Nachhaltigkeit - sozialdemokratische Antwort auf die Globalisierung
Das Konzept der nachhaltigen Entwicklung, bei der UNCED-Konferenz in Rio 1992 von nahezu allen Staaten der Welt als die Reformperspektive des 21. Jahrhunderts akzeptiert, ...
... ist ein ur-sozialdemokratisches Projekt.
Die Solidarität zwischen den Generationen, internationale Verantwortung, gerechte Verteilung von Lebenschancen und mehr Demokratie sind Eckpfeiler des Weges der nachhaltigen Zukunftssicherung und identisch mit sozialdemokratischer Programmatik. Nachhaltigkeit ist mehr als Umwelt- und Entwicklungspolitik. Sie ist Leitlinie einer Weltinnenpolitik, die auf eine dauerhafte Sicherung von Frieden, Sicherheit, Wohlstand und Demokratie ausgerichtet ist und kulturelle Vielfalt fördert - und damit eine Antwort auf die Herausforderungen und Probleme der Globalisierung.
Zwischen der Vorstellung des "planenden Staates" aus den 70er Jahren und dem neoliberalen "Laissez-faire" bietet das Leitbild Nachhaltigkeit eine dritte Option. Es gibt Orientierung, und zwar in doppelter Hinsicht, als
- wertorientierte Zukunftsvision ("Gut leben") verbindet sich mit dem Leitbild die zukunftsfähige Vorstellung einer Welt, die durch einen schonenden Umgang mit den elementaren Lebensgrundlagen und eine gerechte Verteilung von Lebenschancen in Bezug auf Arbeit, Einkommen, Bildung und Teilhabe geprägt ist und Wohlstand und Lebensqualität im globalen Maßstab auf eine Weise ermöglicht, die kommende Generationen in ihren Entfaltungsmöglichkeiten nicht einschränkt. Nachhaltigkeit vermittelt eine Perspektive, aus der sich eine gemeinsame Vorstellung von Zukunft, die neue Richtung des Fortschritts entwickeln kann. Im notwendigen Such- und Lernprozess kann nachhaltige Entwicklung die Funktion einer Orientierungsmarke, eines Kompasses erfüllen.
- Als handlungsorientiertes Zukunftsprogramm beschreibt das Leitbild Nachhaltigkeit die Aufgaben für verantwortliches Handeln in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft und weist Wege zu deren Lösung. Es geht um die Sicherung von Ressourcen in dreifacher Hinsicht:
Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen, Bewahrung einer intakten Umwelt als Voraussetzung menschlicher Existenz, Gesundheit und Wohlstand.
Sicherung des Produktivpotenzials in Form von Infrastruktur, Bildung und Forschung sowie Erwerbsmöglichkeiten, um die Deckung der materiellen Bedürfnisse zu gewährleisten.
Sicherung der gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten. Dazu gehören Chancengleichheit, Teilhabe und Solidarität als Voraussetzung sozialen Zusammenhalts.
Der immer wieder geforderte Ausgleich zwischen ökonomischer, ökologischer und sozialer Dimension der Nachhaltigkeit bedeutet keine Gleichrangigkeit: die Grenzen der Natur sind der einzig limitierende Faktor einer nachhaltigen Entwicklung. Sie zu missachten, bedeutet ökonomischen Fortschritt und soziale Sicherheit aufs Spiel zu setzen. Die ökonomische und die soziale Dimension der Nachhaltigkeit ruhen auf dem Fundament der Ökologie. Für die hochentwickelten Länder lässt sich "Nachhaltigkeit" auf die einfache Formel bringen: mehr Wohlstand und mehr Lebensqualität durch weniger Energie- und Ressourcenverbrauch, weniger Schadstoffe, Emissionen und Abfälle.
