Der gefügige Charakter

17 Thesen zur Modulation der Kreativität

in (08.12.2014)

Ich kann überall empfangen, ich kann zu jeder Zeit konsumieren, und auch noch der passivste Zustand wird zur kreativen Situation. So verwandelt sich die Rezeption unversehens in Produktion, und alles, was jenseits der als Arbeit verstandenen Zeit produziert wird, gerät ebenfalls in den begehrlichen Fokus der Verwertung. Dann erscheint Kreativität im Befehlston, Partizipation wird ubiquitär, Aktion und Passion verschwimmen zusehends. Hauptsache, dass alle Beteiligten sich willig zeigen, das Beste aus sich herausholen, das Komponieren weiterbetreiben, nicht nur ohne KomponistIn, sondern auch ohne jede Komposition. Das ist freilich eine zweischneidige Angelegenheit. Das Fehlen der KomponistIn, das ewige Ausstehen der Komposition ist kein Heilsversprechen. Es kann einfach eine neue Form lebenslangen Selbst-Überwachens und -Bestrafens bedeuten.

Wir fügen uns ein, wir fügen uns an, wir fügen uns. Sicher auch den Bossen, den Chefs, den Line Managers. Aber viel mehr noch fügen wir uns den Gefügen, indem wir sie fügen. Die Gefüge fügen sich keineswegs so wie wir uns einem Vorgesetzten fügen, dessen Methode in der Maßregelung, Beherrschung, Unterwerfung besteht, ein Verhältnis der Nicht-Freiheit erzeugend. Die Gefüge schaffen es, der Nicht-Freiheit eine andere Form der (Selbst)unterwerfung hinzuzugesellen. Im Dispositiv der Kreativität funktioniert obligatorische Selbstunterwerfung auf freiwilliger Basis. Zur Nicht-Freiheit kommt die Wahlfreiheit maschinischer Dienstbarkeit hinzu. Wir müssen uns die Freiheit nehmen zu wählen.

Wir sind die kreativen Zahnräder einer zunehmend modularisierten Gesellschaft, und zugleich modulieren wir uns und die Welt. Diese doppelte Modulation bedeutet eine ständige Re- und Deformierung unserer Zeiten und den immer kleinteiligeren Zugriff auf ihre Module. Während die Zeit der Kreativen kleinteilig in Modulen organisiert, gerastert, insofern also die Disziplinierung auf die Spitze getrieben wird, findet der modulierende Zustand des Kreativ-Seins dennoch nie ein Ende. Was Gilles Deleuze als getrennte und aufeinander folgende Zuweisungen für Disziplin und Kontrolle beschreibt, fließt heute ununterscheidbar ineinander: Im neuen Modus der Modulation hört man nie auf anzufangen, und zugleich wird man nie mit der Schöpfung fertig.

Der Imperativ der Kreativität impliziert eine doppelte Anrufung zur Modulation: eine Anrufung zur rasternden Modularisierung zum Schichten, Kerben und Zählen aller Verhältnisse, des gesamten Lebens, und zugleich eine Anrufung zur Bereitschaft, sich ständig selbst zu verändern, anzupassen, zu variieren. Die Modulation ist bestimmt durch diese doppelte Anrufung, sie gründet auf dem Zusammenwirken der säuberlichen zeitlichen wie räumlichen Trennung und Rasterung der Module mit der Untrennbarkeit von unendlichen Variationen und grenzenlosen Modulierungen. Während Modulation im einen Fall Zügelung bedeutet, die Einsetzung eines Standardmaßes, das In-Form-Bringen jedes einzelnen Moduls, erfordert sie im anderen Fall die Fähigkeit, von einer Tonart in die andere zu gleiten, in noch unbekannte Sprachen zu übersetzen, alle möglichen Ebenen zu verzahnen. Besteht die Bestimmung der Modulation einerseits darin, Module zu formen, verlangt sie andererseits eine konstante Selbst-(De-)Formierung, eine Tendenz zur ständigen Modifizierung der Form, zur Transformation, ja zur Formlosigkeit.

Anrufungen der Kreativität zielen auf die deformierende Glättung und die rasternde Kerbung, auf den möglichst allumfassenden Zugriff auf unsere noch nicht in Wert gesetzten Ressourcen. Weit über den Diskurs der Ökonomisierung und Industrialisierung der Kreativität im herkömmlichen Sinn hinaus geht es nun nicht mehr nur um das Ware-Werden von Kultur, sondern um Wunschökonomien, um eine in Dienst nehmende Modulierung unserer Wünsche, um die Herstellung des gefügigen Charakters.

