Anti-Amerikanismus?

Der grüne Außenminister Joschka Fischer warnt vor "historischem Idiotismus". Das gute Verhältnis Europas und speziell der Bundesrepublik Deutschland zu den Vereinigten Staaten dürfe weder durch ..

... öffentliche Aktionen noch durch verbalradikale Kritik beschädigt werden. Auch in der grünen Partei stoßen sich viele an der zunehmenden Tendenz zu politischen Alleingängen (Unilateralismus) der einzig verbliebenen Weltmacht. Dabei war die multilaterale Ordnung der Nachkriegszeit maßgeblich eine Kreation der USA - zweifellos mit Blick auf die Verfolgung der nationalen Interessen im Rahmen von UNO, IWF, Weltbank, GATT usw..
Die Entscheidung für Allianzen oder Alleingänge hängt davon ab, was zur Durchsetzung der eigenen Interessen zweckdienlich ist. Man bedient sich eines Anti-Terror-Bündnisses, der NATO, wennÂ’s geht auch der UNO oder der WTO, wo es probat ist, scheut aber auch nicht davor zurück, die Partner auszubooten, selbst wenn es diese der Lächerlichkeit anheim stellt. Tagelang ließ man die Afghanistan-Kontingente der Bundeswehr in der Türkei festsitzen, um sie nachfolgend als bessere Palast-Wache in Kabul einzusetzen; seit Wochen darf die deutsche Marine leere Gewässer am Horn von Afrika inspizieren und Generäle dürfen mit Spürpanzern im Wüstensand kutschieren - zu welchem Sinn und Zweck entscheiden die USA. Lang ist die Liste der Alleingänge: dazu gehört die Absage an das internationale Klimaschutzabkommen (Kyoto-Protokoll), die Nichtratifizierung des Verbots biologischer Waffen, die Kündigung des Abkommens mit Russland über strategische Atomwaffen (ABM), die Absage an den internationalen Strafgerichtshof, sogar die Distanz zur UN-Kinderrechtskonvention. Auch die bilateralen Beziehungen sind nach machtpolitischem Muster gestrickt. Jüngstes Beispiel ist das amerikanisch-russische Abrüstungsabkommen, das auf Drängen der USA keine Vernichtung der Sprengköpfe, keine substantiellen Kontrollen, wenig über Trägersysteme und eine extrem kurze Kündigungsfrist vorsieht.

Bedeutet das, dass der "lonely Sherriff" nach eigenem Gusto schalten und walten kann? Sind die internationalen Beziehungen nur noch nach dem Muster einer aggressiven Hegemonialpolitik gestrickt? Zweifellos hat der Unilateralismus unter der rechtskonservativen Bush-Administration kräftig Auftrieb bekommen. Doch bei aller Renaissance von Machtpolitik sollten wir nicht von einem generellen Niedergang des Multilateralismus sprechen. Denn das würde die Widersprüche im System der internationalen Politik und in der amerikanischen Gesellschaft unterschätzen.

Die USA sind nicht in der Position, dass sie sich über ihre wirtschaftliche Basis und deren künftige Entwicklung keine Gedanken machen müssten. Das Leistungsbilanzdefizit erreicht im laufenden Jahr über vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts (mit weiter steigender Tendenz); die Netto-Vermögensposition der Vereinigten Staaten hat sich seit mehr als zehn Jahren ins Negative gekehrt: die USA sind im Ausland mit netto über 2.200 Mrd. Dollar verschuldet. Dadurch wird die Stabilität des US-Dollars als Weltwährung angekratzt. Die Einfuhrzölle auf Stahl aus der EU und die massive Erhöhung der Subventionen für die US-Landwirtschaft sind Reaktionen auf wachsende ökonomische Probleme. Es ist nicht so, wie der Boom der New Economy vorgaukelte: die Weltmacht strotzt keineswegs vor Leistungskraft. Im Rahmen der Wahrung der wirtschaftlichen Einflusszonen geht es den Vereinigten Staaten auch um den störungsfreien Nachschub von Rohstoffen, vor allem fossiler Energien. Dabei sind die USA darauf bedacht, die Abhängigkeit von den Golfstaaten zu verringern (auf die die EU- und Asean-Staaten sehr viel mehr angewiesen sind). Das Energiekonzept der Bush-Regierung setzt zum einen auf die Ausweitung der Förderung aus eigenen Erdölfeldern sowie die Aufstockung der Reserven und zweitens auf verstärkten Handel mit Non-OPEC-Produzenten wie Russland und Mexiko. Ein Großteil der Exporte Russlands sind Rohstoffe, vor allem Erdöl und Erdgas. Gerade in diesem Sektor liegt das US-Kapital mit Investitionen in Russland vorne. Deshalb betrieben die USA auch den WTO-Beitritt Russlands. Die Europareise von Bush zielte auf die "Bekräftigung eines neuen Verhältnisses mit Russland." Logischerweise ist China von dieser Entwicklung nicht begeistert. China muss zur Kenntnis nehmen, dass der Versuch gescheitert ist, mit Russland eine strategische Partnerschaft als Gegengewicht zu den USA aufzubauen. Nach wie vor beziehen die USA aus Westasien die Hälfte ihres fossilen Energiebedarfs. Die Herrschaftsregime in der Golfregion sind aber keineswegs gefestigt, die politische Instabilität hat in dieser Region nach dem Golfkrieg II, als es den USA gelang, sich in Saudi Arabien eine militärische Präsenz zu verschaffen, eher noch zugenommen. Die Zukunft des saudischen Königsreichs hängt von ökonomischen Entwicklungsprojekten, innerstaatlichen Reformen und einer sozialen Befriedung der stark wachsenden Bevölkerung ab. Die verstärkte militärische Präsenz der USA in der Region ist nicht nur Ausdruck einer Offensivstrategie, sondern auch eine Reaktion auf fragile Machtverhältnisse.

