub entstehen, wodurch sie in die Peripherie gedrängt würden. Die Propagierung einer Avantgarde wird als "Vertrauensbruch" verstanden. Nobelpreisträger Imre Kertesz erklärte im Deutschen Bundestag, die Idee eines "Kerneuropa" sei von den mittelosteuropäischen Staaten als "hochmütige Theorie" wahrgenommen worden, sie von Entscheidungen fernzuhalten.14 Peter Bálázs, designierter ungarischer EU-Kommissar, sieht neben der Frage der doppelten Mehrheit im Ministerrat in der Kerneuropa- Frage ein weiteres zentrales Hindernis für die Annahme einer Verfassung, obwohl dieses Thema beim Dezembergipfel noch kein Verhandlungsthema war. "Die zweite Schwierigkeit sind die neuen Ideen der großen Mitgliedstaaten Frankreich und Deutschland, eine neue Art der verstärkten Zusammenarbeit zu schaffen. Die Frage ist, ob wir über die existierenden Strukturen reden, die schon engere Kooperationen zulassen, oder nicht. Bisher gibt es nur einen zeitlichen Unterschied zwischen denen, die früher, und denen, die später bei einer neuen Politik mitmachen wollen, aber keinen politischen. ... Auch Ungarn ist sich klar, daß man nicht alle Projekte mit 25 Mitgliedstaaten wird angehen können. Aber die Vorhaben sollten immer transparent sein, und es muß immer offen bleiben für Staaten, sich später anzuschließen. Wenn manche Staaten außerhalb der Europäischen Union eine neue Struktur aufbauen wollen, ist das weniger gut."15

Führende Kreise in Warschau sehen in Kerneuropa eine Gefahr für Polen und Europa. Eine spezielle Zusammenarbeit von Mitgliedern innerhalb oder außerhalb der EU-Struktur würde den Zusammenhalt in der Union schwächen. Außenministerin Danuta warnt vor einem Kerneuropa als Folge eines endgültigen Scheiterns der Verfassung. "Wir dürfen auf keinen Fall den Binnenmarkt und die Wettbewerbspolitik untergraben." Polen werde eine engere Zusammenarbeit integrationswilliger Staaten in politischen Bereichen wie etwa der Sicherheits- und Verteidigungspolitik unterstützen.16 Für Ex-Botschafter Reiter wäre das "eine sehr unerfreuliche, um nicht zu sagen verhängnisvolle Entwicklung", die er aber "nicht so kommen sehe." Sie habe "eigentlich keinen großen politischen Sinn. Insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik, wo das von größerer Bedeutung wäre, vor allem solange Großbritannien dabei ist, wird es eben keine kleineuropäische Lösung geben." Polen jedoch müsse dennoch erkennen, daß dies eine Frage sei, "auf die man in Polen Rücksicht nehmen sollte."17 Für Adam Michnik sind die deutsch-polnischen Beziehungen erneut spannungsgeladen. Dazu trügen die unterschiedlichen Antworten zu den Fragen bei, welches Europa anvisiert, wie die EU konstruiert, wie das Verhältnis zu den USA gestaltet werden soll. Polen fürchte nicht neue Unterdrückung. "Aber man fürchtet, als jüngerer, etwas mißratener Bruder behandelt zu werden, dem man diktieren kann, was er zu tun hat, oder den man diskriminiert und ohne den man wichtige Entscheidungen trifft. ... Machen wir uns nichts vor: Die EU wird sowieso vom deutsch-französischen Konzert dominiert werden. Die Frage ist nur: in welchem Maß? Wir glauben, es sei im Namen der Prinzipien der EU, der Solidarität und Kohärenz besser, ihren Einfluß etwas zurückzubinden. Warum sollte man Chiracs oder Schröders Sorge um ihre jeweiligen nationalen Interessen als europäisch deklarieren, aber die Sorge des polnischen Premiers Miller als ethnischen Egoismus abtun?"18

Die Bereitschaft Polens, seine Interessen so stark zu verteidigen, findet den Beifall des tschechischen Staatspräsidenten Klaus. Für ihn brauche Europa keine "Beschleunigung der Integration". Der sozialdemokratische Ministerpräsident Spidla hingegen befürwortet eine Teilnahme Tschechiens an einem Kerneuropa, "dem Teil mit der höchsten Geschwindigkeit".19

