Das Argument 238: Internet und New Economy

Editorial

Ein Gespenst geht um in der Welt. Es ist das Gespenst der Neuen Ökonomie. Revolution! Revolution! hallt es seit Jahr und Tag zwischen den "Panzerglastürmen der Hegemonie des Geldes" (Marcos).

Das Wort schreckt den Bürger nicht mehr, seit die soziale Aktion marginalisiert und die sozialistische fürs Erste blamiert und begraben ist. Als das "Herz alles Neuen" (Ramonet) aber erscheint das Internet. Unter den Dispositiven des transnationalen High-Tech-Kapitalismus ist es zu Beginn des 21. Jahrhunderts ins Zentrum gerückt. Um die Analyse seiner Widersprüche, seiner kapitalistischen Beschlagnahme wie seiner zivilgesellschaftlichen Potenziale soll es in diesem Heft gehen.

Das Internet ist das Gravitationszentrum dessen, was als "Neuer Markt" und "Neue Ökonomie" beredet wird. Doch seine Bedeutung beschränkt sich nicht auf das, was in der >neuen

Ohne Kritik der politischen Ökonomie ist die Analyse nicht zu leisten. Gerade das aber geht gegen den Zeitgeist. Die Aktionärs-Gesellschaft wähnt sich wissensbasiert und verdrängt das Basiswissen über sich selbst. Der wahre Jakob der Wissenschaft ist die Börsenfähigkeit geworden. Karl Marx hat im Manifest die Globalisierung und im Kapital die ökonomische Machtkonzentration vorhergesehen, doch er irrte, als er glaubte, in der vollends durchkapitalisierten Welt sähen die Menschen sich "endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen" (MEW 4, 465). Selbst der intermittierende Kursrutsch am Neuen Markt vermag den Rausch nicht zu ernüchtern, den die um Hochtechnologien kreisenden Spekulationen ausgelöst haben. "Wir halten den Heiligen Gral in der Hand", lässt einer der FAZ-Herausgeber einen der Zukunftsindustriellen zu sich sagen, um seinerseits zu verkünden, das "Wesen der gegenwärtigen Revolution" bestehe darin, "dass sie die Urkraft der Evolution, dass sie die Zeit selbst in ihre Hände gelegt bekam" (vgl. dieses Heft). Die Diskurse über die Wunder der Hirn- wie der Genomforschungen, der Nanotechnologie und der Softwarekünste multiplizieren sich. Fast alle eint sie das Schweigen über die gesellschaftlichen Verwendungszusammenhänge. Diese entscheiden darüber, was aus dem Bereich des an sich möglich Gewordenen realisiert und wie es, für wen, genutzt wird. Angesichts des Schweigens hierüber könnte man meinen, diese Gesellschaft schämte sich ihrer selbst. Denn ihr organisierendes Zentrum ist die Verfügung über die Ressourcen des gesellschaftlichen Lebens, die Macht, sie zu trennen und zusammenzufügen. Diese Macht bildet den Kern gesellschaftlicher Herrschaft. Die Vorteilsnehmer dieser Verhältnisse mögen schamlos sein in ihren Bereicherungspraxen, doch das Wissen um die Benachteiligten und um die Schäden ihres "Fortschritts" sucht sie heim wie ein schlechtes Gewissen. Und die Herrschaftsinteressenten haben jedenfalls die Macht, die Verhältnisse, mit dem Wort des in der FAZ neuerdings den Neuen Hunden zum Fraß vorgeworfenen Hermann Lübbe, "diskret zu beschweigen", Verhältnisse, die darüber entscheiden, wer, was und wie in Produktion geht. Im Hause des Henkers redet man nicht vom Strick, im Dunstkreis der Kapitalmächte nicht vom Profit, solange es nicht darum geht, Aktienkurse hochzutreiben. Wo die Neuen Technologien beredet werden, herrscht in der Regel blanker Technikdeterminismus.