Mit dieser Formel verbinden sich eine Fülle säkularer Herausforderungen, unter denen der Schutz des Weltklimas und die Notwendigkeit eines energiepolitischen Kurswechsels nur die in der aktuellen Diskussion gegenwärtigste darstellt. Ein verantwortlicher Umgang mit Stoffen, eine deutliche Reduzierung des Flächenverbrauchs, verstärkte Anstrengungen im Natur- und Artenschutz sind vordringliche Aufgaben. Nicht weniger essentiell sind Probleme wie die Gewährleistung der Trinkwasserversorgung im globalen Maßstab oder die Sicherstellung der Welternährung angesichts des anhaltenden Verlusts fruchtbarer Ackerflächen.
Nachhaltigkeit - eine strategische Aufgabe
Nachhaltigkeit lässt sich nicht "von oben" verordnen. Das Zukunftsprogramm einer nachhaltigen Entwicklung kann nicht allein vom Staat umgesetzt werden. Erforderlich ist eine umfassende Modernisierung von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat. Nicht nur technologische, sondern vor allem auch soziale und institutionelle Innovationen sind gefragt. Notwendig sind neue Produkte und Produktionsverfahren, neue Technologien und neue Arbeitsformen, aber auch neue Konsummuster und Verhaltensweisen, denn ein nachhaltiges Politikangebot braucht entsprechende Nachfrage.
Überall dort, wo nachhaltigkeitsrelevante Entscheidungen getroffen werden, müssen Strukturen geprüft und verändert werden, wenn sie einer nachhaltigen Entwicklung im Wege stehen.
Diese Herausforderung stellt sich überall dort, wo über die Richtung des Fortschritts entschieden wird. Und das geschieht, direkt oder indirekt, an vielen Orten der Gesellschaft gleichzeitig: in den Vorstandsetagen der Unternehmen, wo Entscheidungen über neue Produkte getroffen werden, in Forschungslabors und Entwicklungsabteilungen, in Verbänden, Behörden, Gewerkschaften und nicht zuletzt durch Konsumentinnen und Konsumenten beim Kaufverhalten an der Ladentheke.
Für Parlament und Regierung ist Nachhaltigkeit zu aller erst eine Herausforderung für das politische Management. Notwendig ist mehr Kooperation, Koordination und Vernetzung der verschiedenen Fachpolitiken und ihre gemeinsame Ausrichtung an verbindlichen langfristigen Zielvorgaben. Nachhaltigkeit ist mehr als Umweltpolitik. Es gibt kaum ein Ressort, dass nicht in der Pflicht ist, wenn es um Beiträge zu einer nachhaltigen Entwicklung geht. Die Erarbeitung einer übergreifenden Strategie ist die logische Konsequenz dessen.
Nachhaltigkeit als roter Faden der Regierungspolitik
Rot-Grün hatte sich deshalb im Koalitionsvertrag darauf verständigt, das Projekt "Nachhaltigkeitsstrategie" in Angriff zu nehmen. Damit sollte zugleich eine zentrale Verpflichtung der in Rio 1992 unterzeichneten Agenda 21 eingelöst werden, die in ihrem Kapitel 8 den Unterzeichnerstaaten die "Verabschiedung einer auf eine nachhaltige Entwicklung ausgerichteten nationalen Strategie" auferlegt. In der Ära Kohl wurde diese Verpflichtung verschleppt und ignoriert.
Für die Sozialdemokratie stand und steht dahinter aber mehr als die Einlösung einer Zusage. Die Nachhaltigkeitsstrategie ist ein Kernstück unserer Reformpolitik. Sie zeichnet die langen Linien dieser Politik vor und verdeutlicht, in welche Richtung sich Deutschland entwickeln soll und welche Weichenstellungen dafür notwendig sind.
