Wider den unsozialen und ökonomisch falschen Sozialabbau
Das sozialistische Forum Rheinland kritisiert in einem Sonderband die sog. "Agenda 2010" und stellt linke Alternativen vor
Vorwort 3I Kritik an der "Agenda 2010" 4
Die faulen Zutaten der "Agenda 2010" 4
Der Fehlschluss bei den Lohnnebenkosten 4
Das falsche Außenhandelsargument 4
Das falsche Binnenmarktargument 5
Das falsche Mittelstandsargument 6
Der Fehlschluss beim Arbeitsmarkt 6
Der Fehlschluss bei den sozialen Sicherungssystemen 7
Zusammenfassung unserer Kritik 8
II Alternativen zur "Agenda 2010" 9
Vollbeschäftigung erwirken! 9
Einnahmen der Sozialsysteme stärken! 9
Steuern erhöhen! 10
Umbau der kommunalen Steuern (bisher Gewerbesteuer)
Wiedereinführung der Vermögensteuer 11
Vermeidung der Steuerumgehung durch Gewinnverlagerung 11
Erhöhung der Steuertarife von Einkommen- und Körperschaftsteuer
Einheitliche Besteuerung aller Einkünfte 11
Verbreiterung der Bemessungsgrundlage 12
Besteuerung unabhängig von der Rechtsform des Unternehmens 12
Aufhebung des Bankgeheimnisses und mehr Steuerkontrollen 12
Europäisch einheitliche Besteuerung 12
Herausgeber: Sozialistisches Forum Rheinland,
mit Unterstützung durch den Verein zur Förderung der politischen Kultur e.V.,
Postfach 210606, 50531 Köln
Redaktion und Layout: Alexander Recht, Hans Lawitzke
Auflage: 600 Exemplare
Schriftenreihe des Sozialistischen Forums Rheinland, Sonderband
Köln, Mai 2003
Weitere Infos im Internet unter:
www.spw-rheinland. de
Die von Kanzler Schröder und seiner rot-grünen Bundesregierung vorgestellte
"Agenda 2010" wird momentan innerhalb der SPD an vielen Orten diskutiert: auf Regionalkonferenzen, in den Ortsvereinen, in den Unterbezirken sowie in den Arbeitsgemeinschaften.
Auch wir - das Sozialistische Forum Rheinland - beteiligen uns aktiv an dieser Debatte. Aus unserer Sicht ist die "Agenda 2010" nicht nur sozial ungerecht, sondern auch ungeeignet, um den sozioökonomischen Probleme von heute und in der Zukunft politisch angemessen zu begegnen.
Daher üben wir in dieser Broschüre nicht nur Kritik, sondern stellen auch Alternativen zur "Agenda 2010" vor, die dazu geeignet sind, die Arbeitslosigkeit spürbar zu reduzieren und die sozialen Sicherungssysteme so zu reformieren, dass sie den Herausforderungen der Zukunft gewachsen sind, ohne dabei die Rechte der lohnabhängig Beschäftigten und Arbeitslosen zu beschneiden.
Wir hoffen, mit unserer Broschüre allen fortschrittlichen Kräften in der SPD, die sich dem falschen Kurs der rot-grünen Regierung widersetzen, hilfreiche Argumente an die Hand zu geben.
Alexander Recht, Hans Lawitzke
für den Vorstand des Sozialistischen Forums Rheinland
Die faulen Zutaten der "Agenda 2010"
Kanzler Schröder und seine rot-grüne Bundesregierung haben mit der "Agenda 2010" ein Maßnahmenpaket vorgelegt, das zum Ziel hat, die Massenarbeitslosigkeit spürbar zu reduzieren, den Sozialstaat den Anforderungen der Zukunft anzupassen und hierbei soziale Gerechtigkeit walten zu lassen. Das Paket umfasst dabei insbesondere folgende Maßnahmen:
_ Kürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes;
_ Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum "Arbeitslosengeld 2" auf dem Niveau der bisherigen Sozialhilfe;
_ Aufhebung der paritätischen Finanzierung des Krankengeldes, das zukünftig nur noch die ArbeitnehmerInnen zahlen sollen;
_ Aufweichung des Kündigungsschutzes durch Nichtanrechnung von befristet Beschäftigten bei der Zahl der Gesamtbeschäftigten.
