Nicht-Ort oder Utopie: Günter Grass’ Danzig

I.
In Günter Grass‘ Roman „Unkenrufe“ wird die Idee eines Versöhnungsfriedhofs entwickelt, auf dem nach ihrem Hinscheiden die ehemaligen Danziger, die die Stadt nach 1945 verlassen mussten, ihre letzte Ruhestätte finden könnten. Während die Helden nach einem entsprechenden Ort suchen, scheint der Erzähler eine mentale Karte Danzigs zu rekonstruieren. Unter anderem finden wir im Text eine Beschreibung der „Vereinigten Friedhöfe“, die vom heutigen Zustand ihres Geländes ausgeht und ihre frühere Lage rekonstruiert: „Das später Park Akademicki genannte Gelände gab zwischen der Poliklinik und der Technischen Hochschule, der parallel verlaufenden Großen Allee und dem zum Krematorium führenden Michaelisweg Raum für den […] Friedhof der katholischen Kirchengemeinden […]; für den sich anschließenden […] evangelischen Sankt Marienfriedhof, auf dessen zum Michaelisweg liegendem Teil das Szpital Studencki gebaut wurde; für den […] evangelischen Sankt Katharinenfriedhof, auf dessen östlichem Teil einige neue Gebäude der vormals Technischen Hochschule, dann Politechnika Gdańska Platz genommen hatten […]. Auch der Urnenfriedhof wurde bis Ende der sechziger Jahre eingeebnet und später als öffentliche Anlage unter dem Namen „Park XXV-lecia PRL“ […] zur allgemeinen Nutzung freigegeben“ (U 56).
Das in dieser Beschreibung gezeichnete Bild hat die Struktur eines umgekehrten Palimpsests. Nicht der alte Friedhof bildet die untere Schicht, sondern die neue, lediglich angedeutete sozialistische Architektur. Auf der sichtbaren, im Text beschriebenen Oberfläche wird die topographische Struktur der „Vereinigten Friedhöfe“ fokussiert. Der Erzähler befindet sich nicht im Gdańsk der Wendezeit, sondern im Danzig vor 1945. Es entsteht der Eindruck, er sehe nach oben, wo er die spätere Schicht des Palimpsestes nur an ihren Konturen erkennt. Es wird ein Ort beschrieben, der nicht mehr existiert, der im Gedächtnis – hier der alten Danziger – dennoch präsenter ist als die zeitgenössische Architektur. Allerdings fehlt es diesem Ort an tragender ideologischer oder auch nur sozialpsychologischer Kraft, die den Namen „Erinnerungsort“ im Sinne von Pierre Nora legitimieren könnte. Das große Gelände im heutigen Zentrum der Stadt, an der sogenannten Großen Allee (Aleja Zwyciestwa), auf dem sich heute u. a. der akademische Park (Park Akademicki), ein Teil der Technischen Hochschule (Politechnika Gdańska) und das akademische Krankenhaus befinden, ist kein „Kristallisationspunkt“ des nationalen Gedächtnisses, weder des deutschen noch des polnischen. Die Friedhöfe, die nach dem Krieg nicht gepflegt wurden und verwahrlosten, wurden erst Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre eingeebnet. Sie sind also nicht völlig aus der Erinnerung der Danziger gelöscht worden. 2002 wurde (an einer anderen Stelle, aber nicht weit vom dem oben beschriebenen Gelände) „Der Friedhof der nichtexistierenden Friedhöfe“ eingeweiht, der die planierten und zerstörten Nekropolen der Stadt symbolisieren soll. Für die alten und heutigen Danziger mag dies ein Erinnerungsort sein, der ihre Identität konsolidiert. Nicht in diesem Sinne hat ihn allerdings Günter Grass in seinem Werk beschrieben. Er zeigte einen wirklichen Ort, der nicht mehr ist und der trotzdem existiert, einen Nicht-Ort und doch einen Ort, dessen abwesende Existenz rekonstruiert werden und – nach einer entsprechenden Deutung – eine Funktion im Bewusstsein der mit diesem Ort verbundenen Menschen bekommen kann.
