Von der europäischen Finanz- und Bankenkrise zur Staatsschuldenkrise
Schlägt man dieser Tage die Zeitungen auf, sind fast täglich neue Horrormeldungen über die europäische Krise zu lesen. Europa ist heute zweigeteilt – einem (noch) stabilen, prosperierenden Norden steht der wirtschaftlich abgehängte Süden Europas gegenüber. Die Arbeitslosenquoten des Südens haben schwindelerregende Höhen erreicht, während sie im Norden, speziell im wirtschaftlichen Schwergewicht Deutschland, auf scheinbar niedrigem Niveau weiterhin sinken. Die Botschaft lautet: Dem Norden, vor allem Deutschland, geht es gut, der Süden muss an seiner Wettbewerbsfähigkeit arbeiten. Was ist geschehen?
Wir erinnern uns: 1992 wurde mit dem Vertrag vom Maastricht die Währungsunion besiegelt. Diese wurde bis 2011 (1999 Deutschland, Frankreich, Italien Belgien, Niederlande, Luxemburg, Österreich, Finnland, Spanien, Portugal, Irland; 2001 Griechenland; 2007 Slowenien, 2008 Zypern, Malta; 2011 Estland) schrittweise eingeführt. Die nationalen Zentralbanken gaben die Hoheit der Geldpolitik an die politisch unabhängige Europäische Zentralbank ab und man einigte sich auf ein europaweites Inflationsziel von knapp unter 2 Prozent. Die bis dato sehr unterschiedlichen Zinsen für Staatsanleihen konvergierten auch für die peripheren Länder Europas (trotz der „No-Bail Out“-Klausel1) binnen kurzer Zeit auf dem deutschen Niveau. Dies führte zu generell steigender Staatsverschuldung und trieb die Inflation im Süden Europas in neue Höhen. 2007 schwappte die US-amerikanische Immobilienkrise über den Atlantik und leitete die europäische Finanzkrise ein. Binnen kurzer Zeit mussten Banken in ganz Europa mit tausenden Milliarden Euro Steuergeldern rekapitalisiert werden, da ihre Abschreibungsverluste das komplette Finanzsystem zum Einsturz gebracht hätten. Die Folge war, dass die Zinsen auf Staatsanleihen sich wieder ausspreizten und neue Höhen erklommen.
Die massive Rettungspolitik ließ die Staatsschulden ab 2008 sprunghaft ansteigen und plötzlich sprach niemand mehr von einer Finanz- und Bankenkrise, die europäische Staatsschuldenkrise war geboren. Einige Staaten, darunter Irland und Griechenland, standen auf Grund der massiven Rekapitalisierungsbedarfe ihres Bankensektors vor dem direkten Staatsbankrott und mussten mit Krediten ihrer europäischen Nachbarn „gerettet“ werden. Seither wildert die so genannte Troika (Europäische Kommission, Internationaler Währungsfond, Europäische Zentralbank) in den betroffenen Staaten und überwacht die Umsetzung der im Zuge der Hilfszahlungen eingeforderten „Strukturreformen“. Das Ziel: Über „Flexibilisierungen“ und „Deregulierungen“ vor allem der „Arbeitsmärkte“ soll die verloren gegangene Wettbewerbsfähigkeit der peripheren Länder und damit der Zugang zum Kapitalmarkt wiederhergestellt werden. Das neu ausgemachte Problem ist also die fehlende Wettbewerbsfähigkeit der peripheren Euroländer mit den Kernländern Europas. Wie es zum so genannten „Verlust der Wettbewerbsfähigkeit“ jener Länder kam und was die Ziele und Folgen der geforderten Flexibilisierungen sind, soll Thema dieses Textes sein.
„Beggar thy neighbour“-Politik2 aus Deutschland – Die monetaristische Wende
Um die Problematik der europäischen Krise in Bezug auf die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Staaten besser zu verstehen, lohnt ein Blick in die Vergangenheit. Vor ziemlich genau 15 Jahren bildete sich in Deutschland mit der Koalition von SPD und Bündnis 90/Die Grünen eine „sozialdemokratische“ Regierung unter der Kanzlerschaft Gerhard Schröders. Mit diesem Regierungswechsel vollzog sich wirtschaftspolitisch in der BRD eine Wende: weg von der nachfrageorientierten (keynesianistischen) hin zur angebotsorientierten (monetaristischen) Wirtschaftspolitik. Die Umorientierung der Wirtschaftspolitik hatte ein Ziel: In der historisch einmaligen Situation einer sich bildenden Währungsunion suchte die deutsche Politik einen Weg, die Wettbewerbsfähigkeit seiner Wirtschaft massiv zu erhöhen und damit einhergehend Marktanteile vor allem auf Kosten seiner europäischen Nachbarn zu gewinnen. Ab 1998 versündigten die DGB-Gewerkschaften zunächst an deutschen und in Folge auch an europäischen LohnarbeiterInnen, indem sie mit dem „Bündnis für Arbeit“ in eine noch stärker korporatistisch geprägte Politik mit Arbeitgeberverbänden eintraten. Das Bündnis hielt bis 2003 und beinhaltete massive Flexibilisierungen des Arbeitsmarktes, die über eine Senkung der Lohnnebenkosten und Aufweichung von ArbeitnehmerInnenrechten die Kosten des Faktors Arbeit für Unternehmen senken und somit die Wettbewerbsfähigkeit erhöhen sollten. Außerdem stimmten die Gewerkschaften weitreichenden Öffnungs- klauseln für Flächentarifverträge zu, welche den Druck auf die Löhne noch erhöhten und somit einen generellen Rückgang des Lohnniveaus einleiteten.
Ab 2003 wurde mit der Agenda 2010 und den „Hartz-Gesetzen“ diese Entwicklung konsequent verschärft weitergeführt. Diese Politik führte zu einer folgenschweren Umwälzung des deutschen Arbeitsmarktes. Der Niedriglohnsektor explodierte geradezu und Formen prekärer Arbeit wie Leih- oder Zeitarbeit nahmen, bei fallendem Reallohnniveau,3 einen immer größeren Stellenwert ein. