Sozialismus als Politik

Programmdebatten bewegen sich stets in einem Spannungsfeld von geistigem Gehalt und praktischer Politik.1 Den Mitgliedern soll signalisiert werden, wofür die Partei in der Sache steht, ...

... und der Wählerschaft, weshalb sie gerade diese Partei wählen soll. Bereits hier ist klar, daß von politischer Partei im Kontext einer demokratisch-parlamentarisch verfaßten Ordnung die Rede ist. Im Realsozialismus war die ideologische Begründung der praktizierten Politik anderen Charakters - worauf weiter unten noch zurückzukommen sein wird. In rechten beziehungsweise bürgerlichen Parteien ist dieser geistige Gehalt zumeist von eher deklaratorischem Rang; kein Mensch erwartet von der CDU eine Politik der ›Solidarität‹ und ›Gerechtigkeit‹, obgleich das in ihrem Programm steht. Dazu nur zwei Verweise: (1) Setzt man das durchschnittliche Einkommen aller privaten Haushalte im jeweiligen Jahr gleich 100 Prozent, so betrug es 1972 in Arbeiterhaushalten 90,2 Prozent und 96,5 Prozent im Jahre 1982. Für die Haushalte von ›Selbständigen außerhalb der Landwirtschaft‹ - unter dieser Rubrik erscheinen auch die ›Besserverdienenden‹ - fiel der Index von 1972 mit 255,8 Prozent auf 219,1 Prozent im Jahre 1982. Unter damaliger sozialdemokratischer Kanzlerschaft gestalteten sich die Verhältnisse in der Bundesrepublik also etwas weniger ungleich. Dank des segensreichen Wirkens von Helmut Kohl waren es 1995 bei den Arbeiterhaushalten 87,1 Prozent und den Selbständigen 351,2 Prozent. Der Klassenauftrag wurde also erfüllt, die Reichen waren reicher und die Armen ärmer geworden. (2) Als Wolfgang Schäuble, der 1990 die Einigungsverträge mit der auslaufenden DDR gemacht hatte, in einer Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung im Herbst 2001 gefragt wurde, wie er das denn so schön hingekriegt hätte, wo doch "die Schubladen leer" und keine vorgefertigten Pläne für die deutsche Vereinigung da waren, lächelte er fein in sich hinein und antwortete nur: "Wir wußten doch, was wir wollten." Das gilt für das Regierungshandeln einer derartigen Partei immer: ihre Akteure wissen angesichts ihres Klassenund Machtinteresses, was sie wollen. Das Parteiprogramm ist die beigefügte Belletristik, und weil das Parteiengesetz es so will. Linke Parteien dagegen führen seit jeher ausführliche Debatten zu Programmfragen und ein beträchtlicher Teil ihrer Mitglieder und Wähler erwartet, daß das schließlich Festgeschriebene dann 1 : 1 umgesetzt wird. Besonders ausgeprägt war dies bei marxistischen Parteien, gingen sie doch davon aus, daß sie in ihrem politischen Wirken "theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus"2 hätten. In diesem Sinne wurde Politik in erheblichem Maße als ›nur‹ praktische Umsetzung zuvor erarbeiteter Erkenntnis angesehen. Der geistige Gehalt von Parteiprogrammatik wurde als konzentrierter Ausdruck von Wissenschaft betrachtet. Das muß nach dem historischen Fiasko des Realsozialismus als erledigt gelten. Insofern bleibt eine vorbehaltlos kritische Analyse des Realsozialismus Moment und Bedingung jeglicher Debatte um künftige sozialistische Politik, auch wenn etliche der Protagonisten der derzeitigen Programmdiskussion der PDS dies offensichtlich nicht wollen. Die Voraussetzungen von Politik heute - der real existierende Kapitalismus und die Eigenheiten der demokratischen Gemeinwesen auf der einen Seite und die praktischen wie theoretischen Hinterlassenschaften des Realsozialismus auf der anderen - setzen dies unausweichlich auf die Tagesordnung. Die Analyse des derzeit Seienden verweist auf das zu Tuende, die Untersuchung des gewesenen Realsozialismus zeigt, wie es nicht getan werden kann beziehungsweise nicht wieder unternommen werden darf.

Linkssozialistische Verortung

Im Grunde begann die Programmdebatte der PDS mit dem Außerordentlichen Parteitag der SED/PDS im Dezember 1989 und der dort mit dem historischen Referat von Michael Schumann begonnenen Analyse des kommunistischen Herrschaftssystems - das dort klar als "Stalinismus als System" charakterisiert wurde.3 Obwohl dies lange her ist, zieht sich ein Grundproblem durch die gesamte programmatische Diskussion seither, das augenscheinlich noch nicht hinreichend bearbeitet ist: Wie kann eine moderne, linkssozialistische Partei aussehen, die diesseits von Kommunismus und jenseits von traditioneller Sozialdemokratie steht? Schon die hin- und hergereichten Anwürfe, es handle sich bei der derzeitigen Entwicklung der PDS lediglich um einen notdürftig kaschierten Kommunismus im Schafspelz, oder umgekehrt: sie gehe nur den Weg der ›Sozialdemokratisierung‹, den die SPD schon vor ihr gegangen sei, machen die Problematik deutlich. Die hohe Kunst linkssozialistischer Programmatik und Politik wird daher sein, wohlbehalten den Weg zwischen Scylla (Kommunismus) und Charybdis (einem Sozialdemokratismus, der nur noch das Existierende zu verwalten, meint können zu dürfen) zu finden. Die Betrachtung dessen bedarf eines historischen Bezuges. Der Bruch zwischen (Mehrheits)Sozialdemokratie und Kommunisten vollzog sich im Kontext des Ersten Weltkrieges. Für Stefan Zweig etwa, als er im britischen Exil 1940 seine Memoiren schrieb, war völlig klar, daß der entscheidende historische Einschnitt im Jahre 1914 lag. Da ging die ›alte Welt‹ Europas unter, Zweig nennt sie die "Welt von gestern "4. In eben diesem Sinne spricht der Historiker Eric Hobsbawm vom "kurzen 20. Jahrhundert", das er von 1914 bis 1991 datiert.5 Sebastian Haffner hatte bereits vor der ›Wende‹ betont, daß der Zweite Weltkrieg die Folge des Ersten war, und insofern der Erste Weltkrieg das eigentlich einschneidende Ereignis des 20. Jahrhunderts.6 Und zu seinen Folgen gehört die russische Oktoberrevolution. Das Geborensein aus den Gemetzeln des Ersten Weltkrieges und der sektenmäßige Geheimbundcharakter der Partei der Bolschewiki haben der realen Umsetzung des kommunistischen Versuchs unter Führung CROME Sozialismus als Politik Lenins, später Stalins, ihren Stempel aufgedrückt, der das von ihnen geschaffene Herrschaftssystem bis zu seinem Untergang 1989/1991 geprägt hat. So waren die kommunistische Bewegung und die von Kommunisten regierten Staaten bleibende Resultate des Ersten (und Zweiten) Weltkrieges und wesentliche Akteure jenes "kurzen" 20. Jahrhunderts. Sie schöpften ihre historische Legitimierung aus den Verbrechen der alten herrschenden Klassen und ›des Kapitalismus‹ sowie aus der Erwartung, daß die Errichtung der sozialistisch-kommunistischen Herrschaft die Voraussetzungen für derlei neuerliche Untaten ein für allemal abschaffen werde. Das kommunistische Herrschaftssystem hatte seinerseits historische Voraussetzungen. Die soziale Frage hatte seit den 1830er Jahren die Gestalt der Arbeiterfrage angenommen: Wie nehmen die Vermögenslosen, die ihr Einkommen durch Lohnarbeit erwerben, an der modernen, das heißt industriell fundierten Gesellschaft teil? Das hatte eine soziale Dimension, hier ging es um Löhne und Einkommen, soziale Sicherheiten, Absicherung der Familien, Wohnung, Bildung, Zugang zur Kultur. Und es hatte eine politische Dimension, hier standen das allgemeine Wahlrecht, Freiheitsrechte und Partizipationsrechte auf der Tagesordnung, am Ende die Frage nach der Macht im Staate. Die sozialistische Revolution, wie Marx, Engels, Lassalle und andere sie erwartet hatten, sollte beide Probleme lösen, durch Übernahme der Macht durch die Partei der Arbeiter und durch Enteignung der Kapitaleigner. Die ›Sozial-Demokratie‹ war der politische Ausdruck dieses Bemühens, die soziale Frage im Sinne der Arbeiter und insgesamt der unteren sozialen Schichten