Danzig oder Gdańsk und Günter Grass als dessen Bürger sollen als exemplarische Beispiele für eine grundsätzliche Frage dienen: Hat sich die ursprüngliche Bedeutung des Utopie-Begriffes verschoben? U-Topos ließ sich als Nicht-Ort im ideellen, übertragenen Sinn übersetzen, als die Vorstellungskraft des Menschen nicht so weit reichte, einen Überseeort als wirklich zu imaginieren. Man konnte also eine fremde Insel als Insel des Glücks zeichnen und sich in ihr das vorstellen, was Adorno als „ein Negatives gegen das Bestehende, und diesem hörig“ (Adorno 1973: 55) beschrieb – so seine Definition der Utopie. Doch auch als in der frühen Neuzeit dank Thomas Morus’ „Utopia“ der Terminus der Utopie entstand, war die wirkliche Existenz des fernen Glücksortes irrelevant. Im Gegenteil, was Adorno im 20. Jahrhundert knapp definierte, war bereits für den sogenannten Staatsroman, ob Morus, Bacon, Campanella oder Andreae, grundlegend. Die Utopie bedeutete die Negation einer negativen Wirklichkeit im Namen einer antizipierten besseren Welt.
Liest man Ernst Blochs Konkretisierungen der Begriffe der Antizipation, des Möglichen sowie des Noch-Nicht-Bewussten und der Vorschein-Ästhetik, dann wird klar, dass die geographische Dimension des U-Topischen im philosophischen Diskurs eine lediglich metaphorische Rolle übernimmt, während die Zeitdimension allerdings eine gewisse Bedeutung behält: „Das Noch-Nicht-Bewußte insgesamt ist die psychische Repräsentierung des Noch-Nicht-Gewordenen“ (Bloch 1985: 143).
Nach Bloch ist Hoffnung das tragende Prinzip der menschlichen Geschichte. In kritischer Abwendung von psychoanalytischen Theorien entwickelt Bloch eine neue Ordnung für Triebgefühle, unterscheidet „gefüllte und Erwartungs-Affekte“ (ebd.: 82) und behauptet, dass der „wichtigste Erwartungsaffekt, der eigentlichste Sehnsuchts- also Selbstaffekt […] stets die Hoffnung“ (ebd.: 83) bleibt. In dieser These wurzeln weitere Reflexionen über das Noch-Nicht-Bewußte und die Antizipation. Bekanntlich widmet Bloch im vierten Teil seines Opus Magnum den literarischen Konkretisierungen des Prinzips Hoffnung – den literarischen Utopien – viel Platz. Doch bilden sie nur einen Teil von Phänomenen in der Kultur ab, die Ausdruck des Hoffnungstriebs sein sollen.

II.
Meine These ist, dass die Nachkriegsliteratur mit Bildern von nicht mehr existenten Orten eine neue Form entwickelt, die dem utopischen Denken und dem „Hoffnungstrieb“ entweder Folge leistet oder sie erneut zur Diskussion stellt. Negiert oder kompensiert werden fehlende oder verlorene Werte wie Integrität beziehungsweise die Identität der Menschen, sinnliche Einheit mit der Natur, Frieden, Sicherheit etc. Die „Kategorie des Möglichen“, von der Wilhelm Voßkamp – Bloch folgend – schreibt, wird als Versuch einer Rekonstruktion des Verlorenen realisiert.
Das Werk von Grass ist in diesem Zusammenhang besonders interessant, denn es nimmt verschiedene utopische Formen auf und geht mit ihnen oft spielerisch um. Terminologisch zwar nicht ganz sauber, doch durch den umgangssprachlichen Gebrauch legitimierbar, lässt sich Grass‘ Anknüpfung an die utopische Tradition „postmodern“ nennen. Einen neuen Staatsroman hat Grass zwar nie geschrieben, doch in vielen seiner Werke findet man Entwürfe von „Gegenwelten“, die unterschiedliche formale Lösungen finden: In „Aus dem Tagebuch einer Schnecke“ wird eine Opposition zur Melancholie entworfen, der Roman „Die Rättin“, der deutliche Anspielungen auf Blochs Hoffnungskonzept enthält, gehört zu den typischen apokalyptischen Visionen der 80er Jahre, „Das Treffen in Telgte“ schöpft aus der Tradition der Gelehrten- oder Dichterrepublik; „Der Butt“ schließlich lässt sich als Utopie einer weiblichen Gemeinschaft lesen, die als alternativer Vorschlag zur männlichen Gesellschaft entworfen wird. Bekanntlich sind viele Werke von Grass in Danzig oder Gdańsk verortet. Die Stadt bekommt nicht selten den Charakter einer von der übrigen Welt abgeschlossenen Insel, deren frühere Bausubstanz zwar so gut wie nicht mehr existiert, doch zu mentalen Rekonstruktionen und Spekulationen animiert – die wirkliche geographische Lage der Stadt ist einem solchen Inselkonzept behilflich.

III.