Wir stellen fest, dass diese Maßnahmen alle gesetzten Ziele verfehlen: Sie verschärfen die Arbeitslosigkeit, statt sie zu reduzieren, sie passen den Sozialstaat nicht den Anforderungen der Zukunft an, und sie sind sozial ungerecht!
Der Fehlschluss bei den Lohnnebenkosten
Die Bundesregierung begründet ihre geplanten Maßnahmen damit, dass hierdurch die Lohnnebenkosten reduziert würden, wodurch Beschäftigung geschaffen werde. Den Kritikern dieser Auffassung, die behaupten, eine Senkung der Lohnnebenkosten schaffe nicht mehr Beschäftigung, hält die SPD-Kampagnenzentrale entgegen:
"Hier spricht schon eine einfache ökonomische Grundregel gegen die Gültigkeit des Arguments: Lohnnebenkosten bestimmen als Teil der Arbeitskosten den Preis für Arbeit. Steigende Preise führen immer zu einer rückläufigen Nachfrage."
Wir weisen diese Argumentation der rot-grünen Bundesregierung als falsch zurück. Entgegen aller Propaganda ist die Arbeitslosigkeit nicht durch zu hohe Arbeitskosten begründet.
Das falsche Außenhandelsargument
Das Außenhandelsargument der Regierung lautet, dass eine Senkung der Lohnnebenkosten die Lohnkosten reduziere, wodurch die mangelnde deutsche Wettbewerbsfähigkeit endlich verbessert werde. Steigende Exportüberschüsse würden dann die Arbeitslosigkeit reduzieren.
Dem halten wir entgegen, dass das Gerede von mangelnder deutscher Wettbewerbsfähigkeit keine reale Grundlage besitzt. Die Wettbewerbsfähigkeit der BRD ist vielmehr ausgezeichnet, was sich auch daran zeigt, dass die BRD noch immer "Vizeweltmeister" bei den Exporten ist.
Entscheidend für die Wettbewerbsfähigkeit sind nämlich nicht die reinen Lohnkosten, sondern vielmehr die Entwicklung der Lohnstückkosten, also das Verhältnis von nominalen Lohnkosten zur Menge der produzierten Waren und Dienstleistungen (sogenanntes reales Bruttoinlandsprodukt) pro Erwerbstätigem. Das reale Bruttoinlandsprodukt pro Beschäftigtem signalisiert dabei die Produktivität einer Volkswirtschaft. Mit anderen Worten: Hohe Lohnzuwächse sind außenwirtschaftlich völlig unproblematisch, wenn die Produktivitätssteigerungen der Volkswirtschaft hoch sind. Genau dies ist in der BRD der Fall. Die Lohnstückkosten in nationaler Währung sind in der BRD deutlich geringer angestiegen als im Durchschnitt der 12 EU-Länder:
Anstieg der LSK in % | 1997 | 1998 | 1999 | 2000 | 2001 |
EU | 0,4 | 0,0 | 1,0 | 1,2 | 2,6 |
BRD | -0,7 | 0,2 | 0,4 | 1,0 | 1,5 |
Das DIW hat daher völlig recht, wenn es feststellt:
"Die jüngste Entwicklung zeigt also, dass zwar die Heterogenität der Lohnentwicklung zwischen den einzelnen Ländern des Euroraums insgesamt nur wenig zugenommen hat, die Lohnentwicklung in Deutschland aber deutlich aus dem Rahmen fällt. Die Löhne bleiben hier so weit hinter dem Durchschnitt des Euroraums zurück wie noch nie seit Beginn der Währungsunion. Deutschland geht bei den Löhnen derzeit gleichsam einen Sonderweg."
Lohnbestandteile - ob direkte Löhne oder Lohnnebenkosten - sind aber nicht nur Kosten, sondern auch Nachfrage: entweder Konsumnachfrage oder aber Ausgaben der Sozialversicherungen. Steigen sie zu schwach, wird die Nachfrage des Binnenmarktes massiv geschwächt. Seit vielen Jahren wird im Binnenmarkt mehr Nachfrage gekürzt, als durch Exportüberschüsse an Nachfrage geschaffen wird.
