MÄNNLICHER SOZIALSTAAT

in (01.06.2000)

Der deutsche Sozialstaat war seit seinen Ursprüngen im ausgehenden 19. Jahrhundert am Leitbild des sogenannten Normalarbeitsverhältnis ausgerichtet. ...

Der deutsche Sozialstaat, insbesondere die Sozialversicherungssysteme als seine tragenden Hauptsäulen, war seit seinen Ursprüngen im ausgehenden 19. Jahrhundert am Leitbild des sogenannten Normalarbeitsverhältnis ausgerichtet. Hinter diesem Normalarbeitsverhältnis als Idealkategorie verbirgt sich bis heute die traditionelle Erwerbsbiographie eines männlichen ,,Familienernährers'', der einer geregelten und nicht oder nur selten unterbrochenen Vollzeitarbeit nachgeht. Frauen waren entsprechend der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung und Segmentierung des Arbeitsmarktes lange Zeit nur als ,,Dazuverdienerinnen'' an deutlich niedriger entlohnten Teilzeitarbeitsplätzen, in Berufspositionen und Lohngruppen ohne größere Aufstiegsperspektiven oder im reproduktiven Bereich des Privathaushaltes tätig. Sie fallen somit weniger häufig unter diese Kategorie des ,,Normalarbeitsver-hältnis'', da die häufig von ihnen verrichteten Tätigkeiten, insbesondere die Haushaltsarbeit, die Kindererziehungsarbeit und die Pflegearbeit, trotz ihrer gesellschaftlichen Notwendigkeit, nur verbal anerkannt, nicht aber materiell entlohnt, geschweige denn sozialstaatlich abgesichert werden. Durch die strikte Ableitung der besseren Sozialleistungen aus Vollzeiterwerbsarbeit werden viele Frauen so defacto auf den Status von Anhängseln männlicher Erwerbstätiger reduziert, ihre materielle Abhängigkeit wird unmittelbar festgeschrieben.

VERÄNDERTE SOZIO-ÖKONOMISCHE BEDINGUNGEN. Allerdings hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten unter dem Eindruck sozio-ökonomischer und -politischer Veränderungen das Bild der Erwerbswelt deutlich verändert: Immer mehr Frauen suchen heute eine Erwerbstätigkeit auf dem Arbeitsmarkt, zwischen 1969 und 1994 stieg die Frauenerwerbsquote (25-60 Jahre) in Westdeutschland von 45 auf 67 Prozent. Die Gründe für die gestiegene Erwerbsbeteiligung von Frauen dürften zum einen in der materiellen Notwendigkeit einer stärkeren Beteiligung an der sozialen Existenzsicherung liegen, was sowohl für alleinlebende als auch für immer mehr in fester Partnerschaft lebende Frauen zutrifft. Zum anderen dürften sie in den deutlich veränderten und selbstbewußter artikulierten Lebensentwürfen und Ansprüchen in Bezug auf Selbstverwirklichung und Selbständigkeit zu suchen sein. Allerdings sollten diese Entwicklungstendenzen nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, daß wir es nach wie vor mit einem geschlechtsspezifisch geteilten Arbeitsmarkt zu tun haben: Ein Blick in die reale Beschäftigungswelt zeigt, daß trotz der insgesamt gestiegenen Erwerbsbeteiligung, 30 Prozent aller erwerbstätigen Frauen in Teilzeitbeschäftigungsverhältnis-sen arbeiten, das entspricht einem Anteil von rund 90 Prozent an allen Teilzeitstellen.

DAS SOZIALSYSTEM WIRD ZUR ARMUTSFALLS. Trotz der zunehmenden Erosion des ,,fordistischen'' Normalarbeitsverhältnisses und der traditionellen ,,Ernährerfamilie'' hat sich an der Kopplung der besseren sozialen Leistungen an den Lohnbezug nichts Grundsätzliches geändert. Gerade wegen dieses Mißverhältnisses spitzen sich jedoch die sozialen Problemlagen für viele, vor allem alleinstehende Frauen extrem zu, die patriarchalen Strukturen des bundesdeutschen Sozialstaates, insbesondere der Sozialver-sicherungssysteme, können angesichts der veränderten sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen nicht mehr greifen. Damit wird das jahrzehntelang praktizierte System der Abhängigkeit vieler (Haus-) Frauen von ihren Ehepartnern zur Armutsfalle im Alter und bei Erwerbslosigkeit sowie bei Alleinerziehenden und Scheidungen.

Soziale Grundsicherung aus feministischer Perspektive. Die Einführung einer sozialen Mindestsicherung könnte sicherlich einen notwendigen Beitrag leisten, um die krassesten Folgen dieser Entwicklung sozialpolitisch aufzufangen. Allerdings müßten bei der Entwicklung und Einführung einer Sozialen Grundsicherung die Erkenntnisse der feministischen Sozial-staatsanalyse und -kritik mit einfließen, um zu verhindern, daß es über den Weg eines obligatorischen Existenzgeldes für alle bloß zu einer Festschreibung geschlechtsspezifischer Muster der Arbeitsteilung kommt.