Im „Butt“ ist Danzig, genauer: der Ort, der sich zur Stadt Danzig entwickelte, das „Gebiet der mündenden Weichsel“ (B 139) der Kristallisationspunkt der erzählten Geschichte. Im zweiten Teil des Romans, im ersten Kapitel von „Wie wir städtisch wurden“ wird über die Entstehung der Stadt und – im Zeitsprung von ca. 600 Jahren – über ihre Zerstörung nach dem zweiten Weltkrieg erzählt: „Darauf setzten sich die Brandenburger fest und mußten mit polackischer Hilfe aus jener Stadt Danzig vertrieben werden, die vom großen Svantopolk im Jahre 1236 als Civitas Danzcik neben der pommerellischen Burg gegründet und mit lübischem Recht ausgestattet wurden. […] Es mußten ein deutscher Durchhaltebefehl, britische Bombenteppiche und die zweite sowjetische Armee unter Marschall Rokossowskij einträchtig wirken, um den seit Jahrhunderten vererbten, zählebigen, hier hinter Prachtfassaden gestapelten, dort armseligen Bürgerfleiß gegen einen noch wochenlang schwelenden Flächenbrand aufzurechnen und ganz Danzig, dessen verwinkelte Alt-, Recht-, Nieder-, Jung- und Vorstadt bis auf das wiederum gebrannte Backsteingemäuer aller Haupt- und Nebenkirchen wie für alle Zeit einzuebnen.“ (B 141f.)
Die glückliche Zeit der Menschheit war die Herrschaft der dreibrüstigen Aua in der Steinzeit: „Nie wieder, als später Zukunft anbrach, sind wir so satt geworden.“ (B 16) Als die Männer – sie heißen alle Edek – allmählich die Macht an sich rissen und die Frauen sie verloren, war die Zeit des Glücks und des Friedens vorbei. Die Männer beginnen, „Metall aus Gestein zu schmelzen“ (B 17), und der Fortschritt lässt sich nicht mehr aufhalten. Wigga gelingt es, die Edeks in Unreife zu halten, doch bald beginnt die Zeit der großen Wanderung; die Männer emanzipieren sich und die Verbannung aus dem weiblichen Paradies beginnt. Die Frauen des Romans, die „neun und mehr“ Köchinnen, bedienten dank ihre Kochkünste die Männerwelt und brachten sie nach Möglichkeit auch zur Vernunft. Doch ihre Möglichkeiten waren bescheiden. Sie konnten manche politische Entscheidungen beeinflussen, sie konnten vergiften und auch totschlagen; den Lauf der Geschichte konnten sie nicht grundsätzlich ändern. Der Butt riet den Edeks, wie man Geschichte macht – dies gestand er in dem Tribunal, vor das er von den Frauen gebracht wurde: Er sei der „Vater des Krieges“ (B 662) gewesen: „Männer stehen und fallen, und zwar bis zum letzten Mann. Männer befürchten den Ernstfall und träumen von ihm. Männer werden für den vorzeitigen Tod gründlich ausgebildet. Männer sind mit dem Tod auf Du und Du.“ (B 664)
Jetzt aber will der Butt – nach Jahrhunderten der Männerherrschaft – den Frauen als Ratgeber zur Verfügung stehen. Der männliche Erzähler erlebt in der letzten Szene des Romans, wie seine Partnerin – die letzte Köchin heißt Maria – mit dem Butt spricht: „Da sprang ihr der Butt, der platte, uralte, dunkle, gerunzelte Butt […] in die Arme. Ich hörte sie sprechen. […] Sie sprachen lange, sie fragend mit hellen Spitzen, er väterlich zuredend. Maria lachte. Ich verstand nichts. […] Es dämmerte schon, als sich Maria mit dem Butt ausgesprochen hatte. […] Dann kam sie langsam […]. Doch nicht Maria kam zurück. Es wird Dorothea sein, sorgte ich mich. Als sie mir Schritt nach Schritt größer wurde, hoffte ich schon auf Agnes. […] Ilsebill kam. Sie übersah, überging mich. Schon war sei an mir vorbei. Ich lief ihr nach.“ (B 697f.)