Daher stellen wir fest, dass die BRD nicht trotz, sondern vielmehr wegen ihrer seit vielen Jahren gepflegten Exportfixierung das Vollbeschäftigungsziel verfehlt hat.
Das falsche Binnenmarktargument
Allerdings besteht der Fehler in der Argumentation der Bundesregierung und großer Teile der Partei nicht nur in der fatalen Exportfixierung zuungunsten des Binnenmarktes.
Darüber hinaus grassiert der Irrtum, dass durch eine Senkung der Lohnnebenkosten die Binnennachfrage selber aktiviert werde. Denn aufgrund der niedrigeren Abgaben würden die Arbeitnehmer mehr konsumieren und die Unternehmen mehr investieren. Dieser Trugschluss wird deutlich im kurz nach der Wahl veröffentlichten Kanzleramtspapier:
"Der Königsweg für mehr Vertrauen und Beschäftigung ist eine Absenkung der (...) Abgabenbelastung. Denn so behalten die Menschen mehr Netto von ihrem Bruttoeinkommen. Sie können mehr konsumieren und mehr sparen, das heißt für das Alter vorsorgen. Lohnsteigerungen können moderater ausfallen, ohne dass dadurch der Konsum belastet würde. Gleichzeitig verbilligt sich der Faktor Arbeit (Abgaben), für die Unternehmen wird es wieder interessanter, mehr Mitarbeiter einzustellen. Es entwickelt sich eine (.) positive Wirkung auf die Investitionen: Unternehmer erwarten, dass die Menschen mehr konsumieren; niedrigere Abgaben verbilligen die mit einem Beschäftigungsaufbau verbundenen Investitionen."
Allerdings wird ein ganz wichtiger Nachfragebestandteil in dieser Argumentation übersehen, nämlich die Sozialausgaben. Lohnnebenkosten reduzieren zwar den direkten, individuellen Konsum der Beschäftigten, aber sie finanzieren den kollektiven Konsum der Lohnabhängigen in Form von Sozialleistungen. Weil Sozialleistungsempfänger durchschnittlich einen höheren Anteil ihres Einkommens direkt konsumieren als die Beitragszahler, steigt bei mehr kollektivem Konsum die Nachfrage per saldo sogar und sorgt multiplikativ für einen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts (wiss. als Haavelmo-Theorem bekannt). Wer wie die Bundesregierung Lohnnebenkosten reduziert, kürzt also die Konsumnachfrage, statt sie zu erhöhen.
Dieser Konsumrückgang wird auch nicht durch eine stärkere Investitionsnachfrage der Unternehmen, die ja durch die Abgabensenkung netto mehr Finanzmittel zur Verfügung haben, kompensiert. Denn Unternehmen orientieren ihre Investitionen primär an ihren Gewinnerwartungen. Diese hängen aber gerade nicht nur von den Produktionskosten, sondern auch vom möglichen Absatzvolumen ab. Der Konsumrückgang signalisiert Absatz- und damit Umsatzminderungen in der Zukunft, die die Kostenreduzierung durch geringere Abgaben wenigstens aufwiegen. Die Investitionsbereitschaft wird also eher konstant bleiben oder gar sinken.
Insgesamt sinkt also die Binnennachfrage, weil der Konsumrückgang nicht durch eine steigende Investitionsnachfrage kompensiert wird. Die Senkung der Lohnnebenkosten verschärft also die binnenmarktbezogene Arbeitslosigkeit, statt sie zu reduzieren.
Das falsche Mittelstandsargument
Ein weiteres Argument behauptet, dass die kleinen Unternehmen unter hohen Abgaben besonders leiden und daher zusätzliche Einstellungen scheuen würden. Würde man die Abgaben senken, stiege angeblich die Bereitschaft der Kleinunternehmen, statt Schwarzarbeit in Gang zu setzen, reguläre Neueinstellungen vorzunehmen.
