Ein Versuch, die Krisenpolitik der DGB-Gewerkschaften seit 2008 zu verstehen – von Toni Richter
»Gerade wir, die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter, wünschen nicht, dass es zum sog. Kladderadatsch kommt und dass wir genötigt sind, auf den Trümmern der Gesellschaft Einrichtungen zu schaffen, gleichviel, ob sie besser oder schlechter sind wie die jetzigen. Wir wünschen den Zustand der ruhigen Entwicklung.«(Karl Legien, 1899)
Wenn viele Linke seit Beginn der Krise 2008 an der Stabilität der deutschen Verhältnisse leiden, so nehmen die DGB-Gewerkschaften hierbei eine besondere Rolle ein. Eine minimale rhetorische Unterstützung der Krisenproteste hierzulande und außerhalb, ein öffentlich vorgetragener Stolz auf die eigene Rolle bei der Optimierung der Wettbewerbs- bzw. Kostenvorteile der deutschen Industrie, anhaltend ritualisierte Tarifrunden mit moderaten Abschlüssen, ein Leiharbeits-Tarifabschluss, der die kostensenkende Spaltung zwischen Kern- und Randbelegschaften in Deutschland etwas mildert, aber keineswegs aufhebt – all dies sorgt dafür, dass viele bundesdeutsche Linke kaum Erwartungen hegen, aus der Ecke der DGB-Gewerkschaften echte Unterstützung für eine europäisch-internationalistische Bewegung gegen jene Krisenpolitik zu bekommen, die seit 2008 die sozialen Kosten der Krise einseitig bei den abhängig Beschäftigten und bei den meistverschuldeten EU-Staaten ablädt.
Doch so miserabel die Krisenpolitik der DGB-Gewerkschaften seit 2008 auch daherkommen mag, so sehr bedarf sie der eingehenden Analyse. Denn auch viele Linke konzentrieren sich bei ihrer Kritik an der DGB-Gewerkschaftspolitik nur allzu gern auf die Gewerkschaftsfunktionäre und machen sie letztlich dafür verantwortlich, »dass nichts geschieht«. So unsympathisch die Spitzen-Funktionäre deshalb auch erscheinen mögen, die folgenden Ausführungen schlagen vor, die Bedeutung dieser Individuen nicht zu überschätzen. Denn zum einen hat die konsensorientierte und bewegungsaverse Form dieser Interessenpolitik strukturelle Gründe und die großen Führungsfiguren der DGB-Gewerkschaften sind bei Lichte besehen zumeist nur Getriebene dieser Strukturen, statt deren Treiber zu sein. Zum anderen kann die Krisenpolitik der DGB-Gewerkschaften durchaus als erfolgreiche Interessenpolitik interpretiert werden, und es wäre dann zu fragen, welches Interesse hier warum verfochten wird. Zum dritten schließlich ist nach der Reichweite einer moralischen Kritik von links zu fragen: Statt die Politik der DGB-Gewerkschaften einseitig mit Verweis auf hehre Prinzipien wie Solidarität, Internationalismus usw. zu kritisieren, müsste es für die Linke darum gehen, die Perspektiven und Grenzen dieser Interessenpolitik zu antizipieren – auch zum Zwecke möglicher eigener Interventionen.
Die »Verbetriebsrätlichung« der DGB-Gewerkschaften
Beginnen wir mit der deutschen Besonderheit der Interessenvertretung der Lohnabhängigen, dem rechtlichen Rahmen des Betriebsverfassungsgesetzes. Über dieses ist im Laufe seines 60-jährigen Bestehens viel geschrieben und gestritten worden, doch trotz unterschiedlicher politischer Bewertung des Gesetzes durch rechte und linke Gewerkschafter dürfte ein Umstand kaum umstritten sein: Das BetrVG hat konditionierend mitgeholfen, einen bestimmten Typus der Interessenvertretung in Deutschland zu etablieren. Denn wie es das BetrVG vorsieht, sucht der prototypische Interessenvertreter des BetrVG sein Engagement immer unter Beachtung der einzelbetrieblichen Betriebsziele zu erreichen, d.h. er ist für betriebswirtschaftliche (Kosten-Nutzen-) Argumente prinzipiell offen. Dabei ist klar, dass ihm das BetrVG verbietet, zu Arbeitskämpfen aufzurufen und dass der BR zu einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mit dem Unternehmer verpflichtet ist. Er kann sich zwar von dieser Kampf- und Bewegungsblockade des BetrVG lösen und gewerkschaftliche Hilfe suchen. Doch das ist für ihn immer nur eine mögliche Option, d.h. er kann gewerkschaftliche Konfliktstrategien und Interessen eben auch hintenanstellen. Und schließlich ist seine Arbeit, im Gegensatz zur Arbeit gewerkschaftlicher Vertrauensleute, bezahlte Arbeitszeit, so dass sich bei vielen engagierten KollegInnen der innerbetriebliche Aufstieg meist von der ehrenamtlichen Gewerkschaftsarbeit hin zur vergüteten Betriebsratsarbeit vollzieht und es sich also regelrecht auszahlt, dem BetrVG entsprechend zu agieren.