zu lösen. Innerhalb der sozialdemokratischen Partei, zumal der deutschen, ging seit den 1890er Jahren der Streit darum, ob im Zweifelsfalle das Primat bei der Demokratie liegen solle, die nach Wahlen und Mehrheiten fragt, wenn es um die Macht geht, oder ob die Revolution im Sinne der raschen Enteignung der Kapitalisten Vorrang haben müsse vor den demokratischen Spielregeln. Der Erste Weltkrieg wurde als eklatante Verschärfung aller inneren Widersprüche des kapitalistischen Wirtschaftssystems und der es begleitenden politischen Systeme angesehen. Lange vor diesem Krieg war Allgemeingut innerhalb der Arbeiterbewegung, was Bebel wie folgt formuliert hatte: "Nimmt man ... die furchtbaren Störungen und Verwüstungen, die künftig ein europäischer Krieg auf wirtschaftlichem Gebiet anrichtet, so darf man ohne Übertreibung sagen: der nächste große Krieg ist der letzte Krieg... Der politisch-militärische Zustand Europas hat eine Entwicklung genommen, die leicht mit einer großen Katastrophe endigen kann, welche die bürgerliche Gesellschaft in den Abgrund reißt. Auf der Höhe ihrer Entwicklung hat diese Gesellschaft Zustände geschaffen, die ihre Existenz unhaltbar machen, sie bereitet sich den Untergang mit Mitteln, die sie selbst erst als die revolutionärste aller bisher dagewesenen Gesellschaften schuf."7 In diesem Sinne erschien der Erste Weltkrieg als die erwartete, vom Kapitalismus und seinem Imperialismus hervorgerufene Katastrophe, aus der ›der Sozialismus‹ als die Erlösung hervorgehen mußte. Und da alle großen Staaten Europas, ob nun bürgerlich- parlamentarisch, wie Großbritannien beziehungsweise Frankreich, oder mehr oder weniger autoritär verfaßt, wie Deutschland beziehungsweise Rußland, in diesen großen Krieg verwickelt waren, erschien die Demokratiefrage als von untergeordneter Bedeutung. Die Mehrheitssozialdemokraten hatten sich in Deutschland, Frankreich, Rußland und anderen Staaten angesichts des Krieges 1914 auf die Seite ihrer respektiven Regierungen und deren Kriegführung gestellt. Die Kongresse der II. Internationale in Stuttgart (1907) und Basel (1912) hatten zwar beschlossen, mit allen Mitteln für die Verhinderung des Krieges zu wirken und, wenn er dennoch ausbrechen sollte, die entstandene Lage zum Sturz der kapitalistischen Herrschaft zu nutzen. Doch hatte sich dies 1914 als Illusion erwiesen, beziehungsweise die Mehrheitssozialisten hatten ›Verrat‹ geübt, was die Linken ihnen folgerichtig politisch zum Vorwurf machten. Von daher datiert denn auch die Spaltung der Arbeiterbewegung, die in der kommunistischen Strömung ab 1918/19 - neben der fortexistierenden Sozialdemokratie bestehend - ihren organisierten politischen Ausdruck fand. Die Verheißungen von der neuen Gesellschaft waren seit Marx von der Vorstellung geprägt, daß Markt und Profit negativ besetzt seien und abgeschafft gehören und daß Â›sozialistische Planwirtschaft‹ als realisierte Wissenschaft möglich sei. So hatte August Bebel - den ich hier nochmals als international anerkannten Parteiführer der alten Sozialdemokratie zitiere - geschrieben: "Die Menschheit wird in der sozialistischen Gesellschaft, in der sie erst wirklich frei und auf ihre natürliche Basis gestellt ist, ihre Entwicklung mit Bewußtsein lenken. In allen bisherigen Epochen handelte sie in bezug auf Produktion und Verteilung wie auf Bevölkerungsvermehrung ohne Kenntnis ihrer Gesetze, also unbewußt; in der neuen Gesellschaft wird sie mit Kenntnis der Gesetze ihrer eigenen Entwicklung bewußt und planmäßig handeln. Der Sozialismus ist die auf allen Gebieten menschlicher Tätigkeit angewandte Wissenschaft."8 Kommunistische Bewegung und alte Sozialdemokratie unterscheiden sich demzufolge nicht grundlegend in ihren Vorstellungen von der ›Gesetzmäßigkeit‹ gesellschaftlicher Entwicklung, Abschaffung von Markt und Profit usw., sondern in der Betonung der Mittel - Demokratie versus Revolution - und in der Bewertung ihrer politischen Handlungen im und nach dem Ersten Weltkrieg, was sich als Konfliktlinie innerhalb der deutschen Linken im Grunde bis in die Gegenwart zieht. In bezug auf die deutsche Novemberrevolution von 1918 hat Haffner das Problem wie folgt formuliert: "Die deutsche Revolution von 1918 war eine sozialdemokratische Revolution, die von den sozialdemokratischen Führern niedergeschlagen wurde: ein Vorgang, der in der Weltgeschichte kaum seinesgleichen hat."9 Tausende Revolutionäre wurden von den Freikorps mit Zustimmung der sozialdemokratischen Parteiführung umgebracht, angefangen bei Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die die KPD begründet hatten. Den Kommunisten galt dies dann als hinreichend, um nach 1945 in der sowjetisch besetzten Zone beziehungsweise in der DDR Sozialdemokraten einzusperren und umzubringen. Analoge Auseinandersetzungen fanden in anderen europäischen Ländern statt. Die russischen Bolschewiki, nach der Oktoberrevolution 1917 einmal an der Macht, lösten auf Geheiß Lenins im Januar 1918 die gewählte Verfassunggebende Versammlung Rußlands auf. Damit blieb der errichteten Sowjetmacht - typologisch jeder seither errichteten Macht kommunistischen Typs - der Verzicht auf die Gewinnung der numerischen Mehrheit innerhalb der ›eigenen‹ Bevölkerung eingeschrieben. Rosa Luxemburg benannte sehr hellsichtig die darin für die sozialistische Bewegung liegende Gefahr und warf den Führern der russischen Revolution die Abschaffung der Demokratie (in Gestalt der Auflösung der Konstituante) vor, die zu einem "Erdrücken des politischen Lebens im ganzen Lande" und schließlich zu einer Diktatur, nicht des Proletariats, sondern "einer Handvoll Politiker" führen werde.10 In diesem Sinne wurde das kommunistische Herrschaftssystem geschaffen, erhalten und ausgebaut. Leo Trotzki schrieb: "Der demokratische Zentralismus machte bürokratischem Zentralismus Platz. Der Parteiapparat selbst wurde nunmehr von oben bis unten radikal umgekrempelt. Als Haupttugend des Bolschewiken galt der Gehorsam. Unter der Fahne des Kampfes gegen die Opposition fand eine Ersetzung der Revolutionäre durch Beamte statt... Das Verbot der Oppositionsparteien zog das Verbot der Fraktionen nach sich; das Fraktionsverbot endete mit dem Verbot, anders zu denken als der unfehlbare Führer. Der Polizeimonolithismus der Partei brachte die bürokratische Straflosigkeit mit sich, die zur Quelle aller Formen der Zügellosigkeit und Zersetzung wurde."11 Dies festzustellen, verweist auf die systemischen Ursachen, die in das Fiasko der kommunistischen Herrschaft mündeten; es sagt nichts über die Selbstlosigkeit, Ziele und Ideale etwa deutscher Kommunisten, die im Widerstand gegen Hitlers Herrschaft ihr Leben gaben, oder jener jungen Menschen, die sich 1945 nach dem Faschismus für Sozialismus als Alternative entschieden. Gerade jene, die in der real existierenden DDR nicht einen Selbstbedienungsladen, sondern ein persönliches Ziel sahen, für das sie sich selbstlos einsetzten, müßten an der schonungslosen Bloßlegung der Gründe für deren Ruin in besonderem Maße interessiert sein. Nach diesem Scheitern ist der Streit zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten historisch erledigt. Die Auseinandersetzung zwischen PDS und Sozialdemokratie ist eine qualitativ andere, als es jene war, eine politische auf dem Boden der demokratischen Verfaßtheit dieser Bundesrepublik, und sie geht um die je bessere Politik zugunsten der sozial Schwächeren, zugunsten einer sozial und ökologisch nachhaltigen Gesellschaft. Wenn die SPD heute die Mitte dieser Gesellschaft ausmacht, geht es darum, mit linker Politik auf diese Mitte und in die Gesellschaft zu wirken.