Abgesehen davon, dass wir den Einsatz von illegal Beschäftigten nicht gut heißen, bestreiten wir aber auch die Richtigkeit des Arguments. Denn gerade diese kleinen Betriebe sind besonders von ausreichender Binnennachfrage abhängig. Die Lohnnebenkosten pauschal zu kürzen würde eben alle Unternehmen entlasten, nicht nur die Kleinunternehmen, und gerade den Absatz der letzteren gefährden.
Was hier Not tut, ist eben keine pauschale Senkung der Lohnnebenkosten, sondern eine Stärkung der Binnennachfrage sowie an die Bedingung des Beschäftigungszuwachses geknüpfte staatliche Zuschüsse für Kleinunternehmen.
Der Fehlschluss beim Arbeitsmarkt
Neben aller untauglichen kostenorientierten Begründung kapriziert sich die rot-grüne Regierung auf das ebenso untaugliche Argument, die Arbeitslosigkeit sei auch durch Inflexibilitäten des deutschen Arbeitsmarktes verursacht. Aus dieser Sicht heraus beabsichtigt die Bundesregierung, den Kündigungsschutz zu verwässern.
Die Arbeitslosigkeit in der BRD wird aber durch zu geringe Nachfrage auf dem Gütermarkt und folglich zu geringe Nachfrage der Unternehmen nach Arbeitskräften und nicht durch Starrheiten am Arbeitsmarkt verursacht. Die großen Überkapazitäten unserer Zeit zeigen, dass die Nachfrage fehlt, um schon bestehende Kapazitäten auszulasten. Wird der Umgang der Unternehmen mit Arbeitskräften flexibler gemacht, bauen die Firmen trotzdem keine zusätzlichen Produktionskapazitäten auf und fragen daher auch nicht mehr Arbeitskräfte nach.
Wie schon die Aufweichung des Kündigungsschutzes der Regierung Kohl wird auch dessen geplante Verwässerung durch Rot-Grün keinen einzigen Arbeitsplatz mehr schaffen, aber die rechtliche Situation der Beschäftigten verschlechtern! Besonders perfide ist der Vorschlag der rot-grünen Regierung, befristet Beschäftigte bei der Beschäftigtenzahl nicht anzurechnen, da gerade im flexiblen Kapitalismus der Einsatz befristet Beschäftigter leider zunimmt und bedauerlicherweise gemäß dem von der rot-grünen Regierung eingebrachten Hartz-Gesetz auch explizit so gewollt ist.
Wir betonen, dass die relative Starrheit des Arbeitsmarktes, also des Arbeits- und Tarifrechts und des Sozialrechts, in einer Wirtschaftskrise einen ökonomischen Vorteil darstellt, weil stabile Löhne und Sozialeinkommen einen allgemeinen Preisverfall und damit eine Deflation verhindern. Wir lehnen daher die Verwässerung des Kündigungsschutzes in jeder Hinsicht entschieden ab.
Der Fehlschluss bei den sozialen Sicherungssystemen
Die Bundesregierung begründet ihre Maßnahmen nicht nur mit dem Ziel der Reduzierung der Arbeitslosigkeit, sondern auch mit vermeintlich notwendigen Strukturveränderungen der sozialen Sicherungssysteme. Kürzung der Sozialleistungen sei notwendig, mehr individuelle Vorsorge sei gerecht.
Der Einnahmen der sozialen Sicherungssysteme finanzieren aber wertvolle Leistungen an die Bevölkerung: Rente im Alter, Gesundheitsversorgung bei Krankheit, Arbeitslosengelder bei Erwerbslosigkeit, Sozialhilfe bei Bedürftigkeit und so weiter. Eine Kürzung kommt also Einschnitten bei wertvollen Leistungen gleich.
Zudem sind stärkere individuelle Vorsorgepraktiken abzulehnen, da private Anlageformen keinen Solidarausgleich kennen und höhere Risiken mit höheren Prämien bestrafen. Arme, Kranke, aber auch Frauen müssen folglich tiefer in die Taschen greifen. Zudem werden Risiken wie Invalidität, Arbeitslosigkeit, Krankheit, Kindererziehung etc. durch private Anlageformen nicht berücksichtigt. Die Ungleichverteilung zwischen Arbeitgebern und ArbeitnehmerInnen nimmt genauso zu wie jene zwischen Personen mit hohem und solchen mit niedrigem Risiko.