Konkreter? Gerne: im Folgenden in der Form von 17 Thesen, die in ihrer polemischen Kürze nicht immer den Einzelfall treffen mögen, aber in ihrer geballten Sammlung hoffentlich ein Bild vom Ernst der Lage zeichnen.

1. Der „freischaffende Künstler“ dient als modellhaftes Instrument für die Modulierung der Kulturarbeit hin zu einer Feier von Entrepreneurship, Selbstunternehmertum und Gründer-Pathos. Was einst als Autonomie der Kunst auf die freien Kunstschaffenden projiziert wurde, wird nun einem immer weiter ausfransenden Feld von Kulturarbeit zugemutet.
2. Das Privileg der „freien Kunst“ war schon immer ein Mythos, doch seine Anrufung wird heute noch grotesker als je zuvor. Zugleich mit dem Lob des freien, unternehmerischen Künstlerlebens für möglichst viele wird ein System des Messens und Rasterns in alle Bereiche der Kunstproduktion auch im engeren Sinn eingeführt: vom Künstler-Ranking über die akademische Rasterung der PhDs für künstlerische Forschung bis zu den Kennzahlen der Kunstinstitutionen als zentrale Legitimierung für öffentliche Förderung.
3. Bei vergleichsweise hoher Qualifikation müssen Kunst- und KulturarbeiterInnen unterdurchschnittliche Einkommen in Kauf nehmen. Diese falsche Proportion auf die relativ hohe Teilnahme von Frauen an Kulturarbeit zurückzuführen und als „Feminisierung der Kulturarbeit“ zu denunzieren, ist eine diskursive Umkehrung ökonomischer Ungleichheit.
4. Wo in anderen Branchen Gehaltsschemata und Honorarrichtlinien für Angestellte und Freiberufliche existieren, herrscht in der Kulturarbeit nicht nur für PraktikantInnen Lohndumping bis hin zum häufigen Ansinnen von wohlmeinend naiven oder bewusst ausbeuterischen AuftraggeberInnen, frei, also gänzlich gratis für sie zu arbeiten.
5. Die institutionelle Form dieser (Selbst-)Ausbeutung ist die paradoxe Einrichtung der Projektinstitution. Institution, sofern sie die Verantwortung der kulturarbeiterischen SelbstunternehmerInnen in den Vordergrund stellt, Projekt, sofern es immanent auf eine völlige Indienstnahme der Zeit der Beteiligten hinausläuft und zugleich die Zeitgebundenheit, also das Ablaufdatum des Unternehmens betont.
6. Nicht nur in den neuen pseudo- und projektinstitutionellen Organisationsformen des kulturellen Selbstunternehmertums, auch in den großen Kultur- und Medieninstitutionen entwickelt sich eine Praxis des Outsourcing aller Funktionen, soweit sie nicht das innere Management angehen. Gerade die sogenannten Kreativen sind davon besonders betroffen.
7. Die allgemein propagierte „Kultur der Selbständigkeit“ schafft wie die konkreten Formen des Selbstunternehmertums und der Projektinstitution Verunsicherung, auch für all diejenigen, die früher aus eigenem Antrieb in verschiedenen Vertragsformen als DienstleisterInnen in der Kulturarbeit tätig waren oder selbstbestimmt zwischen Anstellung und unternehmerischer Arbeit pendelten.
8. Die verschiedenen Formen von Abhängigkeit auch in der Selbständigkeit unterliegen fast in jedem einzelnen Fall unterschiedlichen gesetzlichen Regelungen, oft in ihrer Diversität in einzelnen Individuen gebündelt. Die Bereiche des Vertrags- und des Steuerwesens werden dadurch zu einem undurchdringbaren Rechtsdschungel, der neue Abhängigkeiten erzeugt.
9. Die Freiheit und Selbständigkeit „freier DienstnehmerInnen“ oder „neuer Selbständiger“ wirkt als Vogelfreiheit nicht nur im ökonomischen Sinn. Aus der permanenten Situation der Verunsicherung, des Risikos und der Prekarisierung entstehen neue Krankheiten. Stress, Depressionen, nervöse Störungen und andere Psychopathologien prägen den prekären Alltag.
10. Die Versicherungssysteme reagieren kaum auf diese neuen ökonomischen, rechtlichen, psychischen und physischen Bedingungen der Prekarität. Im Gegenteil, mit wachsender Komplexität, ständiger Erhöhung der Beiträge und Verminderung der Leistungen tendieren sie dazu, die Verunsicherung zu steigern.