Marxistisches

Die Begründung des kommunistischen Herrschaftssystems war und blieb immer ideologisch. Deshalb wurde dem Wort und der ›richtigen‹ Gesinnung stets ein zentraler Platz zugemessen, waren regelmäßige Überprüfungen der Parteimitgliedschaft, insbesondere ihrer Haltung zu den jeweiligen Verkündigungen des respektiven Generalsekretärs und Politbüros, und Parteischulung bis zum Schluß konstitutive Bestandteile der Herrschaft. Hier hatte eine Metamorphose stattgefunden, eine schrittweise Umbildung des Gedankengebäudes: Aus den gesellschaftskritischen, streitbaren Ideen von Karl Marx machten Friedrich Engels und die Führer der alten Sozialdemokratie den ›Marxismus‹ der Arbeiterbewegung (siehe oben Bebels Folgerungen zum erwarteten ›Sozialismus‹). War dieser innerparteilich und gesellschaftspolitisch noch recht demokratisch angelegt, so formte Lenin daraus den ›Bolschewismus‹, der eine Zuspitzung hinsichtlich des Bekenntnisses zur ›Diktatur des Proletariats‹ und zur Verstaatlichung des Produktiveigentums darstellte und vor allem mit dem Prinzip des ›demokratischen Zentralismus‹, der eigentlich die Abschaffung demokratischen Entscheidens innerhalb der Partei und die Etablierung einer innerparteilichen Befehlshierarchie von oben nach unten bedeutete, die Partei zu einer militärisch straff organisierten Kampforganisation machte. Stalin nannte dies dann ›Leninismus‹ und ließ seine Variante der dazugehörigen vereinfachten Glaubenssätze, deren Anzahl dann schon nicht mehr sehr groß war, Ende der 1930er Jahre, in der Zeit der großen Schauprozesse, kanonisiert festschreiben.12 Die Parteiideologien der meisten herrschenden kommunistischen Parteien in Europa - außer in Titos Jugoslawien - stellten bis zum Schluß eine in je unterschiedlicher Weise gemilderte Variante jenes Kanons dar. So war geistes- und politikgeschichtlich aus dem theoretischen Gebäude von Marx der ›Marxismus‹, aus diesem der ›Leninismus‹ und schließlich die stalinistische Variante der kommunistischen Ideologie hervorgegangen. So hat Stalin mit Lenin, hat dieser mit der alten Sozialdemokratie von Bebel und Engels und haben diese mit Marx zu tun.13 Jeder Schritt dieser Metamorphosen ist bewußt vollzogen worden. Es gab natürlich jeweils auch andere Möglichkeiten der Interpretation und Exegese. Insofern war jede dieser Häutungen nicht die einzige der möglichen theoretisch-ideologischen Verwandlungen jenes auf Marx zurückgeführten Gefüges. Und so ist die gesamte Geschichte des Parteimarxismus auch eine Geschichte geistiger und politischer Kämpfe zwischen ›Rechtgläubigen‹, ›Orthodoxen‹ und Häretikern, eine Geschichte von Inquisitionsgerichten, Verfolgung und Ermordung Andersdenkender. Es war zugleich eine Geschichte von Abspaltungen. Erinnert sei an den Streit zwischen Lenin und Trotzki, Stalin und Tito, die Kontroversen zwischen Tito und Enver Hoxha, den Kampf zwischen Chruschtschow und Mao, der schließlich bis zu militärischen Auseinandersetzungen an der sowjetisch-chinesischen Grenze eskalierte. Ulbricht wurde von Moskau aus abgelöst, als er sich als der neue Interpret des ›Marxismus‹ präsentierte, indem er den Realsozialismus 1967 eine "relativ selbständige sozialökonomische Formation"14 nannte, während man in der KPdSU-Führung weiter vom baldigen Kommen des Kommunismus (als der höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft) schwadronierte15. Der Kampf um politische Richtungen nahm stets ideologische Formen an, wurde um Worte, Bilder und Texte beziehungsweise ihre ›richtige‹ Auslegung geführt, wie umgekehrt ideologische Unterschiede nicht ohne politische Konsequenzen blieben, die auch in der Erschießung der im ideologischen Streit unterlegenen Seite bestehen konnten. Im Grunde muß Ideologiegeschichte des Kommunismus betrieben werden als eine Art Religionsgeschichte. Dies allerdings ist schon bei Marx angelegt. Karl Löwith hob hervor, es sei kein Zufall, "daß der letzte Antagonismus der beiden feindlichen Lager, der Bourgeoisie und des Proletariats, dem Glauben an einen Endkampf zwischen Christus und Antichrist in der letzten Geschichtsepoche entspricht, und daß die Aufgabe des Proletariats der welthistorischen Mission des auserwählten Volkes analog ist. Die universale Erlösungsfunktion der unterdrückten Klasse entspricht der religiösen Dialektik von Kreuz und Auferstehung und die Verwandlung des Reiches der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit der Verwandlung des alten in einen neuen Äon. Der ganze Geschichtsprozeß, wie er im Kommunistischen Manifest dargestellt wird, spiegelt das allgemeine Schema der jüdisch-christlichen Interpretation der Geschichte als eines providentiellen Heilsgeschehens auf ein sinnvolles Endziel hin. Der historische Materialismus ist Heilsgeschichte in der Sprache der Nationalökonomie. "16 Auch Schumpeter reihte den Marxismus unter die Religionen. "Dem Gläubigen bietet er erstens ein System von letzten Zielen, die den Sinn des Lebens enthalten und absolute Maßstäbe sind, nach welchen Ereignisse und Taten beurteilt werden können; und zweitens bietet er sich als Führer zu jenen Zielen, was gleichbedeutend ist mit einem Erlösungsplan und mit der Aufdeckung des Übels, von dem die Menschheit oder ein auserwählter Teil der Menschheit erlöst werden soll... Einfach das Ziel zu predigen, wäre wirkungslos geblieben; eine Analyse des sozialen Prozesses hätte nur ein paar hundert Spezialisten interessiert. Aber im Kleid des Analytikers zu predigen und mit einem Blick auf die Bedürfnisse des Herzens zu analysieren, dies schuf eine leidenschaftliche Anhängerschaft und gab dem Marxisten jenes größte Geschenk, das in der Überzeugung besteht, daß das, was man ist und wofür man einsteht, niemals unterliegen, sondern am Ende siegreich sein wird."17 Und was bleibt von den Marxschen Ideen? Nunmehr scheint jegliches Denken in diesem Sinne obsolet, jedenfalls wird dies von interessierter Seite gern wortreich verkündet. Dem steht das berühmte - bald nach der ›Wende‹ ausgesprochene - freundliche Wort von Heiner Müller gegenüber, das marxistische Denken müsse bewahrt und weiterentwickelt werden für die Zeit, da die Menschen seiner wieder bedürfen. Das Scheitern des Realsozialismus bedeutete auch das Ende des offizialisierten Parteimarxismus als der Ideologie der Nomenklaturaherrschaft. Damit war die Gesamtheit der Ideen von Marx und seiner unterschiedlichsten geistigen Nachfolger wieder frei, als Gefüge sozialkritischer Ideen und Methode der Kapitalismuskritik benutzt zu werden, kritisch neu gesichtet und neu dort in Ansatz gebracht, wo es neuen Erkenntnisgewinn verspricht. (Insofern kann das umstandslose Streben nach Zerstörung des aus der DDR stammenden sozial- und geisteswissenschaftlichen Potentials - das nicht nur von Kohl initiiert, sondern auch von unzähligen willigen Helfern, die sich selbst oft gern als mehr oder weniger ›links‹ betrachteten, umgesetzt wurde - als der Versuch angesehen werden, die ›antikommunistische Gesinnungsgemeinschaft‹ der alten BRD gegenüber gesellschaftskritischen Sichtweisen abzuschotten. Man fürchtete natürlich nicht den offiziellen SED-Kanon, sondern das "marxistische Denken der einzelnen Intellektuellen, der Wissenschaftler und Künstler", das "neben dem offiziellen Marxismus"18 existierte.) Vieles an den ursprünglichen Ideen von Marx war dem 19. Jahrhundert verhaftet und kann ein modernes Sozialismusverständnis nicht mehr tragen. Anderes bleibt analytisch fruchtbar. Zugleich muß über die alten Vorstellungen hinaus gedacht werden. Die heutigen Globalisierungsprozesse und die Individualisierung oder die Geschlechterverhältnisse sind mit den überkommenen Annahmen des ›Marxismus‹ nicht mehr zu fassen. Die unterschiedlichen marxistischen Strömungen - einschließlich solcher Theoretiker, wie Trotzki oder Djilas, die einst als Häretiker galten - können für ein sozialismusrelevantes Denken ebenso genutzt werden, wie etwa die Bergpredigt oder Immanuel Kant und unterschiedliche neue Ansätze, die oft nicht sozialistisch gemeint sind, aber entsprechend gesichtet fruchtbar sein können, denken wir etwa an die Texte von George Soros über den derzeitigen Kapitalismus. Eine linkssozialistische Partei, wie die PDS, kann also nicht in einem traditionellen Sinne ›marxistisch‹ sein.