Die besondere Pointe scheint mir nun, dass das BetrVG diesen Typus des betriebswohl- und konsensorientierten deutschen Betriebsrats, der zu Gewerkschaften ein eher instrumentelles Verhältnis hat, nicht nur mit etabliert hat, sondern wesentliche Charakteristika dieses Typus sind auch immer mehr zu den Kennzeichen vieler deutscher Gewerkschaftsfunktionäre geworden. Oder anders gesprochen: Wollten die Arbeitnehmerorganisationen in den Anfängen des BetrVG die Belegschaftsvertretungen durch den Aufbau eines betrieblichen Vertrauensleutesystems noch »vergewerkschaftlichen«, so deutet eben auch die Krisenpolitik der DGB-Gewerkschaften seit 2008 darauf hin, dass es historisch umgekehrt gekommen ist. Statt der »Vergewerkschaftlichung« der Belegschaftsvertretungen kam es zur »Verbetriebsrätlichung« der Gewerkschaften und ihrer Funktionäre gemäß dem BetrVG und seiner zentralen juristischen Normen der Interessenvertretung.
Dieser Prozess ist aber nicht allein mit der Verabschiedung des BetrVG erklärbar. Mindestens zwei weitere Faktoren kamen hier insbesondere ab den neunziger Jahren flankierend hinzu. Der erste ist die Ausweitung der Dominanz der Großbetriebe innerhalb der DGB-Gewerkschaften.1 Diese Dominanz hat es ohne Zweifel immer schon gegeben, und sie hat nicht nur in den entsprechenden Regionen dafür gesorgt, dass die Betriebsräte dieser Großbetriebe seit jeher einen hohen Einfluss auf die Politik der jeweiligen Gewerkschaftsgliederung vor Ort hatten, wenn sie denn über die entsprechenden Organisationsgrade verfügten. Aber insbesondere die andauernden Mitgliederverluste der DGB-Gewerkschaften in den 90er Jahren deuten darauf hin, dass sich diese Dominanz verschärft hat. Wenn es nämlich eine gewerkschaftliche Binsenweisheit ist, dass es aus Effizienz- und Machtgründen immer sinnvoller ist, die eigenen gewerkschaftlichen Ressourcen in den Großbetrieben zu bündeln, da man dort Mitglieder leichter halten oder gar gewinnen kann, so sorgt dies zugleich dafür, dass die komplizierte und aufwändigere Arbeit in Klein- und Mittelbetrieben meist in bestimmten Grenzen bleibt. Kommt es dann zusätzlich zu konjunkturellen Krisen wie etwa in den 90er Jahren oder aber 2008, so konzentriert sich die Gewerkschaftsarbeit aus Effizienz- und Machtgründen auf die Großbetriebe, und die Mitgliederverluste treffen die Klein- und Mittelbetriebe durch die relative Vernachlässigung umso härter. Dadurch weitet sich aber nicht nur der ohnehin schon große Einfluss der Großbetriebe innergewerkschaftlich aus, es droht zudem eine Spirale in Gang zu kommen, in der am Ende die Dominanz der Großbetriebe in den Gewerkschaften stetig auf Kosten der Klein- und Mittelbetriebe wächst. Und was ebenso wichtig ist: Auch die Betriebsräte dieser Großbetriebe erhalten so verständlicherweise einen abermals steigenden Einfluss innerhalb der Gewerkschaften und werden entsprechend selbstbewusst und immer offener auf gewerkschaftliche Regelungen drängen, die ihr einzelbetriebliches Wohl klar im Blick haben.