An die Enquete-Kommission "Schutz des Menschen und der Umwelt" der 13. Wahlperiode anknüpfend hat die SPD-Bundestagsfraktion in der neuen Legislaturperiode eine eigene Querschnittsarbeitsgruppe nachhaltige Entwicklung eingerichtet, um die Bundesregierung bei der Arbeit an der Nachhaltigkeitsstrategie zu fördern und zu fordern. Ihr gehören Fachpolitiker aller relevanten Ressortausschüsse an. Die Arbeitsgruppe hat unter anderem ein detailliertes Anforderungsprofil für die Strategie formuliert und im Bundestag beschließen lassen.
Eine zentrales Anliegen der Arbeitsgruppe war es im übrigen, die Chancen der sozial-ökologischen Modernisierung herauszustellen und nach außen und in die Partei zu kommunizieren. Mit Vertretern aus Unternehmen und Gewerkschaften, Wissenschaft und Forschung haben wir Chancen und Herausforderungen einer an Nachhaltigkeit orientierten Politik diskutiert. Und wohl als einzige Parlamentsfraktion in Europa hat die SPD-Fraktion die Europäische Nachhaltigkeitsstrategie zum Thema gemacht und zur Diskussion Vertreter des Europäischen Parlaments und der EU-Kommission eingeladen.
Der Weg zur Nachhaltigkeitsstrategie
Basierend auf den Vorarbeiten und Empfehlungen des Bundestages und der SPD-Fraktion hat die Bundesregierung zunächst ein institutionelles Arrangement geschaffen. Es wurde ein "Green Cabinet", ein Staatssekretärsausschuss für nachhaltige Entwicklung, eingerichtet. Ihm gehören die beamteten Staatssekretäre aller relevanten Bundesministerien an. Vertreten sind die Ressorts Umwelt, Wirtschaft, Wirtschaftliche Zusammenarbeit, Finanzen, Arbeit und Soziales, Bildung und Forschung, Familie, Frauen, Senioren und Jugend, Gesundheit, Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft, Verkehr, das Bundesinnenministerium und das Auswärtige Amt.
Die Nachhaltigkeitsstrategie ist ein Projekt der gesamten Bundesregierung. In der Federführung durch das Bundeskanzleramt kommt dies zum Ausdruck. Aufgabe des "Green Cabinet" war es, die Nachhaltigkeitsstrategie zu erarbeiten und dem Kabinett zur Entscheidung vorzulegen.
Neu ist auch der Rat für nachhaltige Entwicklung - kein weiteres wissenschaftliches Beratungsgremium unter vielen und auch kein klassisches Repräsentanzorgan für gesellschaftliche Gruppeninteressen. Es geht nicht um den Austausch von Verbandspositionen. Die 17 vom Kanzler berufenen Mitglieder vertreten zwar unterschiedliche gesellschaftliche Akteure: Umwelt- und Unternehmensverbände, Gewerkschaften, Kirchen, Wissenschaften, internationale Organisationen. Im Vordergrund stehen aber eindeutig die Einzelpersönlichkeiten; Profil statt Proporz ist die Devise.
Vom Rat werden konkrete lösungsorientierte Vorschläge zur Nachhaltigkeitsstrategie erwartet. Und er soll mit dazu beitragen die öffentliche Kommunikation und den Dialog über die Ziele einer nachhaltigen Entwicklung anzustoßen. Seine Berufung über die Dauer der Legislaturperiode hinaus macht deutlich, dass es um ein Projekt geht, das längerfristig angelegt ist und nicht mit dem Weltgipfel in Johannesburg im Sommer 2002 endet. Der Vorsitz des Rates liegt bei Volker Hauff, der 1987 Mitglied der Brundtland-Kommission der Vereinten Nationen war und damit für Kompetenz, Erfahrung und personelle und inhaltliche Kontinuität steht.
Im April 2001 haben Rat und Staatssekretärsausschuss ihre Arbeit aufgenommen. Im November 2001 legte der Rat ein erstes Positionspapier vor mit weitreichenden Zielen und Handlungsempfehlungen für die Nachhaltigkeitsstrategie, im Dezember 2001 präsentierte der Staatsekretärsausschuss seinen ersten Entwurf.