Es stimmt jedoch, dass es Finanzprobleme in den sozialen Sicherungssystemen gibt. Das liegt aber daran, dass die Lohnsumme als Grundlage der Einnahmen der Sozialsysteme nicht so stark gestiegen ist, wie es möglich gewesen wäre. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist von 1990 bis 1998 um 38% gestiegen, die Lohnsumme aber nur um 29%. Kurzum: Wären die Einnahmen der Sozialversicherungssysteme im selben Maße gestiegen wie der gesellschaftliche Reichtum, gäbe es viel weniger Finanzierungsprobleme.
Für den unterdurchschnittlichen verlangsamten Anstieg der Lohnsumme gibt es zwei Gründe: Der eine Grund sind zu geringe Lohnsteigerungen. Der zweite ist die grassierende Massenarbeitslosigkeit. Wir stimmen DGB-Chef Sommer zu, wenn er feststellt, dass nicht die Arbeitslosigkeit hoch ist wegen hoher Lohnnebenkosten, sondern umgekehrt die Lohnnebenkosten hoch sind wegen Massenarbeitslosigkeit!
Zuletzt wird seitens der Regierung mit demografischen Veränderungen argumentiert. Oft ist vom Alterslastkoeffizienten die Rede, der sich berechnet als Quotient von Anzahl der Über-60jährigen und Anzahl der Menschen zwischen 20 und 60 Jahren. Dieser Wert ist jedoch nur von geringer Aussagekraft. Denn zum einen muss, wenn schon demografisch argumentiert wird, das Verhältnis der Anzahl der Leistungsempfänger zur Anzahl der Beitragszahler gemessen werden. Zum anderen wird vergessen, dass über die Verteilung der erwirtschafteten Werte zwischen den Generationen weniger der Altersaufbau, sondern eher die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit entscheidet!
Wichtig sind hierbei Investitionen, Ausbildung, Forschung und Wissenschaft sowie besonders technischer Fortschritt, die allesamt Einfluss haben auf die Produktivitätssteigerung einer Volkswirtschaft. Dies mag durch folgende Zahlen illustriert werden: Von 1950 bis 1990 stieg die Anzahl der Erwerbstätigen um 42% an. Das reale BIP stieg im selben Zeitraum aber um 473%. Damit ist die Arbeitsproduktivität in diesem Zeitraum um 302% gestiegen. Das Pro-Kopf- Einkommen kann also erheblich steigen und verschafft so auch die Möglichkeit, steigender Beitragssätze Herr zu werden, ganz abgesehen davon, dass die sinkende Bevölkerungszahl für sinkende Beitragssätze in der Arbeitslosenversicherung sorgen wird.
Vereinfacht gesagt: Wenn die Produktivität sich in den nächsten 20 Jahren verdoppelt, ist es kein großes Problem, wenn jeder Beschäftigte mehr Rentner als heute mit finanziert. Wir halten also fest: Steigende Beitragssätze sind nicht nur für den Arbeitsmarkt unproblematisch, sondern auch für die Lohnabhängigen tragbar, sofern die Lohnsteigerungen mit der Produktivitätsentwicklung wenigstens mithalten.
Zusammenfassung unserer Kritik
Wir lehnen die Maßnahmen der rot-grünen Bundesregierung selbstredend auch deswegen ab, weil sie ungerecht sind und die Lebensverhältnisse der heutigen und zukünftigen Lohnabhängigen - solcher mit und solcher ohne Beschäftigungsverhältnis - verschlechtern.
Wir betonen jedoch, dass diese Maßnahmen auch die anderen formulierten Ziele - Abbau der Arbeitslosigkeit und zukunftsfähiger Umbau des Sozialstaates - deutlich verfehlen. Wir möchten jedoch nicht nur Kritik üben, sondern auch Alternativen formulieren.