Dass ihnen dies leicht fällt und somit die »Verbetriebsrätlichung« der Gewerkschaften weiter voranschreiten konnte, dafür sorgt wiederum als zweiter Faktor das Prinzip der Einheitsgewerkschaft. Weil mit diesem Prinzip eine Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners gerade im höheren Funktionärsbereich der verschiedenen DGB-Gewerkschaften immer im Vorteil war gegenüber klaren politischen Positionierungen, ist den DGB-Gewerkschaften eine pragmatische Tendenz in ihre Grundstruktur eingeschrieben. Was aber passiert eigentlich, wenn vor diesem Hintergrund auch linke gewerkschaftliche Leitbilder als Korrektiv wegbrechen, wie es spätestens seit 1989 geschieht,2 und zugleich im Zuge der sog. Globalisierung eine Intensivierung der globalen Konkurrenz einsetzt? Meine These hier lautet: Ohne diese Korrektive, die so wichtig sind für die Motivation und Begründung progressiver gewerkschaftlicher Allgemeinheitsansprüche, und mit dem zunehmenden Druck des Marktes verschärfen sich die »verbetriebsrätlichenden« Tendenzen innerhalb der Gewerkschaften. Denn wenn man als Gewerkschaft nicht mehr weiß, wohin man langfristig will, und wenn die Gegenwart beständig schnelle, kurzfristige Entscheidungen abverlangt, dann wird man sich eben auf diese Entscheidungen konzentrieren und zwar so, dass das einzelbetriebliche Wohl, dass einem die jeweiligen Betriebsräte mit vorgeben, zum gewerkschaftlichen Hauptfokus wird. Hin und wieder wird es da auch zu betrieblichen Kämpfen kommen, aber letztlich zählen schnelle und möglichst reibungsfreie Erfolge für die Mitgliederbastionen – denn auch Arbeitskämpfe sind schließlich ein Kostenfaktor, der im Übermaß das einzelbetriebliche Wohl gefährdet.
Erfolge für die männlichen Facharbeiter und Angestellten der 1960er-Generation
Dass diese einzelbetriebliche Kosten- und Konkurrenzorientierung der Gewerkschaftspolitik mittel- bis langfristig zum Problem werden muss, dämmert dabei durchaus dem einen oder anderen Gewerkschaftsfunktionär. Wenn wir uns jetzt jedoch jenem Klassensegment zuwenden, für das diese Politik gemacht wird, dann wird deutlich, dass es sich hierbei tatsächlich um erfolgreiche Interessenpolitik im Namen der überwiegenden Mehrheit der Mitglieder der DGB-Gewerkschaften handelt.
Um das zu sehen, sollte man sich vor Augen halten, dass das durchschnittliche Mitglied der drei größten DGB-Gewerkschaften IG Metall, ver.di und IG BCE Ende 40 und männlich ist, dass es in seinem Lehrberuf in einem Großbetrieb arbeitet, der wiederum zumeist in den Branchen der Automobilindustrie, des öffentlichen Dienstes sowie der Chemie- und Pharmaindustrie beheimatet ist.3 Wenn auch diese Charakterisierung für sich genommen nicht spektakulär ist, so sollten wir sie dennoch zum Ausgangspunkt weiterer Überlegungen machen: Wenn die DGB-Gewerkschaften immer noch die Bastion des westdeutschen (Großbetriebs-) Facharbeiters bzw. Fachangestellten sind und dabei insbesondere die Generation der in den 1960ern geborenen Lohnabhängigen überrepräsentiert ist – welche (betriebs-)politischen Erfahrungen und Perspektiven dominieren diese Schicht der deutschen Arbeiterschaft und wie beeinflussen diese Erfahrungen die Krisen-Politik der DGB-Gewerkschaften?
Eine genaue Antwort auf diese wichtige Frage kann hier leider nicht gegeben werden, da dies eine eingehendere empirische Recherche verlangen würde. Dennoch möchte ich mit vier kleinen Überlegungen zumindest erste Umrisse einer Antwort zeichnen.
Erstens: Indem diese 1960er-Generation ihre berufliche Sozialisierung in den achtziger Jahren erfahren hat, ist sie in Deutschland in einem vergleichsweise noch funktionierenden Sozialstaat groß geworden. Entsprechend kann es nicht verwundern, dass viele dieser Generation diese frühe Erfahrung vergangener Sozialstaatlichkeit als Gerechtigkeitsideal für sich bewahrt haben, dass sie gerade auch mit Blick auf die sozial härtere Gegenwart diesen Sozialstaat verklären und dass deshalb der nationalstaatliche Rahmen ihre Politikperspektiven und damit auch die »ihrer« Gewerkschaften, deren Mitgliederstamm sie bilden, dominiert.