Der Schluss des Romans legt nahe, dass Auas Zeit, die Zeit des Friedens, der Ruhe und der Sattheit mit der Rückkehr der Frauen an die Macht wieder Wirklichkeit wird. Die antizipierte weibliche Gegenwelt wird bei Grass sehr konkret verortet: an der Ostsee, an der Weichsel-mündung, aus deren Sümpfen sich im späten Mittelalter eine Stadt erhob, die schließlich durch die Bombenangriffe des zweiten Weltkrieges zerstört und nach dem Krieg von Polen zu einer polnischen Stadt erklärt und als solche wiederaufgebaut wurde. Die Stadt, deren Entstehung Grass im „Butt“ rekonstruiert, indem er die Geschichte der hier wohnenden und wirkenden Köchinnen beschreibt, existiert nicht mehr. Sie ist ein Un-Ort, ein Nicht-Ort, dessen authentische Reste in den Vorstädten wie Oliva oder Langfuhr noch zu sehen sind. Der eigentliche Kern der Stadt, die sogenannte Rechtsstadt, auch die Altstadt wurden am Ende des zweiten Weltkrieges sehr schwer beschädigt oder total zerstört, später zwar rekonstruiert, doch nicht immer genau nach alten Plänen. Das Authentische, das Grass versucht zu erinnern, liegt zum großen Teil als Schutt unter den heutigen Straßen und Gebäuden, die als Attrappen die frühere Stadt nachzuahmen versuchen.
Indessen handelt es sich im „Butt“ nicht in erster Linie um den konkreten geographischen Ort, der heute Gdańsk heißt, auch nicht um die nostalgische Erinnerung des Autors an den Ort seiner Kindheit, die Freie Stadt Danzig. Der Roman zeigt, wie der ursprüngliche Glückszustand von ehrgeizigen und aggressiven Männern verdorben wurde und wie die Frauen langsam und mit in Jahrhunderten eingeübter Geduld die Ruhe und den Frieden wiederherzustellen versuchen. Zum Schluss scheint der Versuch zu gelingen. Die Zerstörung der Stadt und ihre Neuentstehung nach dem Krieg fördern den Neuanfang. Die alten Häuser, die über Jahrhunderte Zeugen der politischen Wirren in der Stadt waren, sind aber nicht mehr da, man muss sie sich erst vorstellen, sich der eigenen Imagination hingeben und das heutige Stadtbild damit ergänzen, was unwiederbringlich zerstört wurde – so, wie der Erzähler in der Erzählung „Unkenrufe“ dies tut. Die Geschichte scheint durch das Verschwinden der alten Bausubstanz aufgehoben zu sein. Und dies lässt zu, dass die Zeit der Aua heraufbeschworen werden darf: „Das war eine angenehm geschichtslose Zeit“, berichtet der Erzähler (B17). Die Utopie liegt in der von Grass mythologisierten Vergangenheit; die verloren gegangenen Werte, in deren Namen unsere, die bestehende Wirklichkeit negiert wird, die nichtverwirklichten Normen, die Grass‘ Roman evoziert, heißen Frieden, Sattheit, Ruhe, Zufriedenheit. Insofern negiert „Der Butt“ den ökonomischen und sozialen Fortschritt, der vielen utopischen Entwürfen zugrunde lag. Die soziale Grundlage der Aua-Herrschaft wird als sehr einfach dargestellt: „Die Steinzeitfrauen legten sich, nachdem sie ihre Säuglinge gestillt hatten, ihre Steinzeitmänner an die Brust, bis sie nicht mehr rumzappelten und fixe Ideen ausschwitzten, sondern still dösig wurden: brauchbar für allerlei.“ (B 16)
Die ökonomische Errungenschaft war die Erfindung des Bratspießes, nachdem Aua dem himmlischen Wolf das Feuer gestohlen hatte. Diese primitive und doch ideal friedliche Stein-zeitwelt scheint rekonstruierbar zu sein, weil der Ort, an dem sie einst existierte, an der Weichselmündung nach wie vor besteht und – wie der Roman erzählt – die ganze Geschichte, die seitdem vergangen war, absorbierte. Es reicht, wenn man wie Grass‘ Erzähler Schicht für Schicht abträgt, wozu die Attrappe von heute geradezu einlädt. Der heutige Nicht-Ort wird zur erfüllten Utopie, wenn die Geschichte zurückentwickelt wird. Dies hat der Butt Maria wahrscheinlich in der Schlussszene versprochen.

IV.
Ruhe und Frieden sind die utopischen Werte auch in „Aus dem Tagebuch einer Schnecke“, allerdings ist es nicht die ganze Menschheitsgeschichte, die dem Text ihre Grundlage gibt, sondern einige Jahrzehnte der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Grass erzählt seinen Kindern die Geschichte des Danziger Studienrats Hermann Ott, genannt Zweifel. Auch hier wird über den Verlust von Normen berichtet, deren Kompensation allerdings nicht so eindeutig antizipiert wird wie im „Butt“. Zweifel ist mit Danziger Juden befreundet oder er lebt zumindest in einer selbstverständlichen Eintracht mit ihnen. Dafür wird er bestraft: Er wird aus dem Kronprinz-Wilhelm-Gymnasium entlassen und wechselt an die private jüdische Oberschule von Ruth Rosenbaum. Schließlich muss er aus Danzig fliehen; er überlebt, weil er sich in Karthaus, im Keller des Fahrradverkäufers Stomma und seiner Tochter Lisbeth versteckt. Die Norm, in deren Namen unsere konfliktreiche Wirklichkeit negiert wird, ist genauso simpel wie die stille Dösigkeit der Edeks im  „Butt“: Es ist eine gute Nachbarschaft.