Gesellschaftstheoretisches

Eines der sozialtheoretischen Probleme, die bei Marx ungelöst blieben, ist die Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft. In der Soziologie und im weiteren Sinne in den Sozialwissenschaften geht diese auf Ferdinand Tönnies (1855-1936) zurück. Tönnies ging davon aus, daß "die bisherige wissenschaftliche Terminologie" Gemeinschaft und Gesellschaft "ohne Unterscheidung nach Belieben zu verwechseln" pflegt. Unter Verweis zunächst auf den umgangssprachlichen Gebrauch des Deutschen machte er die unterschiedliche Verwendung der beiden Wörter deutlich: "Alles vertraute, heimliche, ausschließliche Zusammenleben ... wird als Leben in Gemeinschaft verstanden. Gesellschaft ist die Öffentlichkeit, ist die Welt. In Gemeinschaft mit den Seinen befindet man sich, von Geburt an, mit allem Wohl und Wehe daran gebunden. Man geht in die Gesellschaft wie in die Fremde... Man leistet sich Gesellschaft; Gemeinschaft kann Niemand dem Anderen leisten... Gemeinschaft der Sprache, der Sitte, des Glaubens; aber Gesellschaft des Erwerbs, der Reise, der Wissenschaften. So sind insonderheit die Handelsgesellschaften bedeutend; wenn auch unter den Subjekten eine Vertraulichkeit und Gemeinschaft vorhanden sein mag, so kann man doch von Handels-Gemeinschaft nicht reden. Vollends abscheulich würde es sein, die Zusammensetzung Aktien- Gemeinschaft zu bilden. Während es doch Gemeinschaft des Besitzes gibt: an Acker, Wald, Weide. Die Güter-Gemeinschaft zwischen Ehegatten wird man nicht Gütergesellschaft nennen. Im allgemeinsten Sinne wird man wohl von einer die gesamte Menschheit umfassenden Gemeinschaft reden, wie es die Kirche sein will. Aber die menschliche Gesellschaft wird als ein bloßes Nebeneinander voneinander unabhängiger Personen verstanden."19 Peter Ruben hat diesen Ansatz rekonstruiert und hervorgehoben, daß "die Gemeinschaft durch die unmittelbare Kooperation in der Erhaltung des physischen Lebens via Produktion realisiert" ist, "die Gesellschaft aber durch den Austausch, durch den Handel"20. An anderer Stelle betont Ruben, daß Gemeinschaft gleichsam "die naturhistorische Verbindungsweise zwischen Menschen (ist), die bereits allein auf Grund der sexuellen Reproduktion den Grund der Produktion menschlicher Individuen bildet. Gesellschaft dagegen ist Produkt des Handelns der Individuen als Personen, vermittelt durch den Kontrakt, den sie schließen. Das Individuum ist Teil der Gemeinschaft und zwar sein letzter unteilbarer Teil, wie es diese lateinische Übersetzung des griechischen atomos auch meint. Die Gemeinschaft ist gegen ihre Individuen daher auch in der Verteilung, in der Distribution wirklich. Die Gesellschaft wird ... durch den Austausch gebildet, der - in der rein theoretischen Annahme - wenigstens zwei gegeneinander verschiedene und miteinander in Verkehr tretende Gemeinschaften voraussetzt, die im Verkehr zumindest eine Preisverhandlung betreiben... Mit dieser Beschreibung verzichte ich auf TönniesÂ’ Bemühung des Willens und denke lieber an die Produktion und den Austausch, wenn ich seine Termini Gemeinschaft und Gesellschaft übernehme. Isolierte Individuen, so wissen wir, können nicht menschliche Generationen garantieren. Dies gelingt erst bei Gemeinschaften von etwa 500 Individuen, die mit interner Arbeitsteilung unmittelbar kooperativ zusammenwirken und in reiner Subsistenzwirtschaft sich bei passenden Umweltbedingungen auf Dauer, das heißt über Generationen hinweg, erhalten können. So ist die Gemeinschaft unerläßliche Bedingung individueller Existenz. Die Gesellschaft dagegen ist die eigentlich historische Erfindung, die mit der Entdeckung gemacht wird, daß Gemeinschaften Bedürfnisse mit fremden Gütern befriedigen können, wenn sie anderen Gemeinschaften eigene Güter zur Befriedigung fremder Bedürfnisse zu liefern fähig sind. Die Entwicklung der Gesellschaft impliziert die Produktion von Gütern über den Eigenbedarf hinaus. Sie ist daher die notwendige Bedingung der Entwicklung des Reichtums."21 Folgt man diesem Verständnis, so ist zunächst davon auszugehen, daß Gemeinschaft und Gesellschaft nicht, wie von etlichen zeitgenössischen Geistes- und Sozialwissenschaftlern unterstellt, einen konträren Gegensatz darstellen. Auch ist nicht Gemeinschaft eine niedere Form, weil in ihr etwa die bürgerliche Distinktion der Gesellschaft nicht gelten würde. Allein schon die Vorstellung, daß die Vermarktlichung, wie von der neoliberalen Ideologie unterstellt, immer mehr alle Seiten des menschlichen Lebens erfassen würde, liefe auf die Auflösung der bestehenden Vergemeinschaftungsformen hinaus. Vielleicht ist der Rückgang der Geburtenrate in Deutschland ja gerade Ausdruck des marktförmigen Verhaltens weiter Teile der deutschen Mittelschichten, mit der Folge - wie die Debatten um Zuwanderung zeigen -, daß die einfache Reproduktion der Bevölkerung schon aus Gründen des hierzulande installierten Produktionsapparates nur durch Menschen auszugleichen ist, die in anderen Gemeinschaften aufgewachsen sind. Die öffentliche Thematisierung von ›Ehrenamt‹ und häuslicher Arbeit zeigt ebenfalls, daß die Gesellschaft bei Strafe ihres Untergangs nicht die Gemeinschaftsformen aufzehren kann. Beide sind nicht Geschöpfe von Willensentscheidungen, sondern Ausdruck der wirklichen Existenz und Bewegung menschlicher Bindungen als positiver Verbindungen der Menschen in ihrem Lebensprozeß, die wiederum aus den materiellen Lebensverhältnissen erwachsen. Es handelt sich um "einen unaufhebbaren Dualismus", der jedoch in einem beständigen Spannungsverhältnis steht. "Wird durch den Austausch keine einfache Reproduktion (Gleichgewicht) bewerkstelligt, sondern Innovation, so stellt die gesellschaftliche Bewegung die Struktur der beteiligten Gemeinschaften in Frage und zwingt sie zur Reorganisation, zur Reform. Dadurch tritt der Schein der Feindlichkeit der Gesellschaft gegen die Gemeinschaft ein... Er bleibt aber ein Schein, weil die Gemeinschaft schon um den Preis der physischen Erhaltung der Gattung gar nicht beseitigt werden kann."22 Der Dualismus von Gemeinschaft und Gesellschaft erklärt sich hinreichend - nach Tönnies wie nach Ruben - aus dem Verhältnis zwischen Produktion und Austausch. Ist also davon auszugehen, daß die Einzelmenschen in Gemeinschaften Individuen, in Gesellschaften Personen sind, das heißt kontraktfähig und als solche Vertragspartner, so gilt: "Gemeinschaften sind durch gemeinsame Vermögen bestimmt, z. B. durch eine Gemeinschaftskasse... Besondere Gesellschaften unterstellen die Assoziation von Teilen persönlicher Vermögen, die nicht zum Gruppeneigentum in dem Sinne werden, daß nur die Gruppe als solche über seine Verwendung entscheidet (die Geschäftsführung handelt im Auftrag der Gruppe, und nie kann die Geschäftsführung die Gruppenmitglieder entmündigen, ausschließen, kooptieren oder sonst in irgendeiner Form in ihre Funktionäre verwandeln, das gerade kann ein Gemeinwesen mit seinen Individuen in der Tat veranstalten)... Personen bringen Teile ihres Eigentums in eine geschlossene Gesellschaft ein, und sie bleiben darin die persönlichen Eigner."23 Bei Marx ist die