Gewerkschaften und SPD im flexiblen Kapitalismus

"Rechte rührt man nicht an, man weitet sie aus", stand an einer Bühnenwand auf der Piazza del Popolo. In Rom waren - wie in 20 anderen größeren italienischen Städten - ...

... am 17. April die Straßen voller Demonstranten. Es war der erste Generalstreik seit 20 Jahren - mit bis zu 90% Beteiligung. Während die große Manifestation am 23. März noch allein von der CGIL getragen werden musste, blieben nun auch UIL und CISL nicht am Straßenrand stehen. Eine neue Einheit der Gewerkschaftsbewegung ist der erste Erfolg des Streiks. Gestreikt wurde für den Artikel 18 - der ist in Italien ebenso populär wie Mitte der 1980er Jahre der § 116 AFG hierzulande. In Deutschland ging es um die Sicherung des Streikrechts - in Italien geht es um den Kündigungsschutz, also elementare Rechte zur Sicherung der sozialen Existenz. Und es geht um die Zukunft. Denn der nachhaltige Abbau der Arbeitsmarkt-Regulierung ist die Schnittstelle bei der Durchsetzung eines flexiblen Kapitalismus. Dieser basiert auf der weitgehenden "Internalisierung des Marktes". Die abhängig Beschäftigten selbst sollen für die Anpassung der Produktion an die Nachfrageschwankungen auf den Käufermärkten und dabei auch für die Erwirtschaftung einer entsprechenden Rendite sorgen. "Atmende Fabrik" nennt man das in Deutschland, wobei die Risiken der Produktion und Dienstleistungen auf die Lohnabhängigen abgewälzt werden, ohne die Partizipations- und Mitbestimmungsrechte auszuweiten. Und für seine Beschäftigungsfähigkeit hat der moderne Lohnarbeiter selbst zu sorgen: Employability heißt das. Damit wird der Kündigungsschutz - anders formuliert: die zeitnahe Anpassung der Beschäftigung an die Nachfrage - zu einem Kernpunkt der sozialen Kämpfe. Auch hierzulande hat die neoliberale Rechte die Erleichterung einer "hire-and-fire"-Politik in den Betrieben auf ihre Fahnen geschrieben. Rot-Grün geht einen anderen Weg der "Vermarktlichung". Seine Stationen heißen:

(1) Fördern und Fordern. Dies ist der Ansatz des Job-Aqtiv-Gesetzes: verbesserte Beratung der Arbeitslosen, damit diese ihre Vermittlungschancen "optimieren" können. Daran, dass die Chancen generell miserabel sind, wenn über 4 Millionen Menschen auf der Straße stehen, ändert das nichts.

(2) Privatisierung der Arbeitsmarktpolitik. Die Bundesanstalt für Arbeit - finanziert aus den Beiträgen der Beschäftigten - wird als Instrument der Arbeitsmarktregulierung aufgelöst und nach unternehmerischen Kriterien neu ausgerichtet - mit "unternehmerischen Persönlichkeiten" an der Spitze, während die Gewerkschaften faktisch enteignet werden.

(3) Druck auf die Leistungsbezieher. Dazu ist die Absenkung der Arbeitslosen- auf die Sozialhilfe vorgesehen.

(4) Ausweitung der Niedriglohnsektoren. Die Erwartung: Ist die Arbeit erst billig genug, kann der Dienstleistungssektor wachsen und der Strukturwandel der Arbeitsgesellschaft beschleunigt werden. (5) Investitionen in Humankapital. Wie andere Investitionen auch, sind sie nicht kostenlos zu haben. Die Haushaltskonsolidierung wirkt hier als Schranke, die aber im Fall der Bildungsausgaben niedriger gelegt wurde. Aber auch hier ist sicher: Die Privatisierung schreitet voran - eine qualifizierte Bildung wird künftig entschieden mehr als in der Vergangenheit davon abhängen, was die privaten Haushalte zu investieren in der Lage sind.

Die Krux dieser Politik: Sie vertieft die Gräben, die zwischen relativer sozialer Sicherheit und Reichtum einerseits und prekären Lebensverhältnissen und Armut andererseits verlaufen - nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der Klassen. Sie baut auf Entsolidarisierungsprozesse auf und verstärkt sie. Wolfgang Clement hat dafür die Formel geprägt: Ziel ist nicht mehr Gleichheit im Ergebnis, sondern gleiche Ausgangsbedingungen. Diese Absage an eine umfassende Politik sozialer Gerechtigkeit als klassischem Ziel sozialdemokratischer Politik ist allerdings nicht korrekt: Ergebnisgleichheit war nie Fokus einer linken - sozialdemokratischen oder sozialistischen - Politik. Es ging um die Pluralisierung, nicht die Egalisierung der Lebensverhältnisse. Aber folgenreicher ist, dass die Politik der modernisierten Sozialdemokratie eben keine Chancengleichheit in den Startbedingungen schafft, sondern das Gegenteil, wie ein Blick auf die Wirkungen z.B. von Privatisierungsfolgen im Schul-, Hochschul- und Ausbildungssystem zeigt. Noch ein paar Jahre weiter und wir sind wieder bei der Verteilung der Bildungschancen nach Klassenschranken. Die Zahlen von Arbeiterkindern an den Hochschulen dokumentieren das bereits.