Zweitens: Wenn wir aktuelle Zahlen zur Entwicklung der Arbeitskämpfe4 zugrunde legen und wir dabei konstatieren müssen, dass in den frühen achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts die Zahl der Arbeitskämpfe global und regional betrachtet deutlich eingebrochen ist, so bedeutet dies zugleich, dass die 1960er-Generation keine kampferfahrene Facharbeiter-/Fachangestellten-Generation ist und schon gar nicht eine Generation, die große Arbeitskampferfolge zu ihrem kollektiven Erfahrungsschatz zählen kann. Dass auch dies die deutschen Gewerkschaften in den Krisenjahren ab 2008 gezügelt haben dürfte, ist zu vermuten.
Drittens: Facharbeiter/Fachangestellte haben immer schon einen spezifisch »konstruktiven« Produzentenstolz gehabt, der sie in vielen historischen Situationen daran gehindert hat, polarisierende und d.h. für sie »unkonstruktiv« anmutende Arbeitskämpfe einzugehen, so dass der Wunsch dieser Gruppen nach »ruhiger Entwicklung« (Legien) lange Tradition hat. Hält man sich zudem vor Augen, dass gerade die Gewerkschaftsmitglieder der 1960er-Generation ihre Arbeitsplätze trotz der sich intensivierenden Globalisierung, steigender Arbeitslosenzahlen, der Krise der öffentlichen Haushalte und der überall gegenwärtigen Prekarisierung der Arbeits- und Lebenswelten in Deutschland bewahren konnten, dann liegt es nahe, dass sie ihre berufliche Stabilität und ihren Betrieb als Insel sehen, die sie nicht zuletzt durch eine anhaltend maßvolle Gewerkschaftspolitik bewahrt wissen wollen.5
Viertens schließlich hat die 1960er-Generation es nicht mehr weit bis zur Rente, auf sie warten »nur noch« um die 15 Jahre Lohnarbeit. Zwar wird dabei auch für sie die Arbeitswelt härter, kommen die Einschnitte und Einschläge näher – doch warum sollte diese Generation seit dem Krisenjahr 2008 auf große Perspektiven schielen und für sie offensiv eintreten, wenn diese Facharbeiter-/ Fachangestelltengeneration bisher mit ein wenig gewerkschaftlichem Verhandlungsgeschick, kalkulierten Zugeständnissen und der deutschen Exportoffensive gut gefahren ist und das Ziel »Rente« für sie greifbar geworden ist?
Ein Abgrund und neue Generationen
Doch wie schon gesagt: Das, was sich für die 1960er ausgehen könnte, droht die deutschen Gewerkschaften mittelfristig ernsthaft zu schädigen. Denn die gleiche Gewerkschaftspolitik, die den Bedürfnissen und Interessen der männlichen Endvierziger-Facharbeiter/Fachangestellten in den deutschen Großbetrieben entgegenkommt, droht vor allem bei den jüngeren ArbeitnehmerInnen ins Leere zu laufen. Zumindest legen das die Mitgliedszahlen der DGB-Gewerkschaften nahe. Waren zwischen 2000 und 2004 30 Prozent aller Berufstätigen zwischen 41-49 Jahren Mitglied einer Gewerkschaft, so waren dies bei den 31-40-Jährigen nur 21,5 Prozent und bei den 18-30-Jährigen nur 15,3 Prozent.6 Und auch wenn es inzwischen bei den Unter-30-Jährigen eine leicht positive Tendenz nach oben gibt,7 so ist doch auch vielen Verantwortlichen innerhalb des DGB klar, dass die DGB-Gewerkschaften verstärkt (jüngere) Mitglieder werben müssen, wollen sie nicht vergreisen und deshalb an Macht verlieren!
