Obskure Extremismus-Forschung

in (08.09.2000)

Am 8. November 1999, dem 60. Jahrestag des ersten Attentats auf Hitler, er-schien auf einer ganzen Dokumentationsseite der Frankfurter Rundschau ein Text von Lothar Fritze, Privatdozent der Technischen Universität Chemnitz und Mitarbeiter beim Dresdener Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, der dem gescheiterten Attentäter Georg Elser retrospektiv das moralische Recht abspricht, im Jahre 1939 einen Anschlag auf den NS-Führer zu verüben: Elser sei ein "Durchschnittsbürger" gewesen, der seine "politische Beurteilungskom-petenz überschreitet". Über die "Tatausführung sowie die Qualität der Willens-bildung des Täters" Elser sei ein "negatives Urteil" zu fällen; sie sei "mitleid- und gedankenlos" gewesen. Zu kritisieren sei, daß trotz der "Untragbarkeit sei-nes Vorgehens" in der gegenwärtigen "öffentlichen Diskussion [...] der Täter of-fenbar als exkulpiert" gelte. Fritze meint schließlich, daß "wohl kaum einer von uns bereit wäre, einer Person von der Kompetenz Elsers die Berechtigung zuzu-sprechen, Gefahren, die sie sieht, auf eine Weise abzuwehren, die uns [!] not-falls in den Tod schickt." Fritzes Text strotzt von verstohlener Identifikation mit dem NS-Staat und den NS-Chargen, die sich mit Hitler im Bürgerbräukeller ein-gefunden hatten. Der unorganisierte Einzeltäter Georg Elser wird als "Extre-mist" konstruiert, der "unschuldige" NS-Kämpfer auf dem Gewissen habe - und zwar beim Angriff auf die nazistische politische Ordnung, die nach Fritze min-destens so lange legitim gewesen ist, solange der Krieg noch nicht begonnen wurde - also bis auch nicht-linke und nicht-jüdische Deutsche gefährdet waren.

Der in jüngster Zeit wohl radikalste Versuch offener Geschichtsrelativierung, der implizit die Unterstützung und Akzeptanz des verbrecherischen NS-Regimes zur moralisch integren Haltung umdeutet, hat, mit Ausnahme eines Verteidi-gungsbriefes durch Fritzes Kollegen Alfons Söllner, Kritik und Empörung her-vorgerufen - nicht nur in Leserbriefen und späteren Gegenartikeln in der FR, sondern z.B. auch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und im Spiegel. In der tageszeitung (7. 1. 2000) dagegen sah man verschwörerische Intrigen gegen die "Extremismusforscher" Lothar Fritze und Uwe Backes am Werk; Backes ist stellvertretender Leiter des Hannah-Arendt-Instituts und Fritzes Mentor.

Genau jene "Extremismusforschung", die so erstmals öffentlich in Mißkredit geraten ist, hat schon über ein Jahrzehnt hinweg für die Verharmlosung der Na-zi-Vergangenheit sowie des gegenwärtigen Rechtsextremismus in den Sozial-wissenschaften zentrale Impulse gegeben. Hierbei haben Backes und sein Kolle-ge Eckhard Jesse neu-rechte Ideologeme des Geschichtsrevisionismus prolon-giert und antisemitische Ressentiments hoffähig gemacht. Backes nutzte sogar die öffentliche Kritik an seiner Person im Zuge der jüngsten Debatte unter fort-währender Berufung auf Artikel 5 Grundgesetz zu der Aussage, man werde "wohl auch die Frage nach der tatsächlichen Kapazität der Gaskammern be-leuchten dürfen, um herauszubekommen, ob die Opferzahlen, die die Forschung bislang angibt, tatsächlich stimmen", wobei er insisitierte, es sei "nicht alles erstunken und erlogen, was aus der rechten Ecke kommt." Jesse, der andere Be-gründer der deutschen "Extremismusforschung", hat mehrfach antizipatorisch die Schuld für neuen Antisemitismus bei "Repräsentanten des Judentums" aus-zumachen gesucht: "Auf Dauer dürfte Judenfeindlichkeit nicht zuletzt gerade wegen mancher Verhaltensweisen von Repräsentanten des Judentums an Bedeu-tung gewinnen," schrieb er 1992 in seinem Aufsatz "Philosemitismus, Antisemi-tismus und Anti-Antisemitismus".