Unter der Maßgabe, den realen Benachteiligungen von Frauen entgegenzuwirken und einen Abbau von Geschlechterasymmetrien durch eine Reform der sozialen Sicherungssysteme zu fördern, ergeben sich aus der bisherigen Analyse des Sozialstaats bestimmte Kriterien, denen dabei Rechnung getragen werden müßte:

Erstens Aus der Erkenntnis heraus, daß es aufgrund der permanenten Rationalisie-rungsschübe und der zunehmenden Ent-kopplung von Wirtschaftswachstum und Beschäftigung sehr schwer sein wird, die Massenarbeitslosigkeit deutlich zu reduzieren und dauerhafte, versicherungsrelevante Arbeitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt zu schaffen, ist es dringend geboten, den sozialstaatlichen Schutz vor der Verarmung und Abhängigkeit nicht länger von einer Erwerbstätigkeit abhängig zu machen.

Zweitens Eine materielle und sozialstaatliche Anerkennung von Erziehungs- und Pflegearbeit scheint geboten, da durch diese Tätigkeiten bislang keinerlei sozialversicherungsrelevante Leistungsansprüche erwoben werden konnten. Die daraus häufig erwachsene Abhängigkeit der Ehefrau von ihrem Ehemann betrifft vor allem Rentnerinnen, wie das erhebliche Ausmaß von Altersarmut bei Frauen zeigt. Eine materielle Anerkennung reproduktiver Tätigkeiten müßte sowohl die Entlohnung dieser Arbeiten, als auch ihren Sozialver-sicherungsschutz einschließen. Nicht zuletzt wären diese Regelungen schon deshalb notwendig, um diese Sphäre der gesellschaftlich notwendigen Reproduktionsarbeit auch für Männer attraktiver zu machen.

Drittens Durch Nichterwerbstätigkeit oder geringeres Einkommen befinden sich viele Frauen in einer finanziellen Abhängigkeit von den Unterhaltsverpflichtungen ihrer Ehemänner. Dieses wirkt einer gleichberechtigten Beziehung diametral entgegen und stellt für viele Frauen nach wie vor ein soziales Hemmnis dar, sich aus einer bestehenden Ehebeziehung zu lösen. Im Zuge der Einführung einer Sozialen Grundsicherung müßten deshalb die Unterhaltsabhängigkeiten zwischen den Ehepartnern beseitigt werden.

Notwendige politische Flankierung. Um zu verhindern, daß durch eine soziale Mindestsicherung Frauen auch weiterhin oder im schlimmsten Fall sogar noch verstärkt aus dem Erwerbsprozeß in die Privatssphäre gedrängt werden, müßte die Einführung einer Sozialen Grundsicherung mit wesentlichen sozial-, steuer- und arbeitsmarktpolitischen Veränderungen einhergehen. So wäre es beispielsweise dringend geboten, neben einer Neubewertung auch die Umverteilung der vorhandenen und der neu zu schaffenden Arbeit voranzutreiben. Dabei ist nicht nur an eine Umverteilung der profitablen, bezahlten Arbeit zwischen Arbeitenden und Arbeitslosen, sondern auch an eine Umverteilung der bezahlten, produktiven und unbezahlten, reproduktiven Arbeit zwischen Männern und Frauen zu denken. Wichtige Lösungsansätze für eine solche Arbeitsumverteilungspolitik sind in aller erster Linie Maßnahmen zur Arbeitszeitverkürzung und für die breitere Etablierung sozial abgesicherter Teilzeitbeschäftigung. Diese könnten erstens neue Arbeitsplätze im produktiven Bereich auch für bislang nichterwerbstätige und arbeitslose Frauen schaffen, und zweitens neue Zeit- und Betätigungsspielräume für bislang erwerbstätige Männer im reproduktiven Bereich, insbesondere im Haushalt und bei der Kinderbetreuung, eröffnen. Notwendig wäre darüberhinaus eine steuernde Sozial- und Wirtschaftspolitik, die der weiteren Ausweitung prekärer Arbeitsplätze ohne ausreichenden Sozialversicherungsschutz entgegensteuert und auf diese Weise verhindert, daß insbesondere Frauen, die für ein sehr geringes Einkommen arbeiten gehen, im Falle von Erwerbslosigkeit und im Rentenalter direkt in die Sozialhilfe abrutschen. Ebenso gehört die gemeinsame Veranlagung nach dem Durchschnitt der Einkünfte als steuerpolitisches Privileg der Familienernährer/Hausfrauenehe, bekannt als sogenanntes Ehegattensplitting, abgeschafft.

Hinsichtlich der Erziehungsarbeit sollte ernsthaft über eine obligatorische Teilung des Erziehungsurlaubs zwischen beiden Elternteilen nachgedacht werden. Um Frauen den Zugang zum Erwerbsleben zu erleichtern, ist zudem eine forcierte Sozialisierung von reproduktiven Arbeiten und Kosten notwendig. Dabei wäre in erster Linie der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz für jedes Kind umfassend umzusetzen und seine Ausweitung auf einen Kinderkrippenplatzanspruch ins Auge zu fassen. Aber auch die Betreuung von Kindern im Schulhort oder in äquivalenten Betreuungseinrichtungen stellen eine notwendige Bedingung für die Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern auf dem Erwerbssektor dar. Die Kosten sind dabei vollständig von der Allgemeinheit zu tragen, um nicht auf dem Umweg der sozialen Differenzierung, sozial benachteiligte Frauen aus dem Erwerbsleben herauszuhalten.

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