Bereits in der Koalitionsvereinbarung war festgelegt, dass die Nachhaltigkeitsstrategie "im Dialog mit den wichtigsten gesellschaftlichen Gruppen" erarbeitet werden sollte. Die Einbindung der Öffentlichkeit war deshalb ein wesentliches Element der Strategieentwicklung. Noch bevor der erste Entwurf vorgelegt wurde, hat die Bundesregierung die Grundlinien ihrer Strategie im Internet zur öffentlichen Diskussion gestellt. Vier Wochen lang konnten Bürgerinnen und Bürger Stellung nehmen und ihre Vorstellungen zu den Leitbegriffen der Strategie äußern.
Auf Basis der Ergebnisse dieser ersten Dialogphase wurde der erste Entwurf der Strategie erarbeitet und Ende Dezember der Öffentlichkeit vorgestellt. Ab Mitte Januar war er jederzeit über das Internet einsehbar. Über ein Dialogforum im Internet konnte jeder Interessierte kommentieren, kritisieren und Anregungen für die Überarbeitung geben.
Parallel dazu fanden Anhörungen mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Anspruchsgruppen wie Umweltverbänden, Wirtschaft, Gewerkschaften, Wissenschaft und Verbraucherschützern statt. Und viele Organisationen und Institutionen - vom DGB über den BDI bis zu den Umweltverbänden - haben sich detailliert schriftlich geäußert.
Die Ergebnisse diesen breiten gesellschaftlichen Dialogs fanden Eingang in die Überarbeitung des Entwurfs, so dass im April 2002 die Strategie im Bundeskabinett beschlossen werden konnte.
Eine neue Form des politischen Managements
Die Nachhaltigkeitsstrategie ist ein politisches Novum in der Bundesrepublik. Zum ersten Mal legt eine Bundesregierung ein Dokument vor, in dem sie ihre langfristigen Pläne skizziert, sich selbst zum Teil weit in die Zukunft reichende Ziele vorgibt und zur öffentlichen Diskussion stellt. Das ist mutig und ambitioniert und vor allem ein deutlicher Zugewinn an politischer Kultur, eine moderne Variation der berühmten Formel Willy Brandts "mehr Demokratie wagen".
Nachhaltigkeit hat damit - nach langen Jahren theoretischer Diskussion - endlich den Weg in die politische Praxis gefunden. Es ist gelungen, das Leitbild vom Kopf auf die Füße zu stellen. Die Werte und die Vision, für die Nachhaltigkeit steht, werden auch für diejenigen unmittelbar einsichtig und greifbar, die bislang mit dem Begriff nur wenig verbinden konnten. Vier Begriffe stehen im Zentrum der Strategie: Generationengerechtigkeit, Lebensqualität, sozialer Zusammenhalt, internationale Verantwortung.
- "Generationengerechtigkeit" bedeutet zunächst vor allem: durch einen schonenden und effizienten Umgang mit den natürlichen Lebensgrundlagen unseren Kindern und Enkeln Entwicklungschancen und Gestaltungsperspektiven erhalten.
- "Lebensqualität" ist der Begriff, der das Ziel einer nachhaltigen Entwicklung vielleicht am besten erfasst. Jeder soll die Möglichkeit haben, sein Leben in die Hand zu nehmen, zu lernen und zu arbeiten, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen, und eingebettet in ein Netz sozialer Beziehungen in einer gesunden und sicheren Umwelt zu leben.
- "Sozialer Zusammenhalt". Der Strukturwandel muss so gestaltet werden, dass es nicht zur Spaltung der Gesellschaft kommt.
- "Internationale Verantwortung". Eine Politik die auf die gerechte Verteilung von Entwicklungschancen zwischen Nord und Süd setzt, ist aktive Krisenprävention und damit Friedenspolitik.