Dank Otts Schnecken-Leidenschaft entwickelt der Text eine ziemlich genaue Einsicht in die Danziger Topographie, denn Ott sammelt überall in der Umgebung Schnecken, nimmt auch Schüler auf Exkursionen mit, dank derer Grass’ Danziger ‚mental map‘ gezeichnet werden kann. Zugleich haben diese detaillierten Beschreibungen die Funktion, ein politisches, soziales und kulturelles Phänomen – das Zusammenleben von Deutschen und Juden, Polen und Kaschuben in der Freien Stadt zu zeichnen. Es ist eine versunkene Welt, die – hier ist der Unterschied zu  „Butt“ sehr deutlich – zur Vergangenheit gehört und nicht mehr zu retten ist. Der Erzähler mythologisiert die Vergangenheit nicht, er rekonstruiert vielmehr. Grass reist nach Israel, wo er die Danziger Juden, die überlebten, besucht, u. a. Erwin Lichtenstein, der das Schicksal der Danziger Juden, von denen sich nur wenige retten konnten, zu dokumentieren versuchte. Lichtensteins Dokumente bildeten für Grass eine wichtige Quelle. Durch sie konnte er authentische Namen, Orte und Ereignisse benennen. Besonders eindringlich wird der Auszug von 500 Juden und der Transport mit dem Frachtschiff „Astrir“ beschrieben. Grass lässt seinen Helden Hermann Ott diese Gruppe von Juden in „der Nacht vom 2. auf den 3. März neununddreißig“ (T 100) verabschieden. Auf der Handlungsebene ist Grass‘ Tagebuch kein utopischer, sondern ein Faktentext.
Doch auch hier, ähnlich wie im  „Butt“, hat die Archäologie, die Grass leistet, eine utopische Funktion. Der philosophische Pate Hermann Otts ist der Danziger Arthur Schopenhauer, dessen „Skeptische Ansicht“ (T 31) Ott sich zu eigen macht. Dies korrespondiert mit Otts Lieblingskunstwerk, Albrecht Dürers Kupferstich „Melancolia I“. Die Melancholie, das Hauptmotiv der Ott-Handlung, wird hier auf überraschende Weise überwunden, nämlich nicht durch Otts positive Lebenseinstellung. Der Erzähler führt eine groteske Lösung ein: Ott setzt der schwermütigen Lisbeth Stomma eine Schnecke an, die ihr die Schwermut aussaugt. Dadurch wird die friedliche Völkervielfalt der Stadt Danzig jedoch nicht wiederhergestellt. Sie kann lediglich – dank der Figur von Hermann Ott – erzählend rekonstruiert werden. Die Hoffnung wird in einer anderen Wirklichkeit und für eine andere Welt signalisiert und als Möglichkeit nicht ausgeschlossen. Der nach dem Schneckenprinzip geplante langsame demokratische Fortschritt, dem sich Grass verschrieb, als er an Willy Brandts Wahlkampf beteiligt war, ist die vage Utopie, die in seinen Aufzeichnungen entwickelt wird. Doch für Danzig und seine Juden, Deutschen, Kaschuben und Polen ist diese pragmatische Utopie nicht mehr geeignet. Denn im sozialen Sinn ist Danzig zu einem mononationalen Ort geworden, in Grass‘ Logik zu einem Un-Ort, dessen einzigartiger Charakter nicht mehr wiederbelebt werden kann.

V.
In der „Rättin“ werden sowohl die rationale Utopie des Fortschritts kleiner Schritte als auch die mythologisierte Hoffnung auf eine Erneuerung der friedlichen Frauenherrschaft negiert. Utopische Entwürfe einer glücklicheren oder besseren Welt werden angedeutet und verwor-fen. Die weibliche Gesellschaftsordnung, deren Wiedergeburt im „Butt“ antizipiert wird, erfährt in der „Rättin“ zwar eine Fortsetzung, doch auch sie findet keine Erfüllung: Der Erzähler lässt fünf Frauen an Bord des Schiffes „Die Neue Ilsebill“ den in der Ostsee versunkenen Frauenstaat Vineta suchen. Sie finden das legendäre Atlantis des Nordens tatsächlich. In dem Moment allerdings, in dem sie in die Tiefe steigen wollen, fallen die Bomben, die sowohl die fünf Frauen töten als auch die ganze Welt zerstören.