Die lettische Präsidentin Vike-Freiberga äußerte gleichfalls Besorgnis, die erweiterte Union könne nach dem Riß über die künftige Verfassung zu einer zweigeteilten Gemeinschaft werden.20

Der vormalige Ministerpräsident Sloweniens, Alojz Peterle, einziger Vertreter der Beitrittsländer im Präsidium des Konvents, konstatiert zwar, es sei nichts dagegen einzuwenden, daß einige Länder rascher vorangingen als andere, denn Fortschritte in Europa seien immer über Differenzierung erreicht worden. Eine solche müsse jedoch im Rahmen eines offenen Modells erfolgen, ohne Zuschauer und Statisten, ohne "zwei Familien". Wenn von einem Europa der zwei Geschwindigkeiten die Rede sei, werde das in den Beitrittsländern als "Bestrafung" verstanden. Zudem wecke der in Frankreich positiv besetzte Begriff "Avantgarde" in Beitrittsländern "aufgrund historischer Erfahrungen negative Assoziationen".21 Expräsident Milan Kuc¡an schlägt in die gleiche Kerbe, wenn er vermerkt: "Wenn die Großen nur ihre Macht untereinander aufteilen, werden die Kleinen bald weg sein." Ständige Allianzen, wie die Bildung eines "Kerneuropa", seien negativ. "Da würde sich eine Seite gegen die andere stellen, das ist weit entfernt vom Geist eines gemeinsamen Europa."22 Und Außenminister Dimitrij Rupel fügt hinzu: "Ein Europa der zwei Entwicklungsgeschwindigkeiten ist kein optimales Ziel, es wäre nur die äußerste Lösung."23 Wenn es sie aber gebe, dann müsse man sich den schnelleren EU-Mitgliedern anschließen.

Zu den Warnern gehört auch Ungarns Premier Peter Medgyessi. Die EU dürfe "auf das Scheitern der Verfassungsverhandlungen" keinesfalls "mit einem Kern besonders integrationswilliger Staaten ... reagieren." Nur ein "erweitertes, starkes und integriertes Europa" könne "die Herausforderungen meistern, die ihm gestellt werden - sei es die Macht der USA, das wachsende Gewicht Chinas oder die Renaissance Japans." Die Bildung eines harten Kerns sei jedoch unabwendbar, wenn sich die erweiterte EU nicht auf eine Verfassung einige. Die verstärkte Zusammenarbeit von Staatengruppen innerhalb der EU werde erst dann zur richtigen Antwort, wenn es anders nicht funktioniert. "Wenn wir mit 25 Staaten nicht vorankommen, wird ein harter Kern entstehen. Dann wird jeder entscheiden müssen, ob er draußen bleiben oder dazu gehören will." Wenn es aber doch zu einer stärker integrierten Staatengruppe komme, dann - freilich - wolle Ungarn dazugehören.24

Es ist unübersehbar, daß in manchen Beitrittsländern sehr ernsthaft überlegt wird, wie im Falle einer eigentlich nicht gewünschten EU-Entwicklung Ausgrenzung verhindert und Teilnahme am "Kern" erreicht werden kann.

Ansätze eines Kerneuropa
Kerneuropa ist nicht nur eine Frage der Zukunft oder längerfristiger politischer und strategischer Überlegungen. Anzeichen, daß ein solcher Weg gegangen werden könnte, sind bereits jetzt klar erkennbar. Deutschland und Frankreich setzen auf die Dynamik ihrer bilateralen Beziehungen und engagieren sich für eine Gruppenbildung - auch, weil sie ein Gegengewicht zu den USA schaffen wollen. Das demonstrierte beispielhaft der Vierer-Gipfel Deutschlands, Frankreichs, Belgiens und Luxemburgs im April 2003, der sich für eine Vertiefung der verteidigungspolitischen Zusammenarbeit außerhalb des vertraglichen Rahmens der EU entschied, den Aufbau eigenständiger militärischer Kapazitäten befürwortete und sich für eine eigene Planungs- und Führungskapazität unabhängig von der NATO aussprach.