Das gilt auch für die ostasiatische Region. Pakistan hängt als bankrottes Land seit Jahren am finanziellen und militärischen Tropf der USA. Einflussreiche US-Politiker fordern seit längerem die Berücksichtigung der geostrategischen Rolle Indiens, um eine vollständige Explosion des Konflikts der Atommächte Indien und Pakistan zu verhindern.

Durch den Krieg in Afghanistan und die Ankündigung eines Angriffs auf den Irak ist Lateinamerika aus den Schlagzeilen geraten. Hier wollte Bush jr. eigentlich den Schwerpunkt seiner außenpolitischen Aktivitäten setzen. Mittlerweile sind jedoch die Verhältnisse aus dem Ruder gelaufen - nicht nur in Argentinien und Venezuela, auch in Mexiko und Brasilien nehmen die Probleme zu. Weiter im Westen droht fortschreitendes Ungemach von Indonesien, ohne dass Japan in der Lage wäre, die Asean-Staaten zusammenzuhalten. Und schließlich ist die strategisch bedeutsame Türkei in finanzieller Hinsicht ein Fass ohne Boden.

Kurzum: Die USA wollen ihre Rolle als Weltmacht festigen und ausbauen, doch die ökonomisch-politischen Fehlentwicklungen zeigen deutlich die Beschränktheit der finanziellen wie militärischen Ressourcen. Selbst wenn die USA unter der rechtskonservativen Bush-Administration vollständig auf Machtpolitik und Großmachtstatus übergehen wollten, müssen sie zur Aufrechterhaltung des Machtgleichgewichts in dem Problemregionen auf multilaterale Strukturen zurückgreifen.

Auch innenpolitisch wachsen - trotz der gestiegenen Popularität von Bush jr. - die Bäume für das rechtskonservative Projekt nicht in den Himmel. Zwar spielt die knappe und umstrittene Wahlentscheidung für die Republikaner im politischen System der USA keine Rolle mehr, gleichwohl ist festzuhalten, dass "bei Präsidentschaftswahlen nur die Hälfte der Bevölkerung wählt, und bei den Zwischenwahlen zum Repräsentantenhaus und zum Senat der Prozentsatz nur bei knapp 40% liegt. Dadurch wird die Bedeutung einzelner Segmente in der Wählerschaft sowie auch das Gewicht jener Gebildeten und Wohlhabenderen größer, die wählen." (Norman Birnbaum) Die Bürgerrechte werden von der Hälfte der Bevölkerung nicht wahrgenommen; die Machtstrukturen der gesellschaftlichen Öffentlichkeit verhindern, dass ein Diskurs über gesellschaftliche Widersprüche und mögliche politische Alternativen zustande kommt.

Gewerkschaften und Bürgerrechtsorganisation spielen nur eine marginale Rolle. Perspektivisch zeugt das nicht von stabiler Hegemonie, die eben nicht nur durch Zwang, sondern maßgeblich durch Führung gekennzeichnet sein muss. Die deutschen Sozialdemokraten erklären zwar die "uneingeschränkte Solidarität" mit den USA, legen aber Wert darauf, dass das Modell des europäischen Sozialstaates nicht durch den Typus des anglosächsischen Kapitalismus ersetzt wird. Die noch größeren sozialen Unterschiede in den USA, der begrenzte Zugang zu einer Krankenversicherung mit erträglichen Beitragssätzen und das geringe Ausmaß des sozialstaatlichen Transfers und der Regulierungen lassen dieses Gesellschaftsmodell selbst für eine modernisierte Sozialdemokratie als wenig attraktiv erscheinen. Die politische Linke sollte nicht in den Fehler verfallen, die Hegemonialmacht USA für allmächtig zu erklären. Eine radikale Kritik an der widersprüchlichen US-Politik auf internationalem Terrain hat sowenig etwas mit Anti-Amerikanismus zu tun wie eine schonungslose Bilanz der gesellschaftlichen Defizite der US-Gesellschaft. Die politische Linke in Europa sucht nicht das Verständnis der rechtskonservativen US-Administration, sondern kämpft - wie in Seattle - mit den vielen Nichtregierungsorganisationen und Bürgerrechtsvereinen in den USA für Alternativen jenseits der Großmachtpolitik.