Indessen trägt das am Meeresgrund deutlich sichtbare Vineta in Grass‘ Roman Züge, die dem alten Danzig unverkennbar ähnlich sind: „Die Stadt liegt an einem Fluß, der eine Insel bildet, auf der hohe und breite Speicher hinter Fachwerk Reichtum versprechen. Brücken über dem Fluß münden in Tore. Ein wenig hochmütig […] geschmückte Fassaden gegiebelter Häuser. Vielfältig gestufte Simse. Beischläge vor den mit Säulen flankierten Türen. Hier ziert ein Schwan, dort ein güldener Anker, hier eine Schildkröte, dort ein Eberkopf den Hausgiebel.“ (R 309)
Als die fünf Frauen Vineta zum ersten Mal am Meeresgrund erblicken, scheint ihnen die Stadt ein ideales Frauenreich zu sein; viele Symbole weisen darauf hin, dass es eine Gegenwelt zu der patriarchalischen, vom Butt beratenen Männerwelt ist: „Überall entdeckten sie Gehäuse und Plätze, geeignet, die Frauensache auszutragen, das Frauenrecht zu wahren, ihr Frauenreich zu errichten.“ (R 310)
Vineta ist bei dieser ersten Begegnung menschenleer. Als die Frauen hinabsteigen wollen, ist die Stadt belebt. Allerdings, was sie am Meeresgrund als Frauenreich vermuten, wird nicht von Menschen, sondern von Ratten bevölkert: „Ratten sind es, die gassenlaufen, Vineta be-wohnen, ihr Reich errichtet haben. Geschäftig durch alle Tore zum Rathausmarkt hin. Aus dem Frauenhaus raus, ins Schöffinnengericht hinein. Ratten, die in die vielen Kirchen Vinetas strömen oder nach dem Kirchgang vor den Portalen verweilen. Um den Neptunbrunnen, über Brücken zur Speicherinsel, auf Beischlägen, vor Zunfthäusern, Treppen rauf runter, die Türmchen und Türme hoch: überall Ratten.“ (R 313)
Diese Passage gibt einen expliziten Hinweis auf die Ratten-Handlung des Romans: In der von dem Erzähler und der Rättin geschilderten atomaren Katastrophe, die die ganze Welt zerstört, werden wenige Orte – architektonisch und historisch besonders wertvolle Städte – auf eine raffinierte Weise gerettet. Neutronen- und nicht Atombomben verursachen, dass Menschen sterben, die Bausubstanz aber erhalten bleibt. In Gdańsk, das zu diesen auserwählten Orten gehört, siedeln sich nun die Ratten an. Und Ratten sind es, die den Traum der Menschen er-füllen, einen idealen Staat zu gründen. Anders als die Menschen können sie auf ihre individuellen Wünsche zugunsten des Kollektivs verzichten und vernünftig ihren Staat – einen Agrarstaat – verwalten. In Gdańsk-Danzig, wo sie wohnen, geht es nicht konfliktlos zu: Unterschiede zwischen deutschen und polnischen Ratten sorgen für Auseinandersetzungen. Insgesamt jedoch leben die Ratten friedlich miteinander, die Stadt wird vor dem Verfall gerettet und die Landwirtschaft entwickelt sich, so dass sie alle ernähren kann. Es sieht beinahe so aus, dass die in dem „Tagebuch einer Schnecke“ verworfene und im „Butt“ heraufbeschworene Utopie des Friedens und der Ruhe erfüllt wird. Zum Ort der Utopie wird Gdańsk, ehemals Danzig, dessen Bausubstanz zwar erhalten, jedoch nicht so wichtig ist wie seine ländliche Umgebung: „Und ich sah Felder, bis zu den Horizonten: Rüben, Mais, Gerste und Sonnenblumen. Wie schwer sich die Fruchtkörbe neigten. […] Ein schöner Traum…“ (R 386)
Die Ratten werden jedoch aus ihrem Agrarstaat – einer bescheidenen, real existierenden Utopie – von Menschenratten, einem genetischen Experiment, Watsoncricks genannt, verdrängt. Die Watsoncricks gehen aufrecht, haben etwa die Größe eines dreijährigen Knaben – eine Anspielung auf Oskar Matzerath –, sind schwedischer Herkunft und  dementsprechend blond und blauäugig. Das ist ein deutlicher Hinweis sowohl auf die  einfachste und zugleich primitivste Beschreibung der germanischen Rasse als auch auf den von Thomas Mann in „Tonio Kröger“ melancholisch skizzierten Typus des ‚einfachen‘ deutschen Bürgers. Die Parallele der Rattengeschichte zur Menschengeschichte ist unübersehbar. So wie die nicht vollkommen, doch durchaus erfolgreich funktionierende Gesellschaft der Ratten von den überheblichen, nicht kooperierenden Menschenratten, den ‚Überratten‘ zerstört wird, so wurde auch die ursprünglich leidlich funktionierende europäische Gesellschaft von den deutschen Übermenschen zerstört.