II Alternativen zur "Agenda 2010"
Der Mangel an Arbeitsplätzen ist die Kernursache für Arbeitslosigkeit, nicht Vermittlungsschwierigkeiten oder Starrheiten des Arbeitsmarktes. Eine verantwortliche Politik muss daher zum Ziel haben, durch politische Maßnahmen Arbeitsplätze zu schaffen. Wir bestreiten hierbei nicht die Notwendigkeit von Innovations-, Struktur- und Qualifikationspolitik. Kern unserer Politik muss es aber in Zukunft sein, die Aneignung und Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums sowie die Art und Höhe staatlicher Ausgaben in den Blick zu nehmen.
Die Anhäufung von Reichtum in den Händen weniger, die Konsumschwäche breiter Bevölkerungsschichten und die hieraus folgende mangelnde Realinvestitionsbereitschaft des Kapitals sind die Ursache von Arbeitslosigkeit. Wir bestreiten daher, dass die Trennung in Nachfrage- und Angebotspolitik banal sei. Vielmehr meinen wir, dass nach vielen Jahren der Vernachlässigung die Endnachfrage endlich verstärkt Gegenstand politischer Maßnahmen werden muss, um Beschäftigungszuwachs zu erwirken.
Denn notwendig für mehr Beschäftigung ist vor allem ein Anstieg der gesellschaftlichen Erweiterungsinvestitionen. Es fehlt aber nicht an Geld, das investiert werden könnte. Im Gegenteil: Zu viel Kapital kursiert ohne reale Investitionsmöglichkeiten auf den Finanzmärkten und drückt nicht nur die allgemeine Rendite, sondern gefährdet auch durch Spekulationen die Stabilität der internationalen Finanzmärkte. Was fehlt, ist Nachfrage, die reale Investitionen anregt. Die Nachfrage unterer Einkommen wird indes gerade durch Massenarbeitslosigkeit und Sozialabbau geschwächt.
Wir begrüßen daher hohe Lohnabschlüsse und fordern vom Staat, Sozialleistungen für untere Einkommensgruppen auszudehnen. Denn wenn die Konsumnachfrage der mittleren und geringverdienenden Haushalte steigt, folgt der beschäftigungsfördernde Anstieg der Investitionen, der - was elementar wichtig ist - selber wieder Nachfrage schafft.
Um das Investitionsvolumen zu steigern, brauchen wir daher auch Investitionen des Staates in gesellschaftlich sinnvollen Bereichen wie Infrastruktur, Gesundheit, Kultur, Bildung und Ökologie sowie direkte Investitionszuschüsse an solche Unternehmen, die Beschäftigungsaufbau nachweisen können.
Um Vollbeschäftigung zu erkämpfen, sind jedoch im privaten wie auch im öffentlichen Sektor Verkürzung der Wochenarbeitszeit bei vollem Lohnausgleich und Abbau von Überstunden zwingend erforderliche Maßnahmen. Wir stehen an der Seite der Gewerkschaften, wenn sie - wie jetzt die IG Metall in Ostdeutschland - für Arbeitszeitverkürzung kämpfen.
Einnahmen der Sozialsysteme stärken!
Wenn wir die ausgleichende Funktion unserer sozialen Sicherungssysteme sichern wollen, müssen wir dafür sorgen, dass die grundsätzlichen Ursachen des Einnahmeschwundes behoben werden. Bekanntlich ist die Lohnsumme als Grundlage der Einnahmen der Sozialsysteme nicht so stark gestiegen, wie es möglich gewesen wäre. Für den unterdurchschnittlichen Anstieg der Lohnsumme gibt es zwei Gründe:
Der erste ist, wie geschildert, die grassierende Massenarbeitslosigkeit. Der zweite Grund sind zu geringe Lohnsteigerungen. Zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ist Vollbeschäftigungspolitik erforderlich. Um den Anteil der Löhne am BIP zu erhöhen, brauchen wir starke Gewerkschaften. Eine Verringerung der Arbeitslosigkeit und eine höhere Lohnquote würden die Einnahmen der sozialen Sicherungssysteme deutlich stabilisieren.