Deutsch-französische Arroganz zeigte sich auch im Bruch des Stabilitätspaktes zur Währungsunion. Einige kleinere Mitglieder widersetzten sich vehement der Aussetzung von Kernbestimmungen dieses Vertrages. Eine andere Konstellation zeichnet sich in der Kontroverse um die künftige Finanzverteilung ab, die der immer wieder beschworenen Solidargemeinschaft weiteren Glanz nehmen werde. Als "Problem in Europa" bewertet Italiens Europa-Minister Rocco Buttiglione das enge deutsch-französische Verhältnis. Die Verständigung zwischen beiden Ländern sei zwar wichtig. Ihre "besonderen Beziehungen" seien jedoch aus dem Blickwinkel der Nachbarn zuweilen nur "schwer zu ertragen". Insbesondere die neuen Länder müßten spüren, "daß es für sie auch Raum gibt."25 Für die spanische Außenministerin Ana Palacio ist es mit Blick auf das deutsch-französische Verhältnis an der Zeit, eine "gewisse Gründerzeitnostalgie " zu überwinden, die einfach nicht realistisch sei. "Wir sind alle Europäer, alle 25, alle haben ihren Anteil an der Union."26

Großbritannien nähert sich zögernd der deutsch-französischen Achse an - einerseits mit der Absicht, einen elitären Kern zu verhindern, andererseits mit dem Wunsch, in einer Art informellem Sicherheitsrat die Positionen zu Fragen der Sicherheit und Verteidigung abzustimmen und in einem engeren Kreis die Standpunkte zur EU-Entwicklung zu koordinieren. Spitzentreffen sollen regelmäßig stattfinden, auch mit der Absicht, gemeinsam mit Deutschland und Frankreich den Einfluß der kleineren EU-Staaten in der erweiterten Union zu begrenzen.

Daran zeigt sich: Keiner der "Großen" ist letztlich gewillt, die Gleichwertigkeit der in Untergruppen agierenden "Kleinen" anzuerkennen. Proteste gegen exklusive Dreiertreffen und ein etwaiges deutsch-französisch-britisches "Direktorium" bleiben daher nicht aus. Andererseits gibt es immer wieder Symptome einer"Gegenachse" Grosbritanniens, Italiens, Spaniens, Polens und anderer Lander gegen das deutsch-franzosische Sonderbundnis, wobei das transatlantische Verhaltnis eine besondere Rolle spielt. Der deutsche und der franzosische Europaminister bedauern polnische Versuche, eine Gegenallianz zu Deutschland und Frankreich aufzubauen, nachdem Ausenminister Wlodzimierz Cimoczewicz Spanien, Italien und Grosbritannien als "Schlusselpartner" seines Landes bezeichnet hatte. "Es ist nicht unsere Absicht, nationale Interessen in Europa neu zu gruppieren und dadurch eine Gegenbewegung zu provozieren", beschwichtigte die franzosische Ministerin Lenoir.27 Es ist dieser Hintergrund, vor dem sich sie neuerdings hau.ger artikulierte Bereitschaft zur Revitalisierung des "Weimarer Dreiecks" erklärt - jener Anfang 1991 von Deutschland, Frankreich und Polen begründeten trilateralen Zusammenarbeit.

In der Summe all dessen ist unübersehbar: In der EU agieren sehr unterschiedliche Interessenkoalitionen, die nicht einfach auf Formeln wie "Große gegen Kleine", "Alt- gegen Neumitglieder", "Mitglieder oder Nichtteilnehmer an der Währungsunion", "Reiche gegen Ärmere", "Teilnehmer an der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) oder Mitglieder mit neutralem Status oder NATO-Mitglieder" zu reduzieren sind.28 Und es ist völlig offen, in welchen Allianzen die Beitrittsländer ihre Interessen künftig in der EU vertreten werden. Die Kooperation zwischen den Vis¡egrad- Staaten Polen, Slowakei, Tschechien und Ungarn kann durchaus enger werden und Österreich einbeziehen. Traditionelle Verbindungen zwischen baltischen Ländern und nordischen EU-Staaten dürften manche neue Ausgestaltung erfahren.