Der Begriff der Hoffnung wird im letzten Kapitel des Romans mehrmals explizit zitiert und schließlich zurückgewiesen. Die auf die Rückkehr des Humanen hoffenden Ratten werden schwer enttäuscht. Die Watsoncricks nehmen Besitz von der Stadt und gründen in Danzig ihr eigenes Reich. Bezeichnenderweise wird auch in diesem grotesken Bild auf die Bedeutung der architektonischen Reste der menschlichen Stadt Gdańsk/Danzig Wert gelegt. Doch wird die Funktion dieser ‚Archäologie‘ ad absurdum geführt. Die Menschenratten planen die Gründung eines Museums: „Vorerst im Artushof, später im Rathaus werden wir ein Museum errichten, in dem Überreste aus der Humanzeit zur belehrenden Ansicht gebracht werden sollen. Noch immer gibt euer Müll viel her. Auch sonst blieb in Kellern, Gewölben einiges ansehnlich: Schreibmaschinen, Telefonapparate, eine Filmkamera, ein heiler Volkswagen […]. Und selbstverständlich werden wir, wie schon die Rattenvölker zuvor, alles tun, um die Bau-substanz der Stadt Danzig-Gdańsk zu erhalten.“ (R 466)
Das Museum dient der Aufbewahrung und Verwaltung kultureller Artefakte, die eine wichtige Funktion für die Entwicklung des kulturellen Gedächtnisses einer Gesellschaft haben und dementsprechend werden sie sorgfältig ausgewählt, oft dienen sie einer bewussten Ge-schichtspolitik. Der Kanon, der auf diese Weise entsteht, hat seine Relevanz für die  Entwicklung der kulturellen und schließlich politischen Identität. Es ist also signifikant, dass die Watsoncricks auch die zur Mumien gewordenen Großmutter Koliajczek und ihren Enkel Oskar, die für die Ratten Kultfiguren waren und der heiligen Maria mit Kind entsprachen, in dem neu gegründeten Museum deponieren wollen. Auf diese Weise zerstören sie die letzte Hoffnung, den letzten utopischen Traum der Ratten: den Traum von der Rückkehr des Men-schen nach Danzig-Gdańsk. Denn im Museum dient die Vergangenheit dem Gedächtnis, nicht aber der Utopie. Im Museum wird die Utopie gebannt und domestiziert. Die Vergangenheit ist keine Quelle mehr für die Antizipation von neuen Werten und nicht verwirklichten Normen, sei es Frieden, Sattheit, Ruhe, Zufriedenheit wie im „Butt“, gutes und friedliches Zusammenleben verschiedener Kulturen mit- und nebeneinander, wie in „Aus dem Tagebuch einer Schnecke“. In der „Rättin“ wird die Vergangenheit symbolisch getötet, indem sie in einem Museum eingeschlossen wird.