Es gibt eine weitere Krux: Die Vermarktlichungsstrategie der modernisierten Sozialdemokratie sollte auf einer kontinuierlichen Aufwärtsentwicklung der Wirtschaft gründen. Der Strukturwandel der "Dienstleistungsgesellschaft" sollte für eine Nachfrage nach Arbeitskräften sorgen, die im unteren Segment durch subventionierte Niedriglöhne und in den gehobenen Segmenten durch "Humankapitalinvestitionen" (oder Green Cards) marktgemäß zu befriedigen wäre. Doch ein krisenfreier Aufschwung in der langen Frist ist im Kapitalismus eine Fata Morgana. Deshalb bedarf es einer aktiven öffentlichen Investitionspolitik und einer Verteilungspolitik, die Realinvestitionen fördert, indem reine Vermögensinvestitionen diskriminiert werden. Eine gesamtwirtschaftliche Strategie gehört aber neuerdings ausdrücklich nicht zum Politikrepertoire der "Neuen Sozialdemokratie".

Vermarktlichungsstrategien - sei es in der harten neoliberalen oder der korporatistisch moderierenden neusozialdemokratischen Variante - taugen nicht zur Lösung der Hauptaufgabe: des beschäftigungsorientierten Umbaus von Wirtschaft und Gesellschaft. Jahr für Jahr gehen allein in der Berliner Republik durch Massenarbeitslosigkeit 300 Mrd. Euro verloren - um diesen Betrag würde das Bruttosozialprodukt bei annähernder Vollbeschäftigung zusätzlich ökologisch nachhaltig und zukunftsorientiert wachsen können. Es wäre ein Leichtes, damit ein solidarisches Rentensystem und ein solidarisches Gesundheitssystem zu sanieren sowie die soziale und kulturelle Infrastruktur zu erneuern - kurzum: eine wirkliche Erneuerung des Wohlfahrtsstaates zuwege zu bringen.

Konkrete Maßnahmen dafür hat die IG Metall in ihrem Positionspapier zur Bundestagswahl 2002 aufgeschrieben - ein Programm, das den Politikwechsel herbeiführen würde, der nach 1998 ausgeblieben ist. "Im Mittelpunkt der Regierungspolitik stehen nicht Arbeit, Gerechtigkeit und Innovation, sondern die Spar- und Konsolidierungspolitik... Trotz vieler richtiger Einzelmaßnahmen ist es der rot-grünen Regierung nicht gelungen, ein sichtbares, abgestimmtes und die Menschen bewegendes Reformprojekt für Arbeit und soziale Gerechtigkeit zu verfolgen." (www.igmetall.de) Zu Recht wird hervorgehoben: "Eine Wende hin zu einer Politik der Vollbeschäftigung setzt einen grundlegenden Wechsel in der Sichtweise der wirtschaftlichen und sozialen Prozesse voraus." Es wird der Problemlage nicht gerecht, im Bedarfsfall mikroökonomische Rettungsaktionen als wirtschaftspolitischen Aktivismus auszugeben und ansonsten eine Politik der gesteuerten Flexibilisierung und Vermarktlichung zu praktizieren. Aber schon die schlechte Entwicklung auf dem Ausbildungsmarkt zeigt, dass selbst klar begrenzte Verabredungen im Rahmen dieses Politikmix schwer durchsetzbar sind. In den fundamentalen Fragen liegt der Politikansatz der IG Metall und der einer modernisierten Sozialdemokratie weit auseinander. Deshalb spricht auch wenig dafür, dass es zu einem "verbesserten Bündnis ›Zukunft der Arbeit‹" kommt, "das eindeutig der Schaffung von Arbeits- und Ausbildungsplätzen und größerer sozialer Sicherheit dient."

"Auf die eigene Kraft vertrauen" - diese Formel einer autonomen Gewerkschaftspolitik aus den 70er Jahren geht heute nicht mehr so leicht von den Lippen. Zu lange hat das Gift der Massenarbeitslosigkeit im Gesellschaftskörper bereits gewirkt. Dennoch: Die massenhaften Warnstreiks in den Aprilwochen haben gezeigt, dass auch in Deutschland breiter sozialer Widerstand gegen die Durchsetzung eines immer weniger regulierten, flexiblen Kapitalismus vorhanden ist. Mehr noch: dass die Mehrheit der Bevölkerung eine Politik ablehnt, wonach "bisher staatliche Aufgaben auch private Unternehmen und Organisationen oder gar einzelne Bürger wahrnehmen könnten", wie die jüngste Auswertung des Sozio-ökonomischen Panels ergab. Im Klartext: Für Gersters Arbeitsmarktpolitik gibt es keine Zustimmung. Und: Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung geht davon aus, dass Gewerkschaften in Zukunft zur Bändigung des entfesselten Kapitalismus noch wichtiger sein werden als heute. Das sind nicht nur gute Gründe, sondern Verpflichtungen für eine autonome, in den Verteilungsauseinandersetzungen aktive und gesellschaftspolitisch offensive Gewerkschaftspolitik. Der Niedergang der Sozialdemokratie könnte auch der Beginn eines gewerkschaftlichen Aufschwungs sein.