Kerneuropa und Europäische Union
Welche Kerneuropa-Ideen auch immer verfolgt und umgesetzt werden: Immer ergeben sich komplizierte Wechselbeziehungen mit der Gesamtentwicklung der Union. Das betrifft selbstverständlich die Politik für einen "gemeinsamen Raum der Sicherheit und des Rechts" - die Zusammenarbeit in Bereichen der Innen- und Justizpolitik. Jede Gefährdung des Binnenmarktes und seiner weiteren neoliberalen Ausgestaltung, des Handels sowie weitestgehender Wettbewerbsfreiheit für die "Marktkräfte" soll ausgeschlossen sein. Und es betrifft natürlich auch die Währungsunion, der derzeit 12 EU-Staaten angehören und die in diesem Bereich faktisch als eine Art Kerneuropa fungiert. Die Europäische Zentralbank (EZB) sieht in unterschiedlichen Integrationsgeschwindigkeiten keine negativen Konsequenzen für die EZB und den Währungsverbund, solange die entsprechenden Bestimmungen des Maastricht-Vertrages sowie der Stabilitätspakt von 1997 nicht in Frage gestellt werden. Das sei der Fall, so Direktoriumsmitglied Tommaso Padoa-Schioppa, solange die Verpflichtung auf die Preisstabilität, die Unabhängigkeit der Geldpolitik und der Notenbank sowie deren konstitutionelle Verankerung nicht in Frage gestellt werden. Solange diese Prinzipien nicht angetastet werden, sei die Währungsunion solide genug, um mit neuen Schwierigkeiten umzugehen. 29

Solche Schwierigkeiten können aber entstehen, wenn es zu einer wirklichen wirtschafts- und finanzpolitischen Koordination in der Währungsunion kommen sollte, die von einer Kerngruppe initiiert wird. Finnland, die Niederlande und Österreich waren Wortführer der "kleinen Länder" gegen die Verletzung des Stabilitätspaktes durch Deutschland und Frankreich - gewiß auch mit der Absicht, dem deutsch-französischen Machtkern Grenzen aufzuzeigen. Die "Kleinen" sind nicht bereit, von den "Großen" nach Belieben dominiert zu werden. Die Mehrheitsentscheidung im Finanzministerrat belastet das Klima zwischen großen und kleinen EU-Ländern und trug zum Scheitern des Verfassungsgipfels bei, meinte die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" am 15. Januar. Für eine restriktive Arbeitskräftepolitik gegenüber den Beitrittsländern nach der Erweiterung engagieren sich nunmehr neben Deutschland und Österreich auch die meisten anderen EU-Länder. In den Konflikten um die künftige Finanzverteilung bilden sich wiederum andere Konstellationen heraus. Acht Nettozahler - Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Schweden, Österreich, die Niederlande und Schweden - verlangten in einem Brief an die EU-Kommission im Dezember 2003, der künftige Gemeinschaftshaushalt - erstmals für 25 Staaten - dürfe trotz der Osterweiterung nicht über 1% der gemeinsamen Wirtschaftsleistung ansteigen. Erwogen wird, zusätzliche Ausgaben durch Leistungsumschichtung aus dem Süden nach Mittelosteuropa zu finanzieren. Ungarns Ministerpräsident kommentierte die Achterinitiative mit den Worten: "Das war nicht sehr freundschaftlich. Es geht hier nicht um milde Gaben, sondern um Solidarität." Es sei merkwürdig, wenn diese Länder, die sich stets für eine große EU-Erweiterung eingesetzt hätten, heute entdeckten, "daß dies Geld kosten wird."30 Von einer Solidargemeinschaft ist angesichts dringend notwendiger Hilfe für die wirtschaftsschwächeren Beitrittsländer und notwendiger Umverteilungen wenig zu spüren!

Kerneuropa und Militärunion
Gravierend sind die Meinungsverschiedenheiten zwischen den EU-Ländern hinsichtlich einer eigenständigen Rolle und Funktion der EU als internationaler Akteur, insbesondere im transatlantischen Verhältnis.