Diese Thesen stehen in einer langen Tradition extremismustheoretischer Ar-gumente, die darauf zielen, die deutschen Verbrechen zu verkleinern, die Deut-schen von Schuld freizusprechen und den historischen wie aktuellen Antisemi-tismus zu minimieren bzw. auf das Verhalten von Juden zurückzuführen. Dabei wird im Kampf gegen "Vergangenheitsbewältigung und Tabus" der Antisemi-tismus, den man weder bei sich selbst noch gesellschaftlich wahrzunehmen in der Lage ist, kontinuierlich mit dem "Extremismus" des "Anti-Antisemitismus" gleichgesetzt. All dies kann kaum verwunden, wenn man bedenkt, das sich diese Extremismusforschung von Beginn bis heute explizit Ernst Nolte zum wissen-schaftlichen spiritus rector nimmt (alljährlich nachzulesen in dem von Backes und Jesse herausgegebenen "Jahrbuch Extremismus & Demokratie"). Der Anti-semit Nolte meint u.a., die Juden hätten Deutschland den Krieg erklärt, weshalb "Hitler die deutschen Juden als Kriegsgefangene [...] internieren durfte", und behauptet, die "meist durch ihre Physiognomie leicht erkennbaren Juden" hätten mit ihrem "Egoismus und Machtwillen [...] die Feindschaft nicht ohne Recht" auf sich gezogen. Diese antisemitisch-rechtsradikale Variante der Totalitaris-mustheorie, die den Nazismus als Abwehrreaktion aus "Vernichtungsfurcht" ge-gen den Bolschewismus legitimiert, begründet das Modell einer Extremismus-theorie, die u.a. mittels der Gleichsetzung der "Totalitarismen" NS-Staat/SED-Staat die Ehre des deutschen Volkes, dessen demokratische Substanz nur von außen durch "politische Extremismen" bedroht worden sei, gegen "Zeitgeistan-wandlungen" (Backes) retten will. Ideologischer Antrieb der Forschung ist nicht zuletzt die "Befreiung" der "selbstbewußten Nation".

Backes und Jesse kämpfen deshalb auch gemeinsam mit dem Geschichtsrevi-sionisten Rainer Zitelmann "gegen die Pose des Anklägers gegenüber den Ak-teuren des Dritten Reiches" - jene Pose, die man, wie Lorenz Jäger in der FAZ vom 15. 1. 2000 bemerkt hat, gegenüber Kommunisten, linken Demokraten und Antifaschisten wie Elser zu gerne einnimmt. Der Feind der deutschen Demokra-tie und des deutschen Volkes steht dabei fast grundsätzlich links; insbesondere wird er beim "Linksextremismus" und "Antifaschismus" verortet. Werden beim Nationalsozialismus die "Modernisierungsleistungen" gelobt, werden im Antifa-schismus omnipräsente "totalitäre" und "terroristische" Gefahren gesichtet. Den Antisemitismus und den politischen "Extremismus in Form seiner rechten Vari-ante" wie auch den Nationalsozialismus stellen Backes und Jesse als Gegenstand übertriebener "großer Aufregung", aber nicht so sehr als wirkliches Problem dar. Gegenwärtige Organisationsformen wie die DVU werden als "Phantom-Partei" oder "autoritär geführtes Einmannunternehmen" bestimmt, ihr gesellschaftlicher Charakter damit in Abrede gestellt.

Innerhalb dieser obskuren, aber staatlich einflußreichen "Extremismusfor-schung" sind neu-rechte Ideologeme zu erkennen sind, die sich heute auch als ein Strang in der Antisemitismusforschung wiederfinden. In manchen Texten der etablierten Forschung scheinen ähnliche Motive bestimmend: historische Entla-stung der Deutschen, Beschwörung des demokratischen Charakters der deut-schen Gesellschaft und ihre stereotype Verteidigung gegenüber kritischeren Ein-schätzungen im In- und Ausland bei gleichzeitiger Verharmlosung des histori-schen wie aktuellen Antisemitismus und Rechtsextremismus, letztlich auch die "Befreiung" und "Normalisierung" der deutschen Nation; selbst von antijüdi-schen Chiffren sind zahlreiche Arbeiten nicht frei.