Diese Leitlinien machen deutlich, welche Werte und Ziele wir mit dem Leitbild verbinden. Aber Nachhaltigkeit ist eben auch ein handlungsorientiertes Zukunftsprogramm und bedarf der Konkretisierung. Wo, in welchen Feldern besteht besonderer Handlungsbedarf, wie lauten die langfristigen Ziele, wie sind sie zu erreichen, was sind die nächsten Schritte?
Die Strategie benennt acht Handlungsfelder, in denen neue Weichenstellungen notwendig sind. Für drei als prioritär ausgewählte Felder wurden detaillierte Konzepte mit Zielen und Maßnahmen entwickelt: Klimaschutz und Energiepolitik, Umwelt, Ernährung und Gesundheit sowie umweltverträgliche Mobilität. Für fünf weitere Felder wird der konkrete Handlungsbedarf zunächst nur in Ansätzen skizziert. Im Zuge der Weiterentwicklung der Nachhaltigkeitsstrategie werden konkrete Konzepte, Ziele und Maßnahmen zu formulieren sein: Bildung, Innovationsförderung, Siedlungsentwicklung und Flächenverbrauch, demographischer Wandel, Globale Verantwortung.
Das Spektrum der Themen ist weit gefasst, die Aufgabe extrem anspruchsvoll. Deshalb ist es notwendig, den Prozess zu koordinieren, regelmäßig zu überprüfen, ob die eingeleiteten Maßnahmen auch die gewünschten Effekte bringen und gegebenenfalls die Richtung zu korrigieren. Das richtige Management ist entscheidend für den Erfolg der Nachhaltigkeitsstrategie.
Deshalb ist ein Kernstück der Strategie ein Konzept zur Erfolgskontrolle und Weiterentwicklung: das Managementkonzept. Grundlage ist ein Set von 21 Indikatoren - Messgrößen, anhand derer Fortschritte in Richtung Nachhaltigkeit überprüft werden können. Wo es sinnvoll und machbar war, sind diese Indikatoren mit konkreten langfristigen Zielvorgaben verbunden. So wird etwa angestrebt, die Ressourcenproduktivität bis zum Jahr 2020 gegenüber 1990 zu verdoppeln, oder den Flächenverbrauch von heute 130 Hektar pro Tag bis 2020 auf 30 Hektar pro Tag zu reduzieren. Die Indikatoren decken aber nicht nur die ökologische, sondern auch die soziale Dimension ab. So soll etwa die Zahl der Hochschulabschlüsse der unter 25jährigen bis 2010 verdoppelt und die Zahl der Studienanfänger von heute knapp 30% bis 2010 auf 40% erhöht werden.
Diese Indikatoren sind wesentliche Orientierungsmarken, wenn es an eine Überprüfung der Strategie geht, die kontinuierlich aktuellen Entwicklungen und Problemlagen angepasst werden soll. Alle zwei Jahre wird die Bundesregierung einen Statusbericht geben, der transparent macht, in welchen Bereichen Fortschritte erzielt wurden und wo weitere Anstrengungen notwendig sein werden.
Indikatoren für das 21. Jahrhundert einfügen
Der nächste Schritt: Zukunftsausschuss 2010
Der Gestaltungsansatz der Nachhaltigkeitsstrategie muss weiterentwickelt werden. Dabei steht eine Frage ganz oben auf der Tagesordnung:
Wie lässt sich Nachhaltigkeit auch im Deutschen Bundestag als Langfrist- und Querschnittsaufgabe verankern? Bisher findet die Arbeit im wesentlichen in Fachausschüssen statt, die sich mit tagesaktuellen Vorlagen befassen. Diese Strukturen müssen ergänzt und erweitert werden. Noch gibt es auf parlamentarischer Ebene kein adäquates Gremium zum "Green Cabinet" der Bundesregierung. Formal ist für die Nachhaltigkeitsstrategie bislang der Umweltausschuss federführend. Das ist weder prinzipiell noch praktisch befriedigend. Auch das Parlament braucht eine institutionelle Innovation.