Ununterschiedenheit der Gemeinschaft von der Gesellschaft Moment seines Konzepts der Entfremdung der Arbeit. So schreibt er: "Die gesellschaftliche Tätigkeit und der gesellschaftliche Genuß existieren keineswegs allein in der Form einer unmittelbar gemeinschaftlichen Tätigkeit und unmittelbar gemeinschaftlichen Genusses, obgleich die gemeinschaftliche Tätigkeit und der gemeinschaftliche Genuß, das heißt die Tätigkeit und der Genuß, die unmittelbar in wirklicher Gesellschaft mit anderen Menschen sich äußert und bestätigt, überall da stattfinden werden, wo jener unmittelbare Ausdruck der Gesellschaftlichkeit im Wesen ihres Inhalts begründet ... ist."24 Ist in diesem Sinne die Gemeinschaft unmittelbare Gesellschaft, so kann nur die vermittelte Gesellschaft nicht Gemeinschaft sein. Sie aber ist eben die, die das Individuum durch Gebrauch der Produkte anderer Individuen eingeht. Marx folgert demgemäß: "Es ist vor allem zu vermeiden die ›Gesellschaft‹ wieder als Abstraktion dem Individuum gegenüber zu fixieren. Das Individuum ist das gesellschaftliche Wesen."25 Das läuft dann darauf hinaus, die Gesellschaft als Gemeinschaft zu denken beziehungsweise als die "wahre Gesellschaft" im Gegensatz zur "falschen" oder "entfremdeten". Konsequenz kann dann nur sein, diese Gesellschaft abzuschaffen. Der Einzelmensch ist dann als Individuum Element der Gemeinschaft, sein letzter unteilbarer Teil, gegen den sie das Ganze ist, er ist jedoch nicht mehr kontraktfähige Person in der Gesellschaft, die sich am Gütertausch beteiligt. Folgerichtig wurde in allen kommunistischen Ländern nicht nur das Privateigentum am Produktivvermögen beseitigt, sondern gerade in der Anfangsphase jede Form des ›Schachers‹ am Staat vorbei streng geahndet.

Sozialismus oder Kommunismus?

Der Begriff ›kommunistisch‹ wird hier weder pejorativ noch nur auf den kommunistischen Parteitypus bezogen benutzt. Er beschreibt präzise das, was da von 1917 beziehungsweise 1945 bis 1989/91 absolviert wurde. Der ursprüngliche Unterschied zwischen Sozialismus und Kommunismus ist nicht der, der von Marx kam und später unter Stalin dogmatisiert wurde, nämlich einer von zwei Phasen einer Gesamtentwicklung. Die ursprüngliche Differenz, wie sie Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa allgemein bekannt war, ist die zwischen zwei unterschiedlichen politischen und Gesellschaftskonzepten: Mit dem Heraufkommen der Industrie hatte sich die soziale Frage, die vordem stets die Agrarfrage, nämlich die Frage nach dem Bodeneigentum war, in die Frage nach dem Anteil der Besitzlosen, der Proletarier an der Gesellschaft verwandelt. Die ›kommunistische Antwort‹ auf diese soziale Frage war die Enteignung des privaten Produktivvermögens und der Versuch, die Produktion anders zu organisieren, nämlich über eine Zuteilung von Ressourcen, die Verteilung der Arbeiter auf die Produktionszweige, die Kontrolle und Verordnung der Preise usw. Die Kommunisten, die 1917 in Rußland und mit dem Zweiten Weltkrieg in anderen osteuropäischen Ländern an die Macht kamen, sahen folgerichtig im Staat das Instrument zu dessen Durchsetzung und in der Diktatur, mithin der Abschaffung der Freiheit und der Demokratie das Mittel, dies zu verwirklichen. ›Sozialismus‹ dagegen ist die "systematische Entwicklung der Idee des Kapitals, des Eigentums, der Familie, der Gesellschaft und des Staates unter der Herrschaft der Arbeit" (Lorenz Stein).26 Danach ist Kommunismus die Herstellung einer Gemeinschaftsordnung, die auf dem Prinzip der Abschaffung des persönlichen Produktivvermögens beziehungsweise Eigentums beruht, Sozialismus dagegen eine Gesellschaftsordnung, die die Institutionen der Gesellschaft nicht abzuschaffen, sondern zu nutzen trachtet, um sie den Interessen der Mehrheit, die nicht über großes Kapitaleigentum verfügt, nutzbar zu machen. Soziale Demokratie, demokratische politische Verhältnisse, Rechtsstaat und Wohlfahrtsstaat sind die modernen Gestalten, in denen eine politisch erwirkte Kontrolle über die Kapitalverwertung im Interesse der Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder sich erreichen lassen kann, um eine Dominanz ›der Arbeit‹ gegenüber ›dem Kapital‹ herzustellen. Das setzt die Fortexistenz und Nutzung der Basisinstitutionen der modernen Gesellschaft voraus, während deren Abschaffung nur wieder die Notdurft der staatssozialistischen - im sozialtheoretischen Sinne ›kommunistischen‹ - Zuteilungswirtschaft reproduzieren würde. Die allerdings war 1989 gerade in Konkurs gegangen. Die konstituierenden Elemente des kommunistischen Herrschaftssystems können nun wie folgt zusammengefaßt beschrieben werden: Erstens: Die utopische Verheißung von der schönen neuen Welt, die grundlegend unterschieden sei von der des schnöden Kapitalismus und die hier und jetzt begonnen habe, blieb Moment des kommunistischen Herrschaftssystems bis zu seinem Dahinscheiden. Es war seine unhintergehbare Letztbegründung. Zweitens: Die kommunistische Staatspartei leitete ihr Selbstverständnis daraus ab: (a) ›gesetzmäßig‹ vollziehe sich der ›Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus‹; dies sozial zu tragen sei (b) die ›historische Mission‹ der Arbeiterklasse; es politisch zu realisieren sei (c) Auftrag der kommunistischen Staatspartei, die sich als "der bewußte und organisierte Vortrupp der Arbeiterklasse und des werktätigen Volkes"27 definierte. Sie war in der Leninschen Tradition (d) nach dem Prinzip des ›demokratischen Zentralismus‹ hierarchisch von oben nach unten organisiert. Das hatte zur Folge, daß die Parteiführung auf demokratischem, statuarischem Wege nicht absetzbar war. Politische Kämpfe hatten die Gestalt byzantinischer Palastrevolten, in deren Ergebnis - bis auf Chruschtschow - die unterlegene Seite in der Regel erschossen wurde. Später dann verschwanden die Unterlegenen im politischen Nichts, Chruschtschow in seiner Moskauer Wohnung mit Verbot, öffentlich aufzutreten, zuvor Molotow auf dem Botschafterposten in Ulan Bator. Drittens: Da die Politik der Partei die einzig wahre Realisation historischer Gesetzmäßigkeiten zu verkörpern beanspruchte, stand nie Politik als solche zur Debatte, sondern immer nur die Umsetzung des ›richtigen‹ Kurses. Insofern wurde jede Form von tatsächlicher Gewaltenteilung abgeschafft. (Ihre partielle Einführung, etwa in Gestalt von Verwaltungsgerichtsbarkeit in Polen in den 1980er Jahren, war eine Rückzugsoperation, die der Schwäche der Partei im Angesicht von Solidarnos´c´ geschuldet war.) Das höchste Organ der Partei, das Politbüro, war oberste Exekutive, oberste Legislative, oberste Judikative und oberste Glaubenskongregation in einem. Das Politikverständnis blieb instrumentell. Die Wissenschaft, zumal im Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften, die nun Herrschaftswissenschaften waren, mit der Philosophie an der Spitze, sollte dem Prinzip der ›Parteilichkeit der Wissenschaft‹ subordiniert sein. Viertens: In diesem Sinne stellte sich die Partei mit ihrer ›führenden Rolle‹ auch staatsrechtlich verankert über die Verfassungsordnung. So hieß es im Art. 1 der Verfassung der DDR (von 1974), daß die DDR "die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei "28 sei. Das monistische Herrschaftssystem war mit seinen Staatsorganen um die Partei gruppiert und seinerseits nach dem Prinzip des ›demokratischen Zentralismus‹ aufgebaut, in der DDR war dies im Art. 47 der Verfassung ausdrücklich festgelegt.29 Auch zum Recht war das Verhältnis instrumentell. Regulative Idee war nicht der Rechtsstaat, die Herrschaft des Rechts, sondern die von Staat und Recht als ›Machtinstrument der herrschenden Klasse‹, praktisch des Politbüros. Fünftens: Da Kapitalismus, und mit ihm der Profit, beseitigt sein sollte, wurden auch Basisinstitutionen der Moderne wie Zins, Kredit usw. abgeschafft, was letztlich dazu führte, daß Â›sozialistische Planwirtschaft‹ vordergründig als Zuteilung von materiellen Ressourcen und Erteilung von Produktionsauflagen der Zentrale (das heißt des Politbüros als des einzig autorisierten Akteurs) an die Betriebe umzusetzen versucht wurde. Auch dort, wo mit finanziellen Steuerungsinstrumenten experimentiert wurde, wie in Ungarn, verzichtete die politische Führung letztlich nicht auf den Zugriff auf die Ressourcen. Die Wirtschaftsreformen fanden stets dort ihre Grenze, wo die Betriebe wirklich die Kompetenzen zur Preisbildung, Lohnfestlegung und Entlassung hätten erhalten sollen. Die Unterordnung der Produktion unter die politische Führung hatte schließlich zur Folge, daß niemand eine wirkliche Kosten-Nutzen-Rechnung der Volkswirtschaft und der einzelnen Wirtschaftszweige beziehungsweise Unternehmen anstellen konnte. Technische Innovation wurde erschwert. Die wirtschaftspolitischen Spielräume verengten sich immer mehr. Westliche Kredite sollten seit den 1970er Jahren die Engpässe ausgleichen. Am Ende stieg die Verschuldung, im Falle der DDR von zwei Milliarden ›Valutamark‹ (entsprach faktisch D-Mark), die Ulbricht hinterließ, auf 49 Milliarden 1989 (nach Schürer, Chef der Staatlichen Plankommission) beziehungsweise 37 Milliarden (da nach Schalck-Golodkowski, der den Sonderwirtschaftsbereich des Westhandels der DDR leitete, auf Westkonten der DDR noch zwölf Milliarden Guthaben lagen). Auch die geringere Summe verkörperte einen Anstieg auf das 18,5fache (ohne Berücksichtigung der Geldentwertung). Das Wort ›Bankrott‹ des europäischen Kommunismus hatte so nicht nur eine metaphorische Bedeutung. Sechstens: Da das beschriebene Gefüge - Anspruch, eine ›historische Mission‹ zu realisieren, eine ›führende Rolle‹ zu spielen, immer recht zu haben, als der eigentliche Besitzer über die gesamte Volkswirtschaft zu verfügen, in der zugleich wirkliche Kosten-Nutzen- Rechnung verunmöglicht war - in jedem kommunistischen Land bestand, bewirkte dies, daß sich im kommunistischen Staatengefüge unterschiedliche, in sich geschlossene Staatsgebilde beziehungsweise Nationalwirtschaften gegenüberstanden. Tatsächliche Preisbildung, wirkliche Integration fand nicht statt, weder politisch noch wirtschaftlich. Bis zum Schluß wurde im Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) bilateral bilanziert, konnten Guthaben Ungarns gegenüber der DDR nicht mit Verbindlichkeiten gegenüber der Sowjetunion verrechnet werden. Wenn weltwirtschaftliche Arbeitsteilung Entwicklungsstimuli freisetzen kann, was schon Marx wußte, so hatte das kommunistische System darauf verzichtet. Das Herrschaftssystem in seiner real existierenden Gestalt stand dem entgegen. Der Zusammenbruch des europäischen Staatssozialismus war Teil einer grundlegenden Veränderung der internationalen Ordnung, die auch von der Entstehung einer neuen Stufe des Kapitalismus begleitet und mitverursacht wurde. Bei der Betrachtung dieses Zusammenhangs sollte mit Marx zunächst nach den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen gefragt werden.Bis in die 1970er Jahre hinein entwickelten sich die RGW-Länder vergleichsweise rasch; die Sowjetunion hatte in wichtigen Bereichen der Weltraumfahrt und der Rüstungsindustrie Spitzenpositionen inne. Als jedoch neue Technologien entstanden, die vor allem mit der Computertechnik zusammenhingen sowie mit der wachsenden Bedeutung der Informationsverarbeitung und -verbreitung der Entstehung neuer Medien wuchs der Abstand der kommunistischen Länder zu den kapitalistischen rasch wieder an. Die Produktionsverhältnisse einer nationalstaatlich organisierten Staatswirtschaft erwiesen sich gegenüber der global ausgerichteten kapitalistischen Wirtschaft als unterlegen. Das Fehlen der Basisinstitutionen einer modernen Wirtschaft (Markt, Zins, Kredit) hatte dazu geführt, daß in den kommunistischen Ländern keine effektiven Allokationsentscheidungen mehr getroffen werden konnten; das System der staatlichen Planwirtschaft konnte tatsächliche Produktivität nicht messen, fühlte sich durch Innovationen gestört, statt sie zu ermuntern; das Herrschaftssystem, das auf obrigkeitlicher Zuteilung von Informationen beruhte, stand der Informationsrevolution zusätzlich im Wege. Die Produktionsverhältnisse der kommunistischen Gesellschaft waren der Revolution der Produktivkräfte nicht gewachsen und wurden durch diese gesprengt. Das kommunistische System als Staatengefüge zerbarst, weil es als Gesellschaftssystem (mit Ruben: "Gemeinschaftssystem") gescheitert war. Die kapitalistischen Gesellschaften waren Nutznießer dessen, weil sie die neuen Produktivkräfte besser zu entfalten verstanden, denen sie erweiterte Entwicklungsmöglichkeiten bieten konnten. Beide Produktionsweisen waren vor die gleiche neue Stufe der Produktivkraftentwicklung gestellt; die eine hat sie gemeistert, die andere ist an ihr zerbrochen. Das Wettrüsten hätte nie die bekannte auszehrende Wirkung gegenüber den Ressourcen der kommunistischen Länder, vor allem der Sowjetunion, haben können, wenn die innere Innovationsund Reproduktionsschwäche ihrer Wirtschaft diese Flanke nicht geöffnet hätte. Hinzu kommt, daß im kommunistischen Selbstverständnis die Arbeitsproduktivität stets als das entscheidende Kriterium des ›Sieges‹ der neuen Ordnung angesehen und öffentlich proklamiert worden war. Die bereits auf Marx zurückgehende Herleitung, daß es gelte, eine höhere Produktivität der Arbeit zu sichern, war der letztlich alles entscheidende Ansatz, nicht ein Gesellschaftsverständnis, wonach größere Selbstverwirklichung in nichtmateriellen Bereichen, menschliche Wärme und Empathie das entscheidende Kriterium hätten sein können. Ein solches Verständnis, das ein höheres Maß an Freiheit, gerade auf den Feldern der individuellen Freiheit und der Mitentscheidungsrechte, erfordert hätte, wurde durch die quasimilitarisierte, hierarchische Herrschaftsweise des kommunistischen Systems unter der Führerschaft des omnipotenten Generalsekretärs gerade ausgeschlossen. Insofern mußte der immer offensichtlichere Abstand im wissenschaftlich- technischen und wirtschaftlichen Leistungsvermögen die Legitimationsfrage des Herrschaftssystems in dem Maße immer schärfer stellen, wie auch zuvor systemloyale Kreise den Glauben an die Problemlösungsfähigkeit des Systems verloren. Und die politische Revolution des Jahres 1989 mußte gleichsam mit Notwendigkeit im Namen der Freiheit stattfinden.