In einem von den Antisemitismusforschern Johannes Heil und Rainer Erb pu-blizierten Anti-Goldhagen-Band ("Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit" 1998) zeigt sich an verschiedenen Stellen die Gefahr unreflektierten Affirmie-rens gesellschaftlicher Vorurteile. Hier identifiziert Uffa Jensen den jüdisch-amerikanischen Wissenschaftler Daniel Jonah Goldhagen originär antisemitisch mit dem "Subsystem Geld", das in den "rational-aufklärerischen" Wissenss-chaftsdiskurs, der zudem reinlich von der Sphäre der Ware-Geld-Beziehungen geschieden wird (als gäbe es Wissenschaft außerhalb ökonomischer Vermitt-lung), eingedrungen sei: "Das ‚Subsystem Geld‘ ist mit Goldhagen in den ratio-nal-aufklärerischen Diskurs der Selbstverständigungsdebatte eingedrungen, der sich zwischen Historikern und Lesern entspannen könnte, und droht, ihn zu ‚ko-lonisieren‘, wenn sich ähnliche publizistische Praktiken in Zukunft etablieren." Diesen Text strukturiert das Motiv, daß es eine reine deutsche Wissenschaft über den Nationalsozialismus gäbe, die Goldhagen/Geld/der jüdische Wissenschaftler durch seine Kritik des deutschen "eliminatorischen Antisemitismus" kolonisiert, verunreinigt, "entsachlicht" habe; die innere Kommunikation unter deutschen Wissenschaftlern und ihrer Öffentlichkeit sei dadurch zerstört worden.

Im gleichen Sammelband befeiert der Antisemitismusforscher Harald Schmid die "einzigartigen Lernpotentiale aus zwei diktatorischen Regimen", durch die die "Berliner Republik [...] auch erstmals als ganzes Volk dauerhaft in der Mo-derne ankommen kann". Er wehrt sich gegen die "negative Sinnstiftung namens einer Zivilreligion ‚Auschwitz‘", das "Mißtrauen gegenüber der strukturellen Tiefe des Vergangenheitslernens" und vermeintliche "zur zweiten Natur geron-nene Ausbürgerungsversuche" gegenüber denjenigen deutschen Gemein-schaftsmitgliedern, die in der Nähe der NS-Ideologie vermutet werden - gegen "jene fatalen Mechanismen" setzt Schmid das "Ziel einer Normalisierung". Die Thematisierung der Ausgrenzung von Juden und Minderheiten würde in diesen Normalisierungs- und Selbstverständigungsdebatten, die von einigen deutschen Antisemitismusforschern anvisiert werden, so ließe sich zuspitzen, als Element "jene[r] fatalen Mechanismen" sicherlich nur stören.

Chiffrenkonstruktionen, die denen Uffa Jensens ähneln, finden sich zuweilen auch im "Jahrbuch für Antisemitismusforschung". Hier gibt es mehrere Beiträ-ge, die "medienkritisch" "die Medien" für "Vorurteile gegenüber Deutschen" verantwortlich machen; "die Deutschen" erscheinen da als die primären Opfer von Vorurteilen. In solcher Opfermythologie (Adorno) aber lebt das antisemiti-sche Motiv der "deutschfeindlichen" Medien und Intellektuellen, das Martin Walser öffentlich remobilisiert hat.

So beobachten Andreas Schröder, in den sechziger Jahren Mitbegründer einer kritischen Antisemitismusforschung, und Jörg Tykwer in einer vermeintlichen "Fallstudie" ("Mit Vorurteilen gegen Vorurteile" im Jahrbuch 1994), daß das Fernsehen mit einer "medialen Großoffensive" die "Bevölkerung als latent aus-länderfeindlich" betrachte und damit ein "Feindbild" schaffe. Statt "Aufrufe zur Auländerfreundlichkeit zu lancieren" fordern die Autoren die Orientierung auf "Sachfragen" wie den "Zustrom von Asylsuchenden" und die "Ausländerpro-blematik". Sie loben die "differenzierte Sicht" eines vermeintlich von der ARD diskriminierten "Kampagnenopfers", das sich "ehrlich für die deutsche Unter-schicht einsetzt" und sich wie folgt äußert: "Die Kampagne ist einseitig, sie ist gegen die Deutschen gerichtet und kehrt die Probleme, die viele kriminelle Aus-länder in dieses Land gebracht haben, unter den Tisch." Laut Tykwer und Schröder müsse, statt Vorurteile über Deutsche zu verbreiten, "systematisch un-terschieden werden" zwischen "uns nahestehenden EG-Ausländern und dem großen Rest"; sie weisen darauf hin, daß "Deutschland doppelt so dicht besiedelt ist wie Frankreich". Diese Sammlung von Ressentiments und Panikmache ge-genüber dem Zuzug von Immigranten verbindet sich leider nicht einmalig mit einem deutschen Opfermythos und der Projektion, die Medien "inszenierten" an-tideutsche Feindbilder.