Deshalb sollte der Bundestag in der nächsten Wahlperiode einen Ausschuss für nachhaltige Entwicklung, einen "Zukunftsausschuss 2010" einrichten.
Die vordringliche Aufgabe dieses Ausschusses wird es sein, die Weiterentwicklung der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie zu begleiten und zu fördern. Er soll als parlamentarischer Adressat für Vorschläge aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft zu Institutionen, Methoden und Instrumenten für ein modernes Politikmanagement im 21. Jahrhundert fungieren. Eine wesentliche Funktion kann außerdem darin bestehen, langfristige Entwicklungstrends zu analysieren und entscheidungsrelevantes Wissen für die richtigen Wege in die Zukunft handlungsorientiert aufzubereiten und Impulse für Neuerungen zu geben.
Seine Aufgabe kann und soll nicht das politische Tagesgeschäft sein, das weiterhin - auch in Bezug auf die Umsetzung der in der Nachhaltigkeitsstrategie vorgesehenen Einzelmaßnahmen - in der Zuständigkeit der Fachausschüsse liegen wird. Seine Funktion sollte die eines Frühwarnsystems, einer Denkfabrik, eines Impulsgebers und eines Dialogforums für die richtigen Zukunftspfade sein.
Roter Faden der Regierungspolitik
Auch wenn die Nachhaltigkeitsstrategie ein großer Schritt nach vorne ist: sie ist nicht der Beginn unserer sozial-ökologischen Reformpolitik. Die hat bereits direkt nach Regierungsübernahme begonnen. Seit Herbst 1998 zieht sich das Leitbild als roter Faden durch wesentliche Reformvorhaben von Koalitionsfraktionen und Regierung, in allen wichtigen Politikfeldern wurden entscheidende Weichen gestellt.
Das betrifft ganz entscheidend die Klimaschutz- und Energiepolitik. Die eingeleitete Energiewende fußt auf den drei Säulen Effizienzsteigerung, Energieeinsparung und Förderung erneuerbarer Energien. Eine Fülle von Maßnahmen vom Atomausstieg, über die Öko-Steuer, das Erneuerbare-Energien-Gesetz und das 100.000-Dächerprogramm bis hin zum Programm zur energetischen Sanierung von Altbauten wurde in Angriff genommen. Auch in anderen Politikfeldern ist die Bilanz sehr vorzeigbar: in der Agrarpolitik wurde eine Wende in Richtung auf vorsorgenden Verbraucherschutz und eine nachhaltige Entwicklung ländlicher Räume eingeleitet. Die Entwicklungspolitik wurde in Richtung einer globalen Strukturpolitik fortentwickelt. In der Haushaltspolitik wurde ein Kurs finanzpolitischer Stabilität eingeschlagen, der künftigen Generationen Entscheidungsspielräume eröffnet. Das sind nur wenige Schlaglichter auf eine insgesamt positive Bilanz.
Eine neue Weltinnenpolitik
So zukunftsweisend die Vision einer nachhaltigen Entwicklung ist und so wichtig die erzielten Fortschritte auf nationaler und europäischer Ebene auch sind: die internationale Bilanz nach zehn Jahren ist noch immer ernüchternd. Der jüngst veröffentlichte Status-Bericht des UN-Generalsekretärs Kofi Annan zur Agenda 21 unterstreicht dies; im Nord-Süd-Vergleich liegt eine gerechte Verteilung der Ressourcen und Lebenschancen nach wie vor in weiter Ferne.
Die soziale und ökologische Gestaltung der Globalisierungsprozesse ist ein sozialdemokratisches Kernanliegen. Ökologische und soziale Mindeststandards weltweit zur Geltung zu bringen, Armut konsequent zu bekämpfen und faire Handelsbedingungen zu schaffen, das sind wesentliche Ziele unserer internationalen Politik, die sich zunehmend als Weltinnenpolitik verstehen muss.