11. Die immateriellen Produktionsweisen der Kulturarbeit produzieren alle möglichen Überschüsse in Form von in Wert setzbaren Rechten. Im Kampf um Bildrechte, Persönlichkeitsrechte, und ganz im Allgemeinen Urheberrechte werden die KulturproduzentInnen – so sehr sie auch für Creative Commons und gegen die Monopolisierung von immateriellen Rechten eintreten – zunehmend entrechtet und enteignet, allenfalls von Konzernen als Feigenblatt für ihre Geschäftsinteressen verwendet.
12. Wo Kunstinstitutionen sich als kritisch verstehen, verlieren sie zunehmend ihre staatliche Unterstützung. In vielen Fällen führt dies zur Aufgabe prägnanter Positionen, zur Selbstzensur und in der Folge zu zugespitzten Konflikten zwischen Institution und kritischen KunstproduzentInnen. Zugleich entstehen im Kunstfeld neue, alte institutionelle Figuren, in deren Programmen sich marktkonforme und anpasslerische Strategien mit schalen spektakulären Spitzen paaren, in deren Apparaten Outsourcing und Prekarisierung die Oberhand gewinnen.
13. Die diskursive Durchsetzung der Modulation der Kreativität durchdringt alle sozialen Felder und die unterschiedlichsten Geografien. Sie wird begleitet von Kampagnen, die sich auf hohle Propagandabegriffe wie Creative Entrepreneurs, Creative Clusters, Creative Districts, Creative Cities stützen. Durch ihr Eindringen in die kulturpolitischen Programme wird deren Aushöhlungsprozess zum Abschluss gebracht: die Kulturpolitik schafft sich selbst ab.
14. Zugleich mit der Feier der Kreativitätswirtschaft als aufstrebender wirtschaftlicher Gewinnzone kommt es am Reißbrett der kreativen Consultants zu einer grotesken Ausweitung des Bereichs der Creative Industries, die nun Weinbau ebenso umfassen sollen wie Software, Organisationsberatung ebenso wie Tischlerei. Mithilfe von empirischen Studien und „Kreativwirtschaftsberichten“ konstruieren Agenturen und staatliche Verwaltungen eine wirtschaftliche Zone, die in den größten europäischen Ländern zur zweit- oder drittgrößten „Industrie“ hinauf gelobt wird.
15. Kreativität erringt zunehmend auch einen Stammplatz in den Portfolios der Stadtplanung. Für den Kampf im globalen Standortwettbewerb, für die „Aufwertung“ ganzer Städte unter dem Titel creative city, für die Gentrifizierung von Stadtvierteln zu young creative districts ist kulturelles Kapital Pflichtprogramm.
16. Während multikulturelle Aspekte meist eine wichtige Rolle in den Zukunftsszenarios der PlanerInnen spielen, kerben zugleich rassistische Ausschlüsse die kreativen Szenen. MigrantInnen gehören meist zu den ersten Objekten der Gentrifizierung, die diesen kreativen Szenen weichen müssen, Visabestimmungen und Aufenthaltsgenehmigungen sind auch im kulturellen Feld alltägliche Mittel der Exklusion. 
17. Es sind die Kreativitäts-BeraterInnen und -PlanerInnen, die jene Oper komponieren, in der sie auch die Hauptrolle spielen wollen. Zuerst ein flottes, oberflächliches Buch, das zum Bestseller wie gemacht ist, dann jeden Monat eine unglaublich gut bezahlte Performance beim Bürgermeister einer anderen Metropole, und am Ende modulierendes Leben in der schönen kreativen Stadt, wo Privatheit gated community bedeutet und Öffentlichkeit einen perfekten glatten Raum.

Wenn Kreativität die Wahrheit der Gefüge ist, denen wir uns als seine Kreaturen fügen und die wir zugleich durch unsere Kreativität fügen, dann braucht es eine neue Form der Lüge, der Erfindung, der Machination, die die Gefüge durchbricht. Auf demselben Terrain der Fügsamkeit, Dienstbarkeit, Passförmigkeit, also der eingebildeten Industrie der Kreativität, müssen unsere gefügigen Charaktere den Aufstand erproben, die Kontinua des Schaffens unterbrechen, die Anrufungen der Modulation überhören, dem Befehlston der Kreativität Ungehorsam entgegenhalten: der Kreativität entgehen bedeutet unfügsam zu werden.


Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Wien, Nr. 33, „Kreativitätsroutinen“


Gerald Raunig ist Philosoph und arbeitet am eipcp und an der Zürcher Hochschule der Künste. Sein Essay Industrien der Kreativität ist 2013 bei diaphanes erschienen. 2015 wird der von ihm und Ulf Wuggenig herausgegebene Band Kritik der Kreativität mit neuem Vorwort und zusätzlichen Texten bei transversal texts neu aufgelegt.