Einatmen und Ausatmen

Die Rationalisierungsgesellschaft im Umbruch

in (23.04.2001)

Auf dem Symposium "Demokratie in der Krise", stellte die prominente Politikerin der Grünen Antje Vollmer fest, daß die Zeit vorbei sei, "in der es vorrangig war Egalität zu schaffen.

Auf dem Symposium "Demokratie in der Krise", das die Zeit 1994 zur Feier des 75. Geburtstages von Helmut Schmidt veranstaltete, stellte die prominente Politikerin der Grünen Antje Vollmer fest, daß die Zeit vorbei sei, "in der es vorrangig war Egalität zu schaffen." (Als ob es diese Zeit je gegeben hätte!) Jetzt müsse, so Antje Vollmer weiter, "jedenfalls für ein begrenzte Phase, Vorrang auf die Existenzmöglichkeiten und die Entfaltungsmöglichkeiten der Kreativtät der Eliten gelegt werden." Da die menschen jedoch merkten, "daß es um Reduzierueng geht", müsse man sie "psychologisch stabilisieren, indem man mit dem Angebot der Grundsicherung sagt: Wer in dieser Gesellschaft existiert, hat ein Grundrecht auf minimale Sicherung. Damit kann jeder rechnen. Was einer darüber hinaus will, das ist dann individuelle Leistung" (Vollmer im Sommer 1994)

Wenn sogar eine grüne Politikerin so unverhohlen das Leistungsprinzip als den Ausweg aus der Krise preist, dann kann man den Bemühungen der fordistischen Rationalisierungsbewegung, den Rationalisierungsgedanken und mit ihm das Leistungsprinzip zur gesellschaftlichen Norm zu machen vollen Erfolg bescheinigen. Allerdings erweckt die neuere Rationalisierungsdebatte den Eindruck, die fordistischen Rationalisierungsexperten seien einfach zu dumm gewesen, um "richtig" zu rationalisieren. Das bezeiht sich sowohl auf die wohlfahrtstaatliche Regulierung, die heute als Vergeudung und Rationalisierungshemmnis gesehen wird, als auch auf die alten Rationalisierungsmuster. Die neuen Rationaliserungsmuster lassen sich jedoch durchaus auch als Resultate fordistischer Lernprozesse interpretieren, und zwar nicht nur im technisch-organisatorischen, sondern auch im gesellschaftlichen Sinne. Denn daß rationalisiert wird, setzt den gesellschaftlichen Konsens voraus, daß es richtig sei, zu rationalisieren. Gerade um die Herstellung und - zuweilen gewaltsame - Stabilisierung dieses Konsens ging es im Fordismus. Zwar wurde im Fordismus eines nicht geschafft, nämlich die Menschen und Märkte nachhaltig zu rationalisieren. Wenn nun aber auf neue Weise versucht wird, mit dem "Dschungel" zu Rande zu kommen, so wurden dafür im Fordismus die Grundlagen geschaffen - für die neuen Technologien und für gesellschaftliche Verhältniss, in denen in einem erstaunlichen Maße das kollektive und individuelle Heil in einer Radikalisierung des Rationalisierungsgedanken gesucht wird. Die alten Bemühungen, den Dschungel zum Zwecke der Rationalisierung in den Griff zu bekommen, schufen die Voraussetzungen für die neuen Bemühungen, die Gesetze des Dschungels zum Zwecke der Rationalisierung zu nutzen.

Das Prinzip der Rationalisierun, unablässig nach der für den vorgegebenen Zweck relevanten VerVergeudung zu fahnden, hatte von der "angewandten Mathematik" im Betrieb zu Strategien und Utopien geführt, in denen das Umfeld des Betriebs geordnet werden sollte. Nun erweist sich, daß das Prinzip der Rationalisierung auch vor dem nicht Halt macht, was vorher rationalisiert wurde. In der industriellen Rationalisierung wird der alte Glaube als zu teuer aufgegeben, man müsse (und könne) alles kontrollierend in den Griff bekommen oder zumindest Puffer gegen äußere Störungen bilden. Hatte man früher von der Rationalisierung (und Kontrolle) der Umwelt des Unternehmens, der Märkte und der Menschen gedacht, so soll heute unter Stichworten wie "Flexibilisierung" oder "Dezentralisierung" der Markt in das Unternehmen hineingeholt werden und ltztlich für die rationalisierungsgerechte Disziplinierung der Menschen sorgen. Es entstehen neue Formen der Selektion von Arbeitskräften - Formen, in denen sich neue Menschen- und Gesellschaftsbilder abzeichnen.