Peter Widmann wartet im Jahrbuch 6 (1997) unter der Rubrik "Rechtsextre-mismus" in einer vorgeblich "medienkritischen Untersuchung" mit der These auf, die Medien hätten beim Brandanschlag auf ein Lübecker Flüchtlingswohn-heim 1996 "voreilig und selektiv", "ohne dafür ausreichende Belege zu haben", "den Brand als Folge eines rechtsextremen Gewaltaktes" eingeordnet. Widmann behauptet dies, obschon binnen weniger Tage und dann über Jahre hinweg Me-dien, Polizei und Staatsanwaltschaft einseitig und ohne Indizien oder Motiv ein Opfer, den Libanesen Safwan Eid, zum Täter stilisiert hatten und obschon Tat-verdächtige aus dem rechtsextremen Spektrum der Nachbarstadt Grevesmühlen allesamt frische Brandverletzungen aufwiesen. Eine "besondere Bestürzung" teilt Widmann nicht im Hinblick auf die Opfer des Brandanschlags, bei dem elf Menschen starben, sondern auf die Grevesmühlener Bevölkerung, denn "die Medien" hätten in "selektiver Wahrnehmung und Überzeichnung" ein "Zerrbild" der mecklenburgischen Kreisstadt als "Zentrum der Rechtsextremen" konstru-iert. Deutschland als Hort von Rechtsextremisten - eine internationale Medien-inszenierung?

Den "Fall Gollwitz" - im September 1997 hatten die Bewohner des branden-burgischen Dorfes mit offen antisemitischen Ressentiments die Aufnahme jüdi-scher Emigranten in die Ortschaft verweigert - nimmt Lothar Mertens im Jahr-buch 7 (1998) nicht etwa zum Anlaß, wie Wolfgang Benz im Vorwort erwarten läßt, einen "Einblick in den antisemitischen und xenophoben Alltag der deut-schen Provinz" zu gewähren. Obschon Mertens konzediert, daß Gollwitz überall sei insofern, als latenter Antisemitismus ein alltägliches Phänomen darstelle, sieht der Autor vielmehr die Deutschen, in diesem Fall die Gollwitzer, als "dankbare Opfer für die zahlreichen Berichterstatter" bzw. des "Nachrichten-hungers" und der "Nachrichtensucht der Medien" und des "riesigen", die Goll-witzer "überrollenden Presseecho[s]", das die "Dorfgemeinschaft nicht nur in die Defensive gedrängt" und "aufgeschreckt", "sondern in einer Art Trotzreakti-on in ihrer ablehnenden Haltung bestärkt" habe. Die "im Umgang mit den Mas-senmedien vollkommen ungeübten Gollwitzer sahen sich plötzlich einem Heer von Fernseh- und Zeitungsreportern ausgesetzt, die den Ort nicht nur regelrecht belagerten, sondern auch jede noch so unbedachte [sic!] negative Dorfmeinung in Windeseile weiterverbreiteten". Daß sich "im Umkreis der nach Deutschland gekommenen jüdischen Zuwanderer außerdem russische Kriminelle tummeln", will der "Vorurteilsforscher" wissen und den Gollwitzern ferner zugutehalten; er bezieht sich auf "unmißverständliche Äußerungen der Gemeindevertreter [...]: ‚den Ausländern steckt man alles vorn und hinten rein, und ein Deutscher, der lebenslang gearbeitet hat, bekommt nur 1000 Mark Rente.‘" Hier will Mertens legitime "Angst" vor "russischen Kriminellen" erkennen, nicht etwa anal-sadistische Gebärden, projektive Neidphantasien und Fetischisierungen von Deutschtum und Arbeit. Antisemitismus gerinnt in Mertens‘ Darstellung primär zum bloßen "Verdacht" der Medien. Daß er die Reaktionen der "von allen Seiten angegriffenen Dörfler" dennoch als "inakzeptabel" beurteilt,wirkt schließlich wenig überzeugend.