Frankreich und Deutschland engagieren sich seit langem für eine autonome Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit der EU im Bereich der Sicherheit und Verteidigung. Dafür hatte bereits der Maastrichter Vertrag über die Europäische Union von 1992 Weichen gestellt. Während des NATO-Krieges gegen Jugoslawien wurde 1999 das Projekt einer "Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik " (ESVP) sowie einer "Europäischen Verteidigungsidentität" verabschiedet. Neue Gremien wurden eingerichtet - ein Politisches und sicherheitspolitisches Komitee, ein Militärausschuß, ein Militärstab -, und die EU-Staaten (mit Ausnahme Dänemarks, das bislang generell an der ESVP nicht teilnimmt) verständigten sich über die Aufstellung militärischer Einsatzkräfte auf Basis nationaler Mittel und mit einer Stärke von 60 000 Mann. Sie sollen in Kombination mit bereits bestehenden europäischen multinationalen Streitkräften - so dem Eurokorps - und in Abstimmung mit der NATO von der EU geführte militärische Operationen ermöglichen. London stimmt dieser westeuropäischen Kooperation zu. Deutsch-französische Anstrengungen in Richtung einer Sicherheits- und Verteidigungsunion führten allerdings im Zusammenhang mit dem Irak-Krieg zu einem scharfen Konflikt mit Großbritannien und anderen eng mit der Politik der Bush-Administration verbundenen Regierungen.

Trotzdem gewannen in den Führungskreisen einiger EU-Mitglieder vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Irak-Krieges Vorstellungen Raum, die Union müsse über eine eigenständige, weltweit handlungsfähige und auf längere Sicht gegebenenfalls von der NATO und damit von den USA unabhängige Interventionsstreitmacht verfügen. Aus Sicht des britischen Generalsekretärs des Konvents, John Kerr, "muß die EU im militärischen Bereich wie bei der Währungsunion ganz konkrete Etappen und Maßstäbe festlegen." Damit ist eine Verbesserung der Fähigkeiten der EU, militärisch zu agieren, gemeint, wenn die NATO sich als Ganzes nicht engagieren will. Daß dies alles ohne Großbritannien keinen Sinn macht, ist seit dem "Pralinengipfel" vom April 2003 ziemlich klar. Und so haben sich Berlin/Paris auf der einen und London auf der anderen Seite aufeinander zu bewegt. Im Grunde garantiert das Mitmachen der Briten, daß dabei kein neuer Versuch einer Gegenmachtbildung gegen Amerika herauskommt - und damit wird dieses Projekt nicht nur akzeptabel, sondern attraktiv für Polen und andere "Neu- Europäer".31

Damit erklärt sich die Zustimmung der USA-Beflissenen zu der vom Brüsseler Gipfel angenommenen gemeinsamen Sicherheitsstrategie "Ein sicheres Europa in einer besseren Welt", in der der Streitpunkt Aufbau der EU als Gegenmacht zu den USA umgangen wurde. Und es erklärt sich auch die Billigung eines in Brüssel angesiedelten EU-Gremiums, das eigenständige militärische Einsätze der EU planen und leiten soll, nachdem sich die USA lange selbst gegen jeden begrenzten Schritt zu einer EU-Militärstruktur gewehrt hatten. Die meisten Beitrittsländer akzeptieren eine gemeinsame EUSicherheitspolitik sowie eine engere militärische Zusammenarbeit, solange "kollektive Verteidigung" und Bündnisverpflichtungen in der NATO unangetastet bleiben.

Anhänger Kerneuropas bestehen jedoch auf der "Perspektive einer europäischen Verteidigung". Die dazu bereiten Staaten müßten, so die französische Verteidigungsministerin, die Rolle eines Motors spielen.32 Im Blick ist dabei letztlich eine Militärunion mit einer integrierten Armee und einem gemeinsamen Kommando.

Dies aber führt erneut zu widerstreitenden Ansichten. Schweden und Finnland - in den Worten ihrer Außenminister Laila Freivolda und Erkki Tuomioja - beispielsweise unterstützen zwar die GASP und die GSVP, sie wenden sich aber gegen die Entwicklung der EU in eine militärische Allianz mit verpflichtenden Verteidigungsgarantien und gegen die Möglichkeit militärischer Einsätze einer begrenzten Zahl von EU-Staaten in Krisengebieten, weil das zu einer Spaltung der EU in außenpolitischen Fragen führen könnte.33 In einer von der irischen Regierung dem Europäischen Rat in Sevilla (21./22. 6. 2002) vorgelegten "Nationalen Erklärung Irlands" wird bekräftigt, daß die die GASP betreffenden Bestimmungen des Nizza-Vertrages die traditionelle Politik der militärischen Neutralität Irlands nicht berührten. Nach diesem Dokument ist Irland nicht durch eine gegenseitige Beistandsverpflichtung gebunden. "Irland tritt außerdem nicht für Pläne zum Aufbau einer europäischen Armee ein."34