Sozialistische Politik

Bereits in den 1990er Jahren war unterschiedlichen Autoren aufgefallen, daß Marx und Engels im Kommunistischen Manifest eigentlich einen globalisierten, sein Entwicklungstempo erhöhenden Kapitalismus beschrieben hatten, wie er offenbar erst jetzt besteht. Bis zum Ersten Weltkrieg hatte er sich, zumindest was wesentliche Länder mit kapitalistischer Produktionsweise betrifft, unter der politischen Vormundschaft des Adels und vormoderner Institutionen entwickelt, die er gleichsam vorgefunden hatte. In der Zwischenkriegszeit und während des Zweiten Weltkrieges stand er, was etwa Deutschland und Italien anbetrifft, unter politischer Herrschaft totalitärer Kräfte, die er mit hervorgebracht hatte. (Insofern ist der Zusammenhang von Kapitalismus und Demokratie nicht so zwingend, wie die Ideologen des Neoliberalismus derzeit behaupten. Die Demokratie ist ein Errungenes, das aus einer Vielzahl politischer Kämpfe der Völker auch und gerade in den demokratischen, reichen Ländern des Nord-Westens hervorgegangen ist.) Nach 1917 beziehungsweise 1945 standen diese westlichen Gesellschaften weltweit dem kommunistischen Herrschafts- und Staatensystem gegenüber; erst nach 1989/91 ist das kapitalistische System somit gleichsam ›zu sich selbst gekommen‹: im Innern ohne Subordination unter feudale Verhältnisse und nach außen erstmals tatsächlich in der Tendenz global. Jetzt steht die kapitalistische Wirtschaftsweise rein und klar da, so wie sie wirklich ist. Und nun erweist sich: Der Kapitalismus produziert selbst, ununterbrochen und auf jeder Stufenleiter neu die soziale Frage; mit der sozialen Differenzierung und dem Zerfall der ›traditionellen Arbeiterklasse‹, schon aus produktionstechnischen Gründen ist es nicht mehr die ›Arbeiterfrage‹, aber doch eine deutliche Frage der Differenz zwischen ›denen da oben‹ und denen ›unten‹. Diese hat, zumindest in den reichen Ländern des Nordens, nicht das Ausmaß elementarer Not, wie in Deutschland etwa noch in den 1920er Jahren (Kindersterblichkeit, niedrige Lebenserwartung, schlechtes Wohnen). Doch selbst in diesen Ländern verstärkt sich die soziale Polarisierung. Die materiellen Resultate der immer größer werdenden Produktion werden immer ungleicher verteilt, sofern dem nicht politisch gegengesteuert wird. Und das bedarf gewaltiger politischer Anstrengungen. Die Armut an der Peripherie des kapitalistischen Weltsystems ist ihrerseits Bedingung und Ausdruck des Reichtums im Zentrum. So folgt: Der ›kommunistische Versuch‹ war die falsche Antwort auf die richtige Frage. "Die Wende 1989/91 war keine Entscheidung über den Sozialismus als eine Gesellschaftsordnung, sondern über den Kommunismus als eine Gemeinschaftsordnung"30. Sozialistische Politik ist dringlicher denn je. Sie hat sich nicht etwa erledigt, sondern sie hat ihre Perspektive noch vor sich. Doch nicht der ›Totengräber‹ ist gefragt, sondern die Rahmensetzung für einen Strom von Produktivität menschlicher Wesenskräfte, der in die Bahnen humaner Zwecksetzung gezwungen werden muß. Es mag sein, daß kapitalistisches Produzieren historisch endlich ist, wie einst die Sklaverei. Der Raum dieser Endlichkeit jedoch ist offenbar noch nicht ausgeschritten. Für eine sozialistische Partei kann - zumal nach der absolvierten Erfahrung mit dem ›kommunistischen Experiment‹ - eine kommunistische Politik nicht in Frage kommen. Es war nicht einfach eine Deformation der an sich gutgemeinten Gesellschaft, das falsche Personal, das da an die Macht gekommen war, sondern das kommunistische Gesellschaftskonzept hat mit Notwendigkeit die Diktatur und die Abschaffung der Freiheit hervorgebracht. Es würde dies auch wieder so geschehen, wenn eine ›kommunistische Antwort‹ auf die neuen sozialen Fragen anvisiert würde. Von der Freiheit auszugehen heißt, ihr Rechnung zu tragen. Das aber meint, daß Herrschaft nur unter der Voraussetzung der Demokratie und der Gewaltenteilung ausgeübt werden kann; daß die sozialistische Partei sich immer wieder neu zur Wahl und damit zur Disposition stellt, nicht nur, weil es in der Verfassung steht, sondern weil sie selbst es so will; daß sie versuchen kann und muß, das bessere Programm zu haben, aber dieses nicht über eine proklamierte Vormundschaft über die Gesellschaft (›führende Rolle‹) umsetzen kann. Auch innerhalb einer pluralen, demokratischen Linken kann sie nur Netzwerke, Podien anbieten, nicht aber sich zum Besserwisser, der ›immer recht hat‹, aufschwingen wollen. Es gibt - selbstredend unter der Voraussetzung der Demokratie und der regelmäßigen Wiederwahl - keine linke Politik, wenn es keine Mehrheit dafür in der Gesellschaft gibt. Das darin liegende Spannungsverhältnis ist nur aufzulösen, wenn es einen konzeptionellprogrammatischen Rahmen für Reformprojekte auf den verschiedenen konkreten Politikfeldern gibt, die mit einem - mehr oder weniger - konsistenten Gesellschaftskonzept zu tun haben. Allerdings bleibt anzumerken, daß es eine einheitliche theoretische Grundlegung einer einheitlichen Politik nicht geben kann. Ziel sollte daher sein, konsistente, aus dem Wertehaushalt der Partei, ihrem Freiheitsverständnis und ihrem Menschenbild und aus der bisherigen Gesellschaftsanalyse resultierende Begründungen für sozialistische Politik zu geben, die für die Partei, ihre Sympathisanten und Wähler schlüssig sind, die im Kern von ihnen geteilt werden, ohne daß jedes einzelne Argument notwendig von allen geteilt werden muß. Die Utopie sei tot, wurde seit 1989 getönt. Mittlerweile zeigt sich etwas anderes: Der ›Turbokapitalismus‹ hat "inzwischen auch die geschichtslose Endzeitstimmung der Postmoderne weggeblasen. Die utopischen Diskurse regen sich längst wieder, die Zukunft der Arbeitswelt, die Beziehung von Arbeit und Leben, die Anrechte auf die Ressourcen der Erde wie die Aushandlungsmodi zwischen den Gruppen und Gesellschaften jenseits der Marktkommunikation stehen wieder zur Diskussion. Vor allem aber scheint sich der Kern der neoliberalen Ideologie als untaugliche Utopie zu erweisen. Der Glaube trägt nicht, daß da jeder für sich allein verantwortlich ist. Das vollständig autonome Individuum erweist sich als Fiktion, und es beginnt die Suche nach ethischen Modellen, die die Alltagserfahrung ausdrücken, daß die Menschen einander brauchen."31 Vielleicht liegt die historische Aufgabe (oder Chance, je nachdem, wie man es