Es ist dieser Abgrund allein, der die großen (und kleinen) Macher der DGB-Gewerkschaften schreckt – und deshalb entscheidet auch dieser Abgrund allein, ob die deutschen DGB-Gewerkschaften sich aus ihrer Bewegungsblockade lösen werden. Viele Szenarien sind dabei denkbar. Erstens: Mitgliedererfolge der DGB-Gewerkschaften in den jungen Generationen bleiben aus. Das hätte zur Folge, dass die DGB-Gewerkschaften ihren schwindenden gesellschaftlichen Einfluss durch eine institutionelle Politik für eine abermals kleiner gewordene Kernklientel zu kaschieren suchen würden. Unwahrscheinlich ist dieses Szenario, das in der IG BCE schon Realität geworden ist, keineswegs, und die DGB-Gewerkschaften wären historisch auch nicht die ersten Gewerkschaften, deren institutionelles Beharrungsvermögen über kurz oder lang dazu führte, dass Arbeiter-Bewegung nur außerhalb von ihnen möglich war.
Zweitens: Den DGB-Gewerkschaften gelingt es durch eine intensivere Kampagnenpolitik und neue Formen von Gewerkschaftsarbeit wie z.B. Organizing, die Mitgliederzahlen nach oben zu treiben und so den Einfluss der DGB-Gewerkschaften zu erhalten. Allein, wie sollte das gelingen, wenn solche Ansätze einer neuen Gewerkschaftspolitik so zögerlich wie bisher in die DGB-Gewerkschaften implementiert werden? Und schlimmer noch: Erklärt sich die Zögerlichkeit, mit der diese Ansätze umgesetzt werden, nicht auch daraus, dass man insgeheim hofft, mit ihnen so viel Bewegung wie nötig für schnelle Mitgliedererfolge zu produzieren, aber eben auch nicht mehr – von einer neuen, kämpferischen Basis auch für eine europäische Bewegung gegen die Krisenpolitik seit 2008 ganz zu schweigen?
Drittens schließlich: Die DGB-Gewerkschaften lösen ihre Bewegungs-Blockade doch noch, rücken politisch nach links, und es gelingt ihnen dabei, sich durch Streiks und andere politische, auch internationale Basis-Bewegungen zu erneuern und damit ihre Mitgliederbasis zu erhalten bzw. auszubauen. Für dieses Szenario könnte sprechen, dass die DGB-Gewerkschaften gegenwärtig eine große Zahl junger Bewegungslinker einstellen, sowie die Tatsache, dass kräftige Mitgliedergewinne, wie sie für die DGB-Gewerkschaften in den nächsten Jahren nötig wären, am einfachsten über erfolgreiche Großkonflikte zu erreichen sind. Doch warum sollte die 1960er-Facharbeiter-/Fachangestellten-Generation plötzlich bereit sein, »ihren« Gewerkschaften einen solch radikalen Politikwechsel mit vielen Risiken zu gestatten? Sollten die bedrohlichen Aussichten der DGB-Gewerkschaften als Anstoß für einen solchen Denk- und politischen Richtungswechsel reichen?
Soviel ist klar: Der Weg, der den DGB-Gewerkschaften in den nächsten Jahren bevorsteht, ist schwierig, und er kennt womöglich noch mehr Szenarien als die hier umrissenen. Doch was bedeutet all das für die Zukunft einer kämpferischen, basisorientierten und internationalistischen Linken? Wenn sich die gegenwärtige DGB-Gewerkschaftspolitik für die 1960er-Generation auszugehen scheint, dann ist das für die jetzt 20- bis 30-Jährigen kaum wahrscheinlich. Zum einen gibt es eine ganze Reihe von weltwirtschaftlichen Damoklesschwertern, die seit 2008 auch über der bundesdeutschen Ökonomie hängen, so dass das deutsche, von den Gewerkschaften protegierte Exportmodell schwerlich weitere vierzig Jahre einer Facharbeiterschaft/Fachangestelltenschaft ein Auskommen wie bisher sichern dürfte. Zum zweiten sollten die bisher geringen gewerkschaftlichen Organisationsgrade dieser Generationen auch den Arbeitgebern nicht verborgen bleiben, so dass – sollte es bei diesen Zahlen bleiben – weitere Angriffe des Kapitals auf die Besitzstände der deutschen Lohnabhängigen unausweichlich sein dürften; zum dritten schließlich bleibt die Finanzierung der öffentlichen Haushalte in Deutschland – auch ›dank‹ der Krise 2008 – angespannt, so dass es sehr wahrscheinlich ist, dass diese Generation noch tiefere Einschnitte als die Hartz-Gesetze in ihrer Lohnabhängigenexistenz miterleben wird.