Ausweg "Strukturierte Zusammenarbeit"?
Als Ausweg aus dieser Konfliktsituation wird versucht, die vertraglichen Möglichkeiten einer differenzierten EU-Entwicklung zu erweitern. Im Verfassungsentwurf des Konvents wird die in Amsterdam eingeführte und in Nizza erweiterte Methode der verstärkten Zusammenarbeit ausgestaltet.35

Demnach soll "verstärkte Zusammenarbeit" erstmals auch im Bereich der ESVP möglich werden (Art. III-210-214). Auch im geplanten Europäischen Amt für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten sollen spezifische Gruppen von Mitgliedstaaten tätig werden können. Jene Staaten aber, "die anspruchsvollere Kriterien in Bezug auf die militärischen Fähigkeiten erfüllen und die im Hinblick auf Missionen mit höchsten Anforderungen festere Verpflichtungen eingegangen sind," sollen eine "strukturierte Zusammenarbeit " im Rahmen der Union begründen können (Art. III-213). Diese Bestimmungen können für den weiteren Weg der Union von entscheidender Bedeutung werden. Sonderkoalitionen unter dem Dach der EU zur Durchführung von Kampfeinsätzen werden auf diese Weise jederzeit möglich. "Ohne solche Konzepte ist die Parallelität von Erweiterung und Vertiefung der Union nicht mehr denkbar", heißt es in einer Analyse der Bertelsmann- Stiftung. "Im Bereich der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik erschließen sich mit den Instrumenten der strukturierten und der engeren Zusammenarbeit neue Möglichkeiten flexibler Integration, die den Weg in Richtung einer Verteidigungsunion ebnen können."36

Dabei kann jedoch nicht übersehen werden, daß eine verstärkte Zusammenarbeit außerhalb des EU-Vertragsrahmens bereits praktiziert wird - so etwa beim Lufttransport von Einsatzkräften und in der Rüstung. Prozesse in Richtung einer Militärunion werden sehr widersprüchlich verlaufen. Sie können zur Spaltung zwischen den Mitgliedstaaten führen. Auch im Falle eines Inkrafttretens der Verfassung werden sich Großbritannien, Polen und andere Mitgliedstaaten dafür engagieren, daß die Möglichkeiten einer eigenständigen "Verteidigung" und damit eines militärischen Kerneuropas durch strikte Einordnung in den Nordatlantikpakt begrenzt bleiben.

Für eine Union der Solidarität und Gleichberechtigung
Die Kontroverse um die künftige Gestalt der Europäischen Union wird andauern. Initiativen für "Kerneuropa" sind für linke und andere progressive Kräfte eine große Herausforderung - auch wenn sie nur schrittweise umgesetzt werden. Derartige Ambitionen beeinflussen bereits jetzt die Zukunftsdebatte. Sie schaffen dafür ein bestimmtes Klima. Latent ist die Möglichkeit, daß sich auf der Basis des deutsch-französischen Sonderbündnisses eine besondere Staatengruppe formiert, wozu die Instrumente "strukturierte" und "engere Zusammenarbeit" genutzt werden. Im Extremfall ist sogar eine konstitutionelle Neugründung nicht ausgeschlossen.

Als Konsequenz solcher Entwicklungen drohen die Spaltung der EU in ein Mehr-Klassen-Europa, ein minderer Status der neuen Mitglieder und neue Rüstungsanstrengungen auf Kosten sozialer Belange. Das widerspricht den Erfordernissen einer sozialen und zivilen Union, einer demokratischen Einigung.