Nun könnte man einwenden, daß sich ja auch die Arbeitsbedingungen verbessert haben, beispielsweise in den neuen Montagewerken der "schlanken Produktion", die von den Automobilfirmen Opel bzw. Mercedes-Benz in Eisenach oder Rastatt gleichsam auf der grünen Wiese errichtet wurden. Die Werkhallen sind sauberer, ruhiger und heller, die Arbeitsaufgaben sind vielfältiger, die Hierarchien sind flacher geworden, die Arbeitsteams können - innerhalb gewisser Grenzen - eigenverantwortlicher handeln, und die Leistungs- und Flexibilitätsanforderungen an die Arbeitskräfte sind mit relativ stabilen Beschäftigungsverhältnissen verbunden. Was wir aber sehen, ist gleichsam das Lendenstück der schlanken Produktion. So wie das Schwein nicht allein durch seine Lende definiert ist, so sind auch die neuen Muster industrieller Rationalisierung nicht allein durch derartige Paradewerke definiert. Andere, manchmal gute, oft nicht so gute Arbeitsbedingungen finden wir an anderen Stellen der globalisierten "Wertschöpfungskette".

Auch in den fordistischen Großunternehmen waren die Arbeitsbedingungen keineswegs für alle gleich und die Beschäftigungssicherheit für Stamm- und Randbelegschaften durchaus unterschiedlich. Doch diese Unterschiedlichkeiten werden heute in dem Maße unüberschaubarer, wie Großunternehmen unter dem Stichwort "Dezentralisierung" ihr Gesicht verändern und sich in sogenannte Profit Centers, Cost Centers oder Business Units auflösen. Die Namen sind vielfältig, das Prinzip bleibt dasselbe: Von Unternehmen im herkömmlichen Sinne verwandeln sich die Konzerne in Holding-Gesellschaften über scheinbare selbständige Betriebseinheiten, die wiederum in Funktionseinheiten untergliedert sind, deren Beitrag zur Wertschöpfungskette des Konzern an den Schnittstellen definiert wird. Dabei kommt der Markt direkt ins Spiel, indem nämlich danach gefragt wird, ob es nicht kostengünstiger bzw. gewinnträchtiger wäre, die jeweils gewünschte Leistung von außerhalb des Unternehmensverbund zu beziehen oder aber die entsprechende Funktionseinheit auszugliedern. Mit der Ausgliederung etwa von Kantinen, Reinigungsdiensten, Reparatur- und Instandhaltungsabteilungen ebenso wie von Forschungs- und Entwicklungsabteilungen und Teilen der Fertigung können sich die betroffenen Arbeitskräfte plötzlich in Niedrigtarifbereichen mit deregulierten prekären Beschäftigungsverhältnissen wiederfinden - oder aber auf der Arbeitssuche, weil Beschäftigte in anderen Betrieben im In- und Ausland ihre Arbeit übernehmen.

In der hier nur grob skizzierten Umorinetierung industrieller Rationalisierung ist das Bild von sich selbst rationalisiernden und auf ständig neue Handlungsbedingungen einstellenden Menschen enthalten. Sehr deutlich bringt dies der Begriff "atmende Belegschaften" zum Ausdruck, womit gemeint ist, daß die Unternehmen ihre Belegschaften je nach Bedarf ein- und ausatmen können sollen. Letztlich, so das Postulat, müsse jede und jeder damit rechnen, ab und zu ausgeatmet zu werden, daher seien alle dazu aufgerufen, sich auf ein "lebenslanges Lernen" einzustellen, denn nur so haben sie die Chance, auch wieder eingeatmet zu werden.