Genau diese Unsicherheiten der jetzt 20- bis 30-Jährigen beim Blick auf die Zukunft der eigenen Erwerbsbiographie könnten in mehrfacher Hinsicht aber auch eine Chance für eine Erneuerung der Linken in Deutschland sein. Die AltersgenossInnen dieser Generation in der arabischen Welt, in Griechenland, Spanien, Portugal, der Türkei oder in Bosnien-Herzegowina haben es bereits vorgemacht: Sozialer Widerstand ist selbst in autoritären Regimen möglich, er muss nicht von großen Organisationen getragen werden und macht dennoch, beharrlich und in breiten sozialen Bündnissen vollzogen, den Mächtigen durchaus Angst. Und vermittels der neuen Kommunikationsformen kann diese Generation auch in der BRD schnell von Ihresgleichen lernen. Zweitens: Nicht nur, weil schwere Wirtschaftskrisen, Angriffe des Kapitals und damit einhergehende Einschnitte in die Lohnabhängigenexistenz auf die 1980er und 1990er-Generation auch in der BRD warten,8 gibt es Gründe, die dafür sprechen, dass auf diese Generation ein neues »Zeitalter der Extreme« (Hobsbawm) zuzukommen droht.9 Die globale Verteilung des Reichtums etwa bleibt weiterhin einseitig, so dass der »Planet der Slums« (Mike Davis) wächst und die internationalen Migrationsbewegungen anhalten. Die Ausbeutung und Zerstörung der natürlichen Ressourcen schreitet in beängstigendem Maße voran, so dass Zweifel erlaubt sind, inwieweit diese Schädigungen tatsächlich noch reparabel und extreme internationale Ressourcenkonflikte noch vermeidbar sind. Diese Generation scheint für all diese und andere Probleme Lösungen finden zu müssen. Dabei wird der sozialdemokratisch-etatistische Mittelweg wie nach 1945 kaum ausreichen, sondern Selbstorganisationsfähigkeit, Konfliktbereitschaft, Internationalismus und eine grundlegend neue Vergesellschaftung könnten der einzige humane Ausweg aus diesem Zeitalter werden. Drittens kommt diese Generation, was die Geschichte der politischen Linken angeht, vergleichsweise traditionslos daher, denn weder hat sie den »Realsozialismus« erlebt noch die Grabenkämpfe der 68er und Post-68er. Die entscheidende Frage lautet deshalb: Wird die Traditionslosigkeit der 1980er- und 1990er-Generation für die Linke ein Fluch oder ein Segen? D.h. werden auch in dieser Generation irgendwann erneut politische Großorganisationen und Avantgarden die sozialen Bewegungen dominieren, da sie vermeintlich Kontinuität, Effizienz und Erfolg verbürgen, so dass also die alten linken Sackgassen erneut beschritten werden – oder wird sich der basisorientierte, repräsentationskritische und experimentierfreudige Charakter der Krisenproteste seit 200810 erhalten können, auch wenn er ein erhöhtes Frustpotential, Diskontinuitäten und die Gefahr des Scheiterns an sich selbst mit sich bringt?
Diese Frage durch ihre Proteste seit 2008 laut gestellt zu haben, ist schon jetzt ein großes Verdienst der heute 20- bis 30-Jährigen in den oben genannten (und anderen) Ländern. Die Bürde, auf diese schwierige Frage in den nächsten Jahrzehnten eine Antwort geben zu müssen, kommt mit ziemlicher Sicherheit auch auf die noch passive 1980er und 1990er-Generation in der BRD zu. Und wer weiß: Vielleicht profitieren auch die DGB-Gewerkschaften in der einen oder anderen Form von der Antwort!