"Der Gefahr eines Zwei-Klassen-Europas, die sich auch in der strukturierten Zusammenarbeit einiger Staaten in der Verteidigungspolitik abzeichnet, muß begegnet werden," heißt es kurz im Europawahlprogramm der PDS.37 Versuche, die EU-Erweiterung in Konzepte eines "harten Kerns" einzuordnen, verlangen Widerstand. Die Gleichberechtigung aller Mitgliedstaaten in der erweiterten Union muß gewährleistet werden. Die demokratischen Elemente in der EU müssen erweitert und dürfen durch exklusive Zusammenarbeit nicht ausgehöhlt oder gar eliminiert werden. Das betrifft Mitentscheidungs- und Kontrollmöglichkeiten des Europäischen Parlaments ebenso wie die der nationalen Parlamente. Eine solidarische Ausgleichspolitik muß zentrales Anliegen bleiben. Mehr Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der Union gegenüber der globalen Machtpolitik der USA sind nötig, ohne dabei einen Kurs der Militarisierung zu verfolgen, wofür immense finanzielle Mittel aufgebracht werden müßten, die dringend für soziale, wirtschaftliche, ökologische und kulturelle Zwecke innerhalb und außerhalb der EU benötigt werden.

Zugleich muß aber auch berücksichtigt werden, daß Kerneuropa- Pläne und flexible Integration nicht deckungsgleich sind. Letztere ist nicht à priori negativ. Durch sie kann der Vielfalt der Gegebenheiten Rechnung getragen werden, ohne dem einheitlichen institutionellen Rahmen der Union Abbruch zu tun.

Entscheidendes Kriterium für die Position linker Kräfte kann dabei nur sein: Differenzierung und Flexibilität in der EU müssen zu gesellschaftlichem, sozialem, ökologischem und demokratischem Fortschritt beitragen und die Gleichheit aller Staaten und Bürger der Union fördern. All das erfordert aber auch in den Reihen der Linken eine grundsätzliche Debatte über die künftige Gestalt und Wirksamkeit der europäischen Integration.

Nachbemerkung
Am Vorabend der EU-Erweiterung hat sich Außenminister Fischer von Vorstellungen für eine "Föderation europäischer Kernstaaten", wie er sie im Mai 2000 in seiner Humboldt-Rede propagiert hatte, wieder losgesagt. 38Dadurch soll erstens eine Einigung über die Verfassung erleichtert werden, nachdem die Proteste gegen hegemoniale Ansprüche Deutschlands und Frankreichs, aber auch gegen Ansätze eines Dreier- Direktoriums mit dem europaskeptischen Großbritannien größere Ausmaße erlangt haben. Fischers Ausführungen dokumentieren aber zweitens auch langfristige machtpolitische Überlegungen. Mit "kleineuropäischen Vorstellungen" könne die EU die "strategische Dimension " notwendigen Handelns in "kontinentalen Größenordnungen" nicht gewährleisten.39Fischer nimmt aber nicht generell Abschied von Kerneuropa. Die Idee einer "Avantgarde" lebt weiter.40

Wilhelm Ersil - Jg. 1928, Prof. Dr. habil., Potsdam; Fachgebiet: Europäische Integration, Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland

1 Handelsblatt, 4.1.2004; Frankfurter Rundschau, 16.12.2003

2 Der Spiegel, Nr. 52, 20.12.2003, S. 26

3 Handelsblatt, 4. 1. 2004

4 Die Zeit, 11.12.2003

5 Dokumente. Zeitschrift für die Zukunft des deutsch-französischen Dialogs, 56(2000)3, S. 232-234

6 Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 28.6.2000

7 FAZ, 11. 4. 2000

8 FAZ, 31. 5. 2003

9 Der Spiegel, Nr. 52, 20.12.2003, S. 26

10 Süddeutsche Zeitung (SZ), 13.10.2003

11 Die Tageszeitung (taz), 2.1.2004

12 Financial Times Deutschland (FTD), 29.1.2004. - Nach einem Bericht des Handelsblatts vom 16.12.2003 kamen bereits in Brüssel einige Staaten überein, notfalls auch außerhalb der EUVerträge voranzuschreiten. Außer Frankreich und den Benelux-Staaten wurden Tschechien, Ungarn, Slowenien und Griechenland genannt.