Der Schluss der „Rättin“ bringt noch Schlimmeres. Die Watsoncricks verdrängen die Haus-ratten, machen sie zu Dienern und Sklaven, schließlich auch zu Futter, bis die Ratten Widerstand leisten und die Menschenratten vernichten – dabei benutzen sie die gusseiserne Solidarność-Aufschrift als Symbol ihrer Rebellion. Somit ist allerdings auch die Unschuld verloren, in der die Ratten nach dem atomaren Desaster ihren friedlichen und gerechten, auf den Einklang mit der Natur bauenden Staat gründeten. Wie der Mensch einst aus dem Para-dies verbannt wurde, so wurde die Ratte, nachdem sie sich an den Watsoncricks vergriffen hat, ihrer Chance auf Erfüllung in einer besseren Wirklichkeit beraubt. So endet der Traum von einer Gegenwelt, in der die besten Eigenschaften der Menschen mit den besten Eigen-schaften der Ratten miteinander korrespondieren sollen. Das letzte Gedicht des Romans macht den Blochschen Begriff der Hoffnung zum Leitmotiv und berichtet davon, wie ‚wir‘, die Menschen, „mit letzter Hoffnung / alles vertan haben.“ (R 486) Der Erzähler versucht, die Rättin noch einmal zu überzeugen, dass die Menschen sich doch zu einer vernünftigen Gemeinschaft konsolidieren können: „… doch diesmal wollen wir füreinander und außerdem friedfertig, hörst du, in Liebe und sanft, wie wir geschaffen sind von Natur ... / Ein schöner Traum, sagte die Rättin, bevor sie verging.“ (R 487)
Mit gleichen Worten antwortete bei Lessing Falk dem Ernst, als der letzte seine „Opus Su-pererogatum“-Utopie entwickelte. Lessings Entwurf einer vernünftigen gesellschaftlichen  Ordnung kann durchaus als Denkanstoß für Grass‘ Vision des Rattenstaates gedeutet werden: „daß es in jedem Staate Männer geben möchte, die über die Vorurteile der Völkerschaft hinweg wären, und genau wüßten, wo Patriotismus Tugend zu sein aufhört […], die dem Vorurteil ihrer angeborenen Religion nicht unterlägen, nicht glaubten, daß alles notwendig wahr sein müsse, was die für wahr erkennen.“ (Lessing 1978: 465) Das von Lessing antizipierte „Opus Supererogatum“ lässt sich mit Blochs Noch-Nicht-Begriff erklären: als eine anzustrebende, doch wahrscheinlich nie voll erreichte höhere Ordnung des menschlichen Zusammenseins.  Nun ist Falks Reaktion, ein „schöner Traum“, anders zu verstehen als die Antwort der Rättin auf die Bitte des Erzählers, den Menschen eine letzte Chance zu geben. Lessings „Opus Supererogatum“ ist ein Ziel, nach dem die Menschen zu streben verpflichtet sind, unabhängig davon, ob sie es erreichen können. Bei Grass wird der „schöne Traum“ als Illusion verstanden  und die Hoffnung als Chimäre, die das Ende der Menschheit nicht zu verhindern vermochte. Die Rekonstruktion der verlorenen Werte und der fehlenden Normen, die Negation der negativen Wirklichkeit im Namen einer besseren Welt, der „Hoffnungstrieb“ werden in der „Rättin“ aufgegeben.

VI.
Danzig-Gdańsk bekommt in Günter Grass‘ Schaffen die Funktion eines Nicht-Ortes, den Grass‘ Erzähler vielfach und aus verschiedenen Perspektiven zum Ort der Hoffnung erklären. In diesem Sinn, als ein Ort, an dem sich in der Vergangenheit Werte wie Ruhe, Frieden, soziale Sicherheit und gute Nachbarschaft erfüllten, lässt sich Danzig als eine rückwärtsgewandte Utopie bezeichnen. Die Negation der Wirklichkeit fällt den Erzählern insofern leicht, als die städtische Bausubstanz eine Attrappe oder Ersatz der einstigen Gebäude und Straßenzüge ist, die Zeugen eines glücklicheren Zustands waren. Die Reste und der Ersatz lassen sich in der literarischen Imagination abbauen, abblättern. Allerdings zeigt sich die Erfüllung der Utopie als eine unerreichbare Aufgabe. Die als Negation der Wirklichkeit entworfenen Gegenwelten werden nicht gezeigt – „Der Butt“ endet mit der Vermutung des Erzählers, dass von nun an die Frauen von dem omnipotenten Fisch beraten werden, und das „Tagebuch einer  Schnecke“ schildert die Welt der Freien Stadt Danzig als eine endgültig untergegangene. In dem einzigen Zukunftsroman Grass‘, dem Roman „Die Rättin“, werden utopische Entwürfe in verschiedenen Varianten ausprobiert: in Anlehnung an den „Butt“ als Frauenstaat, als Agrarstaat der Ratten, auch als Märchenwelt. In allen Fällen münden die Versuche, die Hoffnung als Wirklichkeit darzustellen, in einer Katastrophe. Der Ort der Hoffnung, der Nicht-Ort Gdańsk will sich nicht zur Utopie entwickeln.

Literatur
Grass, Günter: Aus dem Tagebuch einer Schnecke (T). Göttingen: Steidl 1997.
Grass, Günter: Unkenrufe. Eine Erzählung (U). Göttingen: Steidl 1997.
Grass, Günter: Die Rättin (R). Göttingen: Steidl 1997.
Grass, Günter: Der Butt (B). Göttingen: Steidl 1997.

Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973.
Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. In fünf Teilen (Kapitel 1-32), Zweiter Teil. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985.
Lessing, Gotthold Ephraim: Ernst und Falk. Gespräche für Freimäurer. In: Ders.: Werke. Achter Band: Theologiekritische Schriften III / Philosophische Schriften. München: Hanser 1979, S. 451-488.

Erschienen in: Berliner Debatte INITIAL 24 (2013) 2, S. 69-76