Anmerkungen:
1) Es ist mir leider nicht gelungen, Statistiken ausfindig zu machen, die diese Dominanz der Großbetriebe in den DGB-Gewerkschaften quantitativ veranschaulichen. Wenn man jedoch davon ausgeht, dass die Regelbetreuung der DGB-Gewerkschaften nur Betriebe umfasst, die auch einen BR haben, so können uns Zahlen über die Verteilung von Betriebsratsgremien in Deutschland helfen, die These von der Dominanz der Großbetriebe in den DGB-Gewerkschaften zumindest indirekt zu belegen. Legt man hierzu die Ergebnisse des IAB-Betriebspanels 2012 zugrunde (siehe www.boeckler.de), so werden in Westdeutschland in Betrieben mit 51-100 Beschäftigten 38 Prozent der Mitarbeiter von einem BR vertreten, in Betrieben mit 101-199 sind es 62 Prozent, in Betrieben mit 200-500 Beschäftigten sind es 77 Prozent und in Betrieben mit über 500 Beschäftigten sind es gar 86 Prozent. Je größer der Betrieb, desto höher ist also der Grad der betriebsrätlichen Mitbestimmung und wahrscheinlich damit auch der gewerkschaftlichen Unterstützung. In eine ähnliche Richtung weist auch der Umstand, dass – obgleich in der bundesdeutschen Privatwirtschaft insgesamt betrachtet in Westdeutschland 43 Prozent der Beschäftigten durch einen BR vertreten werden und dies in Ostdeutschland 36 Prozent sind – insgesamt aber nur neun Prozent der Betriebe in der deutschen Privatwirtschaft einen Betriebsrat kennen. Schließlich arbeiteten laut Zahlen des Instituts für Mittelstandsforschung Bonn 2009 bei knapp 25,2 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten bundesweit nur 9,8 Millionen in Betrieben mit mehr als 500 Mitarbeitern, während in den sog. KMU-Betrieben 15,3 Millionen beschäftigt wurden. D.h. obwohl die Großbetriebe nur etwa ein Drittel der Arbeitsplätze in der BRD anbieten, spielt sich betriebsrätliche und gewerkschaftliche Mitbestimmung vor allem in diesem Bereich ab.
2) Dies ist umso tragischer vor dem Hintergrund, den Klaus Dörre kürzlich in der »Mitbestimmung« festhielt, denn: »Mehrheiten unter den Beschäftigten in Ost und West sind der Ansicht, dass unser Wirtschaftssystem ›auf Dauer nicht überlebensfähig‹ sei. Ihre Kritik entzündet sich an einem ›Immer mehr und nie genug!‹, wie es sich nicht nur in der betrieblichen Leistungspolitik, sondern ebenso in Schule, Kindergarten, beim Konsum und in vielen anderen Lebensbereichen bemerkbar macht. Dieser verbreiteten Kritik mangelt es offenbar an Akteuren, die ihr eine politische Stimme verleihen könnten. Die Gewerkschaften werden als potenzielle Träger alternativer Gesellschaftskonzeptionen jedenfalls kaum wahrgenommen. Sie werden im betrieblichen Alltag, zur Beschäftigungssicherung und in Tarifverhandlungen benötigt. Eine glaubwürdige gesellschaftliche Transformationsperspektive verkörpern sie in den Augen der Befragten nicht.« (Mitbestimmung 1+2/2013)
3) 2005 schrieben Eckhart Seidel und Michael Schlese auf Grundlage von Zahlen des Sozioökonomischen Panels (SOEP) des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in der SPW: »Der typische Gewerkschafter ist älter als 40, männlich, arbeitet in Westdeutschland in einem Betrieb über 200 Beschäftigte und hat eine abgeschlossene Berufsausbildung. Wahrscheinlicher (mit 37,5 Prozent) als der Durchschnitt der Beschäftigten (24,0 Prozent) arbeitet er/sie zudem im öffentlichen Dienst.« (Eckhart Seidel/Michael Schlese: »Sind die Gewerkschaften noch zu retten? Gewerkschaftsmitgliedschaft im Wandel und die Folgen für die politische Strategie«, in: SPW 144/2005, S. 20-24) Da eine Trendumkehr seitdem ausgeblieben ist, ist der typische Gewerkschafter 2014 also Ende 40, Anfang 50 Jahre alt und gehört der 1960er-Generation an. (Zur Dominanz der 1960er-Generation innerhalb der DGB-Gewerkschaften vgl. auch Fußnote 6 in diesem Text.)