Weil die Arbeitslosigkeit jedoch noch sehr hoch und der Anteil der Lohneinkommen am BIP gering ist, aber auch, weil in Zukunft diskontinuierliche Erwerbsbiographien zunehmen können, muss der Staat durch Gesetze all jene, deren Anteil am BIP steigt, nämlich Unternehmen und Vermögende, stärker zur Finanzierung der sozialen Systeme heranziehen. Finanzierungsfragen sind Verteilungsfragen! Wir fordern daher folgende Maßnahmen:
_ Einbeziehung leistungsloser Einkunftsarten wie Zinsen, Dividenden, Mieteinnahmen etc. in die Sozialversicherungspflicht, denn die Vermögenden müssen mehr Lasten schultern!
_ Einbeziehung von Beamten, Selbständigen und Politikern in die Solidarsysteme, denn auch diese müssen sich an der Finanzierung sozialer Aufgaben beteiligen!
_ Erhebung einer Wertschöpfungsabgabe für Unternehmen, damit diese - vor allem die kapitalintensiven - stärker an der Finanzierung beteiligt sind.
_ Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenzen, denn es ist nicht einzusehen, dass gerade hohe Einkommen nicht vollständig zur Finanzierung sozialer Leistungen herangezogen werden!
_ Aufhebung der Pflichtversicherungsgrenze bei der Krankenversicherung. Es ist nämlich unsozial, Beziehern hoher Einkommen zu erlauben, sich der Finanzierung dieser Leistungen zu entziehen.
Zu ergänzen sind diese Maßnahmen durch Effizienzsteigerungen bei der Ausgabenseite, etwa durch eine Positivliste der Medikationen oder Förderung von nicht-repressiv ausgelegten Präventionsmöglichkeiten.
Die Bundesregierung argumentiert, dass sich die Bundesrepublik solidarische Sozialsysteme, staatliche Ausgaben und öffentliche Investitionen in diesem Umfang nicht mehr leisten könne. Doch diese Behauptungen sind falsch! Denn selbst in konjunkturell schlechteren Zeiten wie jetzt nimmt der Wohlstand zu - nichts anderes besagt nämlich die Tatsache, dass es Wirtschaftswachstum gibt. Da die Bevölkerungszahl sinkt, folgt aus diesem Wachstum, dass das durchschnittliche Einkommen pro Kopf steigt! Um das öffentlich beeinflusste Investitionsvolumen zu steigern und Leistungen zu erhöhen, muss der Staat nicht nur mehr Einnahmen erzielen, sondern er kann dies auch aufgrund steigenden Reichtums. Wir fordern daher:
Umbau der kommunalen Steuern (bisher Gewerbesteuer)
Die wichtigste Finanzierungsquelle der Kommunen muss auf eine breitere und weniger konjunkturanfällige Basis gestellt werden. Eine Möglichkeit wäre eine kommunale Wertschöpfungsabgabe, weil in der Berechnung der Wertschöpfung mit Löhnen und Zinsen auch weniger konjunkturanfällige Komponenten enthalten sind.
Wiedereinführung der Vermögensteuer
Große Vermögen müssen wieder in die Sozialpflicht genommen werden. Eine gute Möglichkeit besteht darin, einen Steuersatz von 2% auf das Vermögen zu erheben, wobei ein allgemeiner Freibetrag von 350.000 Euro pro Haushalt und ein zusätzlicher Freibetrag von 50.000 Euro je Kind zu gewähren ist.
Dabei muss das Immobilienvermögen, das nicht mehr unterbewertet und folglich gegenüber dem Geldvermögen privilegiert werden darf, realistisch bewertet werden. Eine realistische Bewertung erhält man durch die Ermittlung des Ertragswerts, der auf der Grundlage vergleichbarer Mieten ermittelt wird und das 18-fache der üblichen Jahresmiete beträgt.
Vermeidung der Steuerumgehung durch Gewinnverlagerung
Die Schließung der Steueroasen und das Verbot des steuerschädlichen Wettbewerbs müssen ernsthaft betrieben werden. Ein wichtiger Schritt ist die Abschaffung der weitgehenden Steuerfreistellung von Dividendenzuflüssen aus dem Ausland.