Diesem Menschenbild entspricht ein Gesellschaftsbild, das hier anhand von mittlerweile weitverbreiteten Vorstellungen darüber illistriert sei, wie die öffentliche Verwaltung nach den nenuen, nunmehr als richtig geltenden Mustern industrieller Rationalisierung in Schwung gebracht werden könne (und müsse). Sehr deutlich wird dies in den Empfehlungen der Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung (KGSt 1992), die Wege der Umwandlung der Kommunalverwaltungen in Dienstleistungsunternehmen aufzeigt und sich dabei auf Maßnahmen des "New Public Management" in anderen Ländern berufen kann. Die alte Bürokratie mit ihrer Regelhaftigkeit, Kompetenzenteilung, Amtshierarchie und Aktenmäßigkeit gilt einfach als zu umständlich und unwirtschaftlich. Es handele sich, so ein für die Debatte durchaus repräsentativer Autor, um eine "naive Phantasie, die an die Beseitigung jeglicher Kontingenz und Riskanz organisationsinterner Abläufe, an die definitive Programmierbarkeit komplexer Handlungsketten ohne Störung und ungeplante Folgekosten glauben machen wollte." Die Alternative die in der Privatwirtschaft "seit längerer Zeit erprobte" schlanke Produktion (Barthel 1) Deren Grundintention "ist die Befreiung des Leistungs- und Wertschöpfungsprozesses vom typischen Übersteuerungsballast der bürokratisch-tayloristischen Arbeitsorganisation; alle Formalismen, Vorregelungen und Vorschriften, die nichts zur Veredelung des Wertschöpfungsprozesses beitragen, werden beseitigt." Der Weg dahin sei die "radikale Ausrichtung am externen/internen Kunden," die "Entwicklung lernfähiger Routinen", die "Qualifikation für heterogene und herausfordernde Tätigkeiten", die Ersetzung unterer Führungsebenen durch "Selbststeuerfähigkeit" und das "Diskursmanagement" (Barthel 2).

Hinter dem Bild von der "schlanken" öffentlichen Verwaltung verbirgt sich die Abkehr von zwei fordistischen Richtigkeitsvorstellungen: von der Überzeugung, zum Zwecke einer florierenden Privatwirtschaft und zur Absicherung der industriellen Rationalisierung müsse die öffentliche Verwaltung anders, eben nicht nach dem Profitprinzip funktionieren, und von der Überzeugung, der Staat müsse Vorkehrungen zur mentalen und physischen Konditionierung "der Massen" und zur Sicherung eines sozialen Konsenses treffen. In den "naiven Phantasien" hatte sich die rationalisierende Kontrolle mit der Regelhaftigkeit der Bürokratie verbunden. Die Konsequenz der Kritik daran ist, nun um so radikaler die strategische Dummheit des Rationalisierungsprinzips zu übernehmen, nämlich nur die für den einen vorgegebenen Zweck relevanten Kosten zu sehen, nicht aber die, die auf andere Bereiche übertragen werden. Mit dem Argument, es müsse gespart werden, werden beispielsweise städtische Schwimmbäder geschlossen, die einstmals der "Volkshygiene" dienen sollten - zu Preisen, die für "das Volk" erschwinglich waren. Ihren Platz sollen privat betriebene "Erlebnisbäder" mit nicht ganz so erschwinglichen Preisen einnehmen. Wer sich die nicht leisten kann, hat nichts geleistet. Einmal abgesehen davon, daß im kurzfristigen kommunalen Sparen leicht die langfristigen Kosten übersehen werden, etwa in der Form von Gesundheitskosten oder von randalierenden Junglichen, die im Sommer nicht wissen, wohin mit ihrer Energie, geht es bei der aktuellen Verwandlung öffentlicher Institutionen in private Dienstleistungsunternehmen nicht schlicht um das Sparen.