Doch wie die Arbeit mit den Arbeitsverhältnissen und der Arbeitsteilung, so muss die Technik mit ihren Nutzungsverhältnissen zusammengedacht werden. Die Technologie, alles Bewirken-Können durch Geräte und Programme, erhält durch die Mächte und Mechanismen der Entscheidung über ihren Einsatz ihre abgründige Ambivalenz. Als konkrete ist sie politisch-ökonomisch eingesetzte, kapitalistische Technologie. Auf diese Konkretion, Arbeit, Technologie, Natur und ihre Anwendungsverhältnisse zusammenzunehmen, zielt der Begriff der Produktionsweise. Die Analyse der sich wandelnden Produktionsweise des transnationalen High-Tech-Kapitalismus muss daher den Horizont aller Einzelanalysen zum Internet wie zu seinen diversen Gebrauchsweisen und Akteuren bilden.

Von neuer Produktionsweise zu sprechen, stößt auf Widerstände zumal der linken Katastrophisten, die sich als die "Heiligen der letzten Tage" aufspielen. Ihr symbolisches Kapital ist der imaginäre Kollaps. Wann immer der Kontinent des Kapitals auf dem Magma des Verwertungsprozesses driftet und seine Erdbeben durch die bürgerliche Gesellschaft schickt, ist für sie der jüngste Tag wenn nicht angebrochen, so doch nahe herbeigekommen. Zusammenbruch des Kapitalismus! Untergang der Menschheit! Billiger macht es diese Rhetorik nicht. Indem sie diese Slogans überall an die Wand malt, überschreibt sie die Schrift der konkreten Analyse der Verhältnisse. Sie tut es erst recht, wenn sie daneben das Internet und die "immaterielle Arbeit" als den Anbruch des Kommunismus imaginiert.

Dieses Heft ist nicht das erste, in dem wir uns mit der Entwicklung der hochtechnologischen Produktivkräfte und der Veränderung der Produktions-, Destruktions- und Lebensweise befassen. Wie Leitmotive ziehen sich diese Fragen durch die letzten 30 Jahrgänge dieser Zeitschrift. In den 1970er und 80er Jahren haben wir uns gegen den Strom linker Verelendungsdiskurse mit Automationsarbeit befasst, in den 80er und 90er Jahren mit der Krise des Fordismus und dem Übergang zum Postfordismus. Das Heft über "Immaterielle Arbeit" (Arg. 235/2000) galt bereits einem Aspekt des im vorliegenden Heft bearbeiteten Zusammenhangs. Nicht zuletzt nimmt dieses Heft wieder auf, was wir vor vier Jahren unter dem Titel Neoliberalismus als Globalisierung (Arg. 217) begonnen haben. Globalisierung, so heißt es sinngemäß im damaligen Editorial, ist kein datum, sondern ein factum, keine Gegebenheit, sondern ein politisch ausgelöster ökonomisch-sozialer Prozess, der inzwischen die Politik zu seiner Dienerin herabgestuft hat. Die Politik aber, die diesen Prozess betreibt, haben wir als Neoliberalismus begriffen und analysiert. Der Neoliberalismus wiederum verdankt seine Hegemonie der Tatsache, dass unter seiner Flagge der Übergang zur hochtechnologischen Produktionsweise und damit zugleich die Transnationalisierung des Kapitalismus betrieben worden ist.

Die Analyses dieses Prozesses weiterzutreiben heißt, die marxistischen Denkmittel weiterzuentwickeln. Wir verstehen die Aufgabe dieser Zeitschrift so, dass es darum geht, so viel wie möglich davon einzufangen und es auf den Begriff zu bringen, um dadurch das Begreifen an den geschichtlichen Tag heranzuarbeiten, also das zu tun, was die Italiener das aggiornamento nennen. Eine Zeitschrift wie das Argument sollte wie das Arbeits-Journal der kritischen Intellektuellen der Gesellschaft geführt werden. Sie ist daher zugleich ein Organ der >Gegenwartsgeschichte