Umso erstaunlicher ist die in diesen Texten auftretenden Wahrnehmungsmu-ster, die mediale Vorurteile vornehmlich gegen Deutsche perzipieren, da es im Gegenteil gerade Nationalismus, nationale Symbolik und Antisemitismus sind, die im öffentlichen Raum, vor allem in den deutschen Medien, seit der Vereini-gung deutlich zugenommen haben; die Tendenz, antijüdische Vorurteile "öffent-lich zu machen," so Wolfgang Benz schon 1995, "ist in den letzten Jahren stei-gend". Zugleich begründet eben diese neue Dynamik des Nationalismus gerade die Projektion, medial zirkulierende Feinde des deutschen Volkes wollten das eben restaurierte "Nationalbewußtsein" "uns" wieder madig machen.

Sollten sich die hier sichtbaren Stränge in der deutschen Antisemitismusfor-schung künftig ausweiten, die doch angetreten ist, über jede Neuformierung von Nationalismus und Judeophobie wissenschaftlich aufzuklären? Oder sind die spezifischen Tendenzen auch innerhalb der Antisemitismusforschung Spiegel einer allgemeineren gesellschaftlichen Entwicklung, die Normalität der deut-schen Gesellschaft gegen ihre Kritik zu beschwören?

Das Nachleben der NS-Ideologie oder aus ihr resultierender Dynamiken im gesellschaftlichen Bewußtsein und der politischen Kultur tritt insbesondere dann zutage, wenn der demokratische Zustand der Gesellschaft und deren "Normali-tät" am eindringlichsten beschworen werden. Ausgerechnet die "Aufarbeitung der Geschichte" ist hierbei das zentrale Diskursfeld, in dem sich heute nationali-stische Ideologeme und antisemitische Codes reproduzieren. Unter den ideologi-schen Chiffren des "Neuanfangs" nach dem "Ende der Nachkriegszeit", des "neuen Gründungsmythos" und der "Befreiung" der Nation von NS-Vergangenheit verschaffen sich gegenwärtig verstärkt nationalistische Abwehr-aggressionen öffentliches Terrain, die sich gerade auch gegen Juden richten. Dieser Tatbestand selbst widerlegt einmal mehr den eifrigen Glauben an deut-sche Normalitäten. An diesem Glauben, der nicht selten in Ressentiment um-schlägt gegen diejenigen, die ihn nicht teilen können, arbeitet gegenwärtig die sogenannte "Extremismusforschung", aber es gibt auch Tendenzen selbst inner-halb der Antisemitismusforschung, Vorurteile wiederzubeleben und Normalisie-rungsmotive voranzutreiben, anstatt eine Ideologiekritik zu betreiben, die ihre eigenen Denkvoraussetzungen reflektiert und nicht vor der "normalen Gesell-schaft" und der "normalen Politik" halt macht.

Das Verdrängte, Unbearbeitete, das zwischenzeitlich "durch offizielle Tabus in Schach gehalten" (Adorno 1977) worden war und sich in Teilen ideologisch schadlos gehalten zu haben scheint, kehrt nicht als Identisches wieder. Daß indes dem Nationalismus und dem Antisemitismus in Deutschland der Boden entzo-gen und die Vergangenheit aufgearbeitet sei, daß gar gesellschaftliche Verhält-nisse geschaffen seien, die dies nachhaltig begünstigten, davon kann wahrlich keine Rede sein.

Redaktion OSSIETZKY: Haus der Demokratie und Menschenrechte, Ber-lin. Unter Mitarbeit von Daniela Dahn, Dietrich Kittner und Peter Turrini herausgegeben von Rolf Gössner, Arno Klönne, Otto Köhler, Reinhard Kühnl und Eckart Spoo. E-mail: ESPOO@t-online.de