13 Wiener Zeitung, 23.12.2003

14 FAZ, 4.10.2003

15 Der Standard, 4. 2. 2004

16 FTD, 12.1.2004

17 Die Zeit, 11. 12. 2003

18 Neue Zürcher Zeitung (NZZ), 6.2.2004

19 NZZ, 23. 12. 2003; Die Presse, 23. 12. 2003

20 FAZ, 10.1.2004

21 FAZ, 13.1.2004

22 Der Standard, 23.1.2004

23 Ebenda, 4.2.2004

24 FTD, 23.12.2003

25 SZ, 9.1.2004

26 Die Welt, 7.10.2003

27 FTD, 23.1.2003

28 Vgl. Wilhelm Ersil: Politische Beziehungen in der erweiterten Union, in: Marxistische Blätter, Heft 1/2004, S. 43-49

29 FAZ, 23.12.2003; FTD, 27. 1. 2004

30 FTD, 23.12.2003

31 Die Welt, 6.10.2003

32 SZ, 6.2.2004

33 Junge Welt, 20.11.2003

34 EU-Nachrichten. Dokumentation Nr. 2, 2002, S. 18

35 Entwurf. Vertrag über eine Verfassung für Europa, Luxemburg 2003; vgl. Für eine friedensfähige EUVerfassung, in: UTOPIE kreativ, Heft 159 (Januar 2004), S. 54-58

36 Janis A. Emmanoulidis: Differenzierung im Verfassungsentwurf - auf dem Weg zu einer neuen Integrationslogik, in: Claus Giering (Hrsg.): Der EU-Reformkonvent - Analyse und Dokumentation, Gütersloh/ München 2003, S. 64-65

37 Disput, Nr. 2/2004, S. 14

38 Berliner Zeitung, 28.2.2004

39 Sicherheitspolitische Aufgaben sollen in unmittelbarer und weiterer Nachbarschaft - Naher Osten, Iran, Auseinandersetzung mit der arabischen Welt - bewältigt werden, wobei die Türkei als Brückenkopf gesehen wird. Globales Handeln erfordere ein neues Herangehen an die Gesamtheit der Union, die als globale Macht agieren müsse. Bei der Beurteilung der veränderten Position Fischers darf aber auch folgender Aspekt nicht übersehen werden: "... letztlich ist der Abschied von Kerneuropa eine Wiederannäherung an Amerika, ebenso wie der neuerdings bekundete Wille, mit den Vereinigten Staaten bei der Modernisierung der islamischen Welt zusammenzuarbeiten " (Die Zeit, 4.3.2004)

40 Siehe z. B. das Plädoyer von Edouard Balladour für "differenzierte Integration" (vgl. Berliner Zeitung, 11.3.2004) und die jüngsten Pro-Kerneuropa- Äußerungen von Wolfgang Schäuble und Karl Lamers (vgl. Tagesspiegel, 3.3.2004), darüber hinaus aber auch das "Ja" zu "Kerneuropa" von Jürgen Habermas (vgl. Die Presse, 8.3.2004)

in: UTOPIE kreativ, H. 162 (April 2004), S. 343-354

aus dem Inhalt

VorSatz Essay MATTHIAS KÄTHER: Über Marxens Rezeptionsmethoden Demokratischer Sozialismus EVELIN WITTICH: Debatte um ein Denkmal für Rosa Luxemburg Reproduktion von Vorurteilen oder Beginn einer differenzierten Geschichtsaneignung? MICHAEL BRIE: Rosa Luxemburg und Alexandra Kollontai - Parteinahme für einen demokratischen Sozialismus Stalinismus-Diskussion OTTO LACIS: Woran ist die KPdSU gescheitert? Europa im Umbruch WILHELM ERSIL: Kerneuropa: Drohungen und Tendenzen ASSIA TEODOSSIEVA: Bulgarien zwischen Jahrtausendgeschichte und Globalisierung Standorte WOLFGANG METHLING: Umweltpolitik - Impulse für technologische Innovation und Regionalentwicklung Bücher & Zeitschriften Torsten Bewernitz: Global X. Kritik, Stand und Perspektiven der Antiglobalisierungsbewegung (FRIEDHELM WOLSKI-PRENGER); Jay Y. Gonen: The Roots of Nazi Psychology. Hitlers Utopian Barbarism (RICHARD SAAGE); Karl Mannheim: Konservatismus (ULRICH BUSCH); Jean Ziegler: Die neuen Herrscher der Welt und ihre globalen Widersacher (MARIO CANDEIAS); Peter Bender: Weltmacht Amerika. Das Neue Rom (JÖRG ROESLER)