4) Daten zur globalen Streikentwicklung finden sich in Beverly J. Silver: »Forces of Labor. Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870«, Berlin 2005. Legt man die Zahlen von Heiner Dribbusch für die BRD zugrunde (Heiner Dribbusch: »Arbeitskampf im Wandel. Zur Streikentwicklung seit 1990«, in: WSI-Mitteilungen 7/2006, S. 384), so beginnt der einschneidende Rückgang der Arbeitskämpfe in der BRD im Fünf-Jahres-Zeitraum 1985-1990 (4,4 ausgefallene Arbeitstage pro 1000 Beschäftigte). Vermutlich lässt sich die wesentlich höhere Zahl von ausgefallenen Arbeitstagen im Zeitraum von 1980-1985 (49,5 ausgefallene Arbeitstage pro 1000 Beschäftigte) auf die Streiks für die 35-Stunden-Woche 1984 zurückführen. Insofern hätte die 1960er-Generation immerhin diese Auseinandersetzungen als ferne Erinnerung an kämpferische Zeiten in ihrem kollektiven Gedächtnis. Dennoch scheint mir dies mein Argument kaum zu entkräften, dass es sich bei den 1960ern um eine kampfunerfahrene Gewerkschafter-Generation handelt.
5) Vgl. Klaus Dörre: »Das Gesellschaftsbild der Lohnarbeiterinnen. Soziologische Untersuchungen in ost- und westdeutschen Industriebetrieben«, Hamburg 2013
6) Vgl. http://fowid.de/fileadmin/datenarchiv/Gewerkschaftsmitglieder_nach_Altersgruppen__1980-2004.pdf. Bei den Arbeitnehmern, die 50 Jahre oder älter sind, lag der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder im Zeitraum von 2000 bis 2004 bei 23,4 Prozent.
Um die Dominanz der 1960er-Generation innerhalb der DGB-Gewerkschaften zu unterstreichen, lohnt es, die Mitgliederzahlen der DGB-Gewerkschaften mit der Altersstruktur der deutschen Arbeitnehmer zu vergleichen. Zu diesem Zweck seien hier aktuelle Zahlen der Agentur für Arbeit über die Altersstruktur der sozialversicherungspflichtig (SVP-) Beschäftigten in Deutschland zugrunde gelegt (http://statistik.arbeitsagentur.de). Diesen Zahlen zufolge waren im Dezember 2004 knapp 13 Millionen SVP-Beschäftigte jünger als 40 Jahre und 13 Millionen älter als 40 Jahre. Diese ausgeglichene Altersstruktur der SVP-Beschäftigten hat sich bis Dezember 2012 deutlich verändert: Nur noch 10,4 Millionen SVP-Beschäftigte waren jünger als 40 Jahre, während knapp 18,7 Millionen jetzt älter als 40 Jahre waren. Für die DGB-Gewerkschaften bedeutet das: Waren sie schon 2004 nicht in der Lage, diese ausgeglichene Altersstruktur der SVP-Beschäftigten in Deutschland in ihrer Mitgliederstruktur abzubilden, so dass ihre Mitglieder 2004 im Schnitt älter waren als die SVP-Beschäftigten in Deutschland, dann hat sich dieser Umstand 2012 verschärft. Denn indem die DGB-Gewerkschaften prozentual weiterhin weniger SVP-Beschäftigte unter 40 Jahren als Mitglieder in ihren Reihen begrüßen können und der Anteil dieser Gruppe zudem bei den SVP-Beschäftigten zurückgeht, so schwindet der Einfluss dieser Arbeitnehmer im DGB zugunsten der 1960er-Generation überproportional.
7) Stefan Rein>8) Erste Vorboten dieser Prozesse, die in anderen Ländern schon längst Alltag sind, spürt diese Lohnabhängigen-Generation hierzulande schon jetzt, insofern prekarisierte Arbeitsverhältnisse für sie häufiger Teil ihrer noch jungen Erwerbsbiographie sind (vgl. hierzu z.B. die deutlichen Ergebnisse der IG Metall-Studie »Junge Generation« aus dem Jahr 2012 (www.igmetall.de). Dass dies sowie der steigende Anteil erwerbstätiger Frauen mittelfristig zu einer neuen Klassenzusammensetzung in der BRD führen können, ist sehr wahrscheinlich und wäre ein weiterer Ansatzpunkt für eine vertiefte Analyse.
9) Ich will damit nicht sagen, dass ich ein solches neues Zeitalter extremer sozialer Verwerfungen, Kämpfe und Kriege wie Anfang des 20. Jahrhundert für unausweichlich halte, sondern nur betonen, dass es gute Gründe für eine solche Prognose gibt, deren düsterer Anstrich uns jetzt schon beunruhigen sollte.
10) Vgl. Peter Birke, Max Henninger: »Krisen Proteste. Beiträge aus Sozial.Geschichte Online«, Berlin/Hamburg 2012