Bei aller negativen Bilanz gibt es auch positive Signale, zum Beispiel den Beschluss des UN-Milleniumsgipfels, bis 2015 die Zahl der absolut Armen um die Hälfte zu verringern.
Viel wird von den finanziellen Ressourcen abhängen, die die wohlhabenden Staaten dafür zur Verfügung stellen. Dieser Zusammenhang wurde im März 2002 in Monterrey/Mexiko deshalb erstmals auf einem eigenem UN-Gipfel zu Fragen der Entwicklungsfinanzierung thematisiert, an dem etwa 50 Staats- und Regierungschefs und 200 Fachminister teilnahmen. Die Ergebnisse werden von vielen eher skeptisch beurteilt. Aber der Beschluss der EU, die öffentliche Entwicklungshilfe auf durchschnittlich 0,39% des BIP anzuheben, ist in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzen.
Dabei ist öffentliche Entwicklungshilfe nur eine Quelle zur Finanzierung. Die Diskussion über neue Finanzinstrumente - Stichwort u.a. Tobin-Steuer - läuft und sie muss weitergeführt werden. Die Idee, die Nutzung globaler öffentlicher Güter durch globale Abgaben zu finanzieren, ist von bestechender Logik. Ob dies z.B. über eine Devisenumsatzsteuer oder, wie vom Wissenschaftlichen Beirat Globale Umweltveränderungen vorgeschlagen, über direkte Entgelte für die Nutzung der Weltmeere oder des Luftraumes erfolgen kann, ist weiterer Prüfungen würdig.
Eine entscheidende Wegmarke für die zukünftige Entwicklung ist der Weltgipfel in Johannesburg im Sommer 2002. Soll die Schere zwischen Industrie- und Entwicklungsländern nicht noch weiter auseinandergehen und damit das Ziel einer nachhaltigen Entwicklung in weite Ferne rücken, muss er den Beginn eines neuen "Global Deal" zwischen Nord und Süd bringen.
Die Bekämpfung der Armut, die wirtschaftliche Entwicklung der armen und ärmsten Länder in Einklang zu bringen mit dem Schutz knapper werdender natürlicher Ressourcen: das ist die Aufgabe, vor der die Staatengemeinschaft in Johannesburg stehen wird. Dazu sind zum einen konkrete Konzepte notwendig, um das vom Milleniumsgipfel gesetzte Ziel einer Halbierung der Armut bis 2015 zu erreichen. Und es müssen zumindest konkrete Perspektiven zur Lösung der wichtigsten Ressourcenfragen der Zukunft, allen voran der Energieversorgung und der Versorgung mit sauberem Trinkwasser, aufgezeigt werden. Ein wichtiger Punkt wird auch die institutionelle Stärkung der UN-Gremien für Nachhaltigkeit sein. Bis heute hat die wichtigste UN-Organisation für Nachhaltigkeit, die UNEP, nur den Status eines Programms. Der Etat von UNEP liegt unter dem des deutschen Umweltbundesamtes. In Johannesburg sollte deshalb das Fundament für eine Weiterentwicklung des institutionellen Rahmens der UN gelegt werden, mit der mittelfristigen Perspektive einer Art Weltorganisation für nachhaltige Entwicklung.
Erfolgreiche Vereinbarungen in Johannesburg können für die nationale, europäische und internationale Nachhaltigkeitspolitik wichtige Impulse geben. Diese Impulse aufzunehmen und in praktische Politik umzusetzen wird Aufgabe der reformerischen Kräfte in Deutschland sein: mit dem Rückenwind aus Johannesburg müssen die vorhandenen Ansätze einer sozial-ökologischen Reformpolitik produktiv vorangetrieben werden.