Eine weitgehende Vermeidung der Steuerverlagerung in niedrig besteuerte Länder ist aber auch und vor allem durch eine vollständige Erfassung sämtlicher Einkünfte unabhängig vom Ort ihrer Entstehung (sog. Sitzlandprinzip) möglich. Dazu müssen die entsprechenden Regelungen geändert werden.
Erhöhung der Steuertarife von Einkommen- und Körperschaftsteuer
Statt 25% sollten in Unternehmen einbehaltene Gewinne wie früher mit 40% Körperschaftsteuer belastet werden. Dabei sollten auch Kapitalveräußerungsgewinne von Unternehmen der Steuer unterliegen. Aber auch der Spitzensteuersatz der Einkommensteuer ist deutlich zu erhöhen auf 60%, statt wie geplant auf 42% im Jahre 2005 abzusenken.
Von der Anhebung des Steuerfreibetrages und der Absenkung des Eingangssteuersatzes profitieren auch und insbesondere die Bezieher hoher Einkommen. Wollte man sie nicht netto besser stellen, müsste man den Spitzensteuersatz ohnehin im Vergleich zu 1998, als er 53% betrug, erhöhen. Da wir für Umfairteilung plädieren und die auch 1998 schon bestehende Reichtumskonzentration kritisieren, fordern wir gar eine deutliche Anhebung auf 60%.
Einheitliche Besteuerung aller Einkünfte
Kapitaleinkünfte sind ohnehin fragwürdig, da sie leistungslose Einkommen darstellen. Sie auch noch steuerlich zu privilegieren ist kontraproduktiv. Wir fordern die einheitliche Besteuerung aller Einkünfte - auch aller Kapitaleinkünfte - innerhalb der Einkommensteuer unter Aufhebung des Halbteilungsgrundsatzes.
Ob Dividenden, Zinsen oder Spekulationsgewinne: Alle Kapitaleinkünfte sollten zu den anderen Einkünften hinzuaddiert werden, so dass sich eine einheitliche Besteuerung ergibt. Etwaige Vorauszahlungen durch Körperschaft- oder Zinsabschlagsteuer sollen auf die individuelle Steuer angerechnet werden können.
Verbreiterung der Bemessungsgrundlage
Besteuerungsausnahmen sowie Sonderregelungen im Unternehmensbereich müssen abgeschafft werden, damit die Besteuerung tatsächlich nach der Leistungsfähigkeit erfolgt.
Besteuerung unabhängig von der Rechtsform des Unternehmens
Auch diese Forderung zielt auf den Abbau von Steuervergünstigungen. Grundsätzlich ist nicht einsichtig, warum die Rechtsform von Unternehmen auf die Höhe der Steuern Einfluss haben sollte. Es kommt schließlich vielmehr auf die ökonomische Leistungsfähigkeit an.
Aufhebung des Bankgeheimnisses und mehr Steuerkontrollen
Die Aufhebung des Bankgeheimnisses ist eine notwendige Maßnahme, damit die Finanzämter die Banken zu Kontrollmitteilungen auffordern können und in die Lage versetzt werden, Steuerhinterziehung zu vermeiden und effektive Besteuerung durchzuführen. Die Bekämpfung von Steuerflucht und Steuerhinterziehung erfordert zudem eine personelle Aufstockung der Finanzbehörden.
Europäisch einheitliche Besteuerung
Ein auf ökonomische Konvergenz ausgerichteter Wirtschaftsraum wie Europa wird langfristig in allen Regionen Produktivkräfte mit ähnlicher Leistungsfähigkeit aufweisen. Hier macht es Sinn, über einheitliche Steuern auf allen steuerpolitischen Terrains - persönliches Einkommen, Überschuss von Körperschaften, Verbrauch etc. - nachzudenken.
Eine Vereinheitlichung ist eine gute Möglichkeit, schädliche Steuersenkungswettläufe zu vermeiden. Dabei muss jedoch klar sein: Wir stimmen einheitlichen Besteuerungen nur zu, wenn die sozialen, ökologischen Standards hoch sind; eine Vereinheitlichung nach unten lehnen wir ab. Außerdem müssen Möglichkeiten bestehen, als Reaktion auf nationale Besonderheiten - z.B. Entwicklungsrückstände - auch nationale Steuerregelungen zuzulassen.