Es geht um eine Umdefinition staatlicher Aufgaben. Denn es werden die alten Vorstellungen mitsamt ihrem gesellschaftspolitischen Inhalt über Bord geworfen, ohne daß er diskutiert würde. Das wird sehr deutlich, wenn, wie heute gern praktiziert, Max Weber zum Frederick W.Taylor der öffentlichen Verwaltung stilisiert und seine herrschaftssoziologische Analyse der Bürokratie als Rationalisierungsratgeber interpretiert wird. Wenngleich Weber (1972, S. 128) schrieb, die rein bürokratische Verwaltung sein nach allen Erfahrungen die "formal rationalste Form der Herrschaftsausübung", so stand bei ihm "rational" für "berechenbar" und beinhaltete mitnichten die Wertung "vernünftig" oder "richtig". Und seine Ausführungen zu den Prinzipien der bürokratischen Verwaltung waren keineswegs Anleitungen zu deren Effektivierung. Vielmehr dienten sie dazu, den Legitimitätsanspruch legaler Herrschaft darzustellen. Denn: "Keine Herrschaft begnügt sich, nach aller Erfahrung, freiwillig mit den nur materiellen oder nur affektuellen oder nur wertrationalen Motiven als Chancen des Fortbestandes. Jede sucht vielmehr den Glauben an ihre "Legitimität" zu erwecken und zu pflegen. Je nach der Art der beanspruchten Legitimität aber ist auch der Typus des Gehorchens, des zu dessen Garantie bestimmten Verwaltungsstabes und der Charakter der Ausübung der Herrschaft grundverschieden" (Weber 1972). Der Legitimitätsanspruch der legalen Herrschaft mit bürokratischem Verwaltungsstab stützt(e) sich, so Weber, auf ein System gesetzter rationaler (d.h. berechenbarer) Regeln. "Der einzelne Träger der Befehlsgewalt ist dann durch jenes System von rationalen Regelen legitimiert und seine Gewalt soweit legitim, als sie jenen Regeln entsprechend ausgeübt wird" (Weber, 1972)

Nun hat sich die bürokratische Verwaltung mitnichten als so berechenbar und "rein technisch zum Höchstmaß der Leistung" vervollkommenbar erwiesen, wie Weber (1972) es zu unterstellen schien. Dennoch bleibt mit Weber zu fragen, worauf sich denn der Legitimitätsanspruch legaler Herrschaft beziehen soll, wenn nun im "schlanken Staat", wie oben zitiert, "alle Formalismen, Vorregelungen und Vorschriften" beseitigt werden, weil sie "nichts zur Veredelung des Wertschöpfungsprozesses beitragen". Die Antwort der postfordistischen Verwaltungs- und Rationalisierungsexperten ist einfach: auf die Leistung. Und auf die Frage, wer definiere, was Leistung ist, kommt die ebenso einfache antwort: Die Kunden. Privatwirtschaftlich ist das nur konsequent gedacht. Für die Teile des öffentlichen Dienstes, die privatisiert werden, mag das auch noch angehen. Für die Definition von Leistung im verbleibenden öffentlichen Dienst ist das nicht ganz so einfach. Die Klientel etwa der Schule sind die SchülerInnen, die des Sozialamtes die sogenannten sozial Schwachen. Aber sind sie die Kunden bzw. definieren sie die Leistung? Wohl kaum. Welche Nachfrage sie repräsentieren und welche Leistung wer von ihnen zu welchen Kosten bekommt, ist Sache gesellschaftlicher Definition.

Es scheint, als sei diese Definition bereits ausgemacht. Ähnlich wie in den postfordistischen Konzernen gewinnstarke "Business Units" favorisiert und gewinnschwache abgestoßen und stillgelegt werden, sollen im postfordistischen Staat die "Leistungsstarken" gefördert werden, und "Leistungsschwache" sollen, wenn überhaupt, eine Grundsicherung erhalten. Unter der Hand entsteht ein Bild einer Gesellschaft, in der sich die Rationalisierung aus sich selbst, also aus der formalen Rationalität der Mittel-Zweck-Optimierung legitimiert - so als gäbe es keine anderen Orientierungen sozialen Handelns und als könnte die Mittel und die Zwecke rein "sachlich", d.h. jenseits des Aushandelns gesellschaftlicher Richtig-falsch-Vorstellungen definiert werden. Gerade um dieses Aushandeln geht es aber in der derzeitigen Phase eines gesellschaftlichen Umbruchs.

Ein sehr interessanter Aspekt dieses Aushandlungsprozesses ist, daß einerseits das Heil in einer Radikalisierung des Rationalisierungsgedankens gescuht wird, andererseits aber im Rationalisierungsdiskurs selbst von den alten, auf das gemeinwohl zielenden Versprechungen Abstand genommen wird. So wie die real existierende Bürokratie dem sie legitimierenden Anspruch auf Berechenbarkeit nicht Genüge tun konnte, so scheitert die real existierende Rationalisierung an dem sie legitimierenden Anspruch, die Gesellschaft und alle Beziehungen in ihr nachhaltig ordnen zu können. Die Richtigkeits-Begründungen reduzieren sich auf ein dürftiges "es muß si sein" und die Heilsversprechungen werden zu partikularisierten Überlebensrezepten in einer globalen Standortkonkurrenz.