betrachtet) einer linkssozialistischen Partei auch darin, der linke Stachel, das utopische und soziale Gewissen zu sein. Es gibt kein einheitliches Subjekt linker Politik; der Traum vom ›revolutionären Arbeiter‹ ist ausgeträumt. Die ›einheitlich und geschlossen‹ handelnde ›Kampfpartei‹ war stets eine Schimäre, und selbst die gehörte einer längst abgestorbenen Welt an. Selbsternannten Avantgardisten, die ›für‹ und ›anstelle‹ der Mehrheit handeln wollen, weil jene angeblich nicht zum Ausdruck ihrer ›objektiven Interessen‹ finde, sollte politisch mit größter Vorsicht begegnet werden. Gleichzeitig müssen verschiedene Figurationen von selbstlosem, idealistischem Handeln ihren Platz in einer pluralen linken Partei haben, wenn und insofern sie dem vorausgesetzten Menschenbild und Wertehaushalt entsprechen. Zugleich muß eine Volkspartei stets auch an die Breite ihrer Wähler- und Anhängerschaft denken, die in ruhigen Zeiten eher nicht zu ›revolutionären Taten‹ neigt, sondern in Ruhe ihrem Tagewerk und ihren Neigungen nachgehen will. Insofern kann ein Programm - der Partei oder für eine Wahl - immer nur Angebot sein, zum Mitdenken, Mithandeln, um als Partei gewählt zu werden, und nach Maßgabe des politischen Gewichts gegebenenfalls auch politischen Einfluß auf Regierungsebene auszuüben. Nach dem Fiasko des Kommunismus gilt um so mehr: Es setzt sich nur soviel Sozialismus durch, als die Sozialisten durchsetzen, doch dies nur nach Maßgabe der Demokratie. Eine gute Sache, die keine Mehrheit findet, kann nicht gut durchgesetzt werden. Alles hat seine Zeit. Es gibt die Stunde der alternativen Politik, in der gehandelt werden muß, und die langen Jahre, da es nur die vielleicht besseren Wege in den eingefahrenen Bahnen gibt. Wenn es drauf ankommt, erinnern sich die Menschen ihrer Interessen. So wie es ist, bleibt es dann nicht. 1 Das hier Dargestellte knüpft an frühere Überlegungen an. Vgl. Erhard Crome: Linke Positionen, linke Politik. Zur Programmdebatte der PDS, in: UTOPIE kreativ, Nr. 120 (Oktober 2000), S. 972-980; Ders.: Zukunft und Vergangenheit - eine Entschlingung, in: UTOPIE kreativ, Nr. 124 (Februar 2001), S. 101-115.
2 Karl Marx, Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, in: Marx/Engels-Werke (MEW), Bd. 4, S. 474.
3 Wir brechen unwiderruflich mit dem Stalinismus als System! Referat: "Zur Krise in der Gesellschaft und zu ihren Ursachen, zur Verantwortung der SED", Referent: Michael Schumann, in: Außerordentlicher Parteitag der SED/PDS. Materialien, Berlin 1990, S. 41-56.
4 Stefan Zweig: Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers, Berlin und Weimar 1985.
5 Vgl. Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München und Wien 1994, S. 17.
6 Vgl. Sebastian Haffner: Von Bismarck zu Hitler. Ein Rückblick, München 1987, S. 10.
7 August Bebel: Die Frau und der Sozialismus, Stuttgart 1913, S. 318 f.
8 Ebenda, S. 508.
9 Sebastian Haffner: Der Verrat, Berlin 1993, S. 6.
10 Rosa Luxemburg: Zur russischen Revolution, in: Dies., Gesammelte Werke, Bd. 4, Berlin 1974, S. 362.
11 Leo Trotzki: Verratene Revolution. Was ist die Sowjetunion und wohin treibt sie? Essen 1990, S. 111 und 117.
12 Vgl. Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki). Kurzer Lehrgang, Berlin 1949 (die russische Originalausgabe erschien 1938).
13 Vgl. Helmut Fleischer: Epochenphänomen Marxismus, Frankfurt/M 1993; Wolfgang Ruge: Stalinismus - eine Sackgasse im Labyrinth der Geschichte, Berlin 1991.
14 Walter Ulbricht: Die Bedeutung des Werkes "Das Kapital" von Karl Marx für die Schaffung des entwickelten gesellschaftlichen Systems des Sozialismus in der DDR, Berlin 1969, S. 38.
15 Hier sei daran erinnert, daß der Parteimarxismus von Marx und Engels bis zu Stalin und seinen Nachfolgern den ›Sozialismus‹ als erste, niedere Phase einer einheitlich gedachten ›kommunistischen Gesellschaftsformation‹ vorstellte. Insofern waren die Auseinandersetzungen darum, was denn ›Sozialismus‹ sei, von zentraler Bedeutung.
16 Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1990, S. 48.
17 Joseph A. Schumpeter: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Tübingen 1987, S. 19 und 21.
18 Werner Mittenzwei: Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland von 1945 bis 2000, Leipzig 2001, S. 537.
19 Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft, Leipzig 1887, S. 3-5.
20 Peter Ruben: Die kommunistische Antwort auf die soziale Frage, in: Berliner Debatte INITIAL, Heft 1/1998, S. 6.
21 Peter Ruben: Realität und Problem der Nation, in: Crome, E., Franzke, J. (Hrsg.), Nation und Nationalismus. Aspekte der Annäherung an das Phänomen des Nationalen nach dem Ende des Ost-West- Konflikts, Berlin 1993, S. 22.
22 Peter Ruben: Die kommunistische Antwort..., a. a. O., S. 7 (Fußnote 20).
23 Ebenda, S. 8.
24 Karl Marx: Ökonomisch- philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in: MEW, Ergänzungsband (bis 1844). Erster Teil, S. 538. Peter Ruben merkt zu diesem Zitat an, daß Marx hier das Adjektiv gemeinschaftlich durch die Wortfolge unmittelbar in wirklicher Gesellschaft mit anderen Menschen erklärt. Das zeigt, daß er die Möglichkeit der Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft ausspricht, aber im eigenen Denken nicht wirklich bestimmt (vgl. Peter Ruben: Grenzen der Gemeinschaft?, in: Berliner Debatte INITIAL, Heft 1/2002).
25 Karl Marx: Ökonomisch- philosophische Manuskripte..., a. a. O., S. 538.
26 Diese Unterscheidung hat in der neueren sozialtheoretischen Literatur vor allem Peter Ruben herausgearbeitet. Vgl. Peter Ruben: Die kommunistische Antwort..., a. a. O.; Ders.: Grenzen der Gemeinschaft?, a. a. O.
27 So bis zum Schluß im Statut der SED. Protokoll der Verhandlungen des IX. Parteitages der SED, 18.-22. Mai 1976, Bd. 2, Berlin 1976, S. 267.
28 Verfassung der DDR, Berlin 1974, S. 9. Ähnliche Formulierungen enthielten die Verfassungen auch der anderen kommunistischen Staaten.
29 Vgl. ebenda, S. 43.
30 Peter Ruben: Zehn Jahre danach - Bemerkungen zum Thema, in: Misselwitz, H., Werlich, K. (Hrsg.), 1989: Später Aufbruch - frühes Ende? Eine Bilanz nach der Zeitenwende, Berlin 2000, S. 46.
31 Dietrich Mühlberg: Alltag und Utopie. Gedanken bei einem Rückblick auf die ostdeutsche Geschichte, in: Becker, F., Merkel, I., Tippach-Schneider, S. (Hrsg.), Das Kollektiv bin ich. Utopie und Alltag in der DDR, Köln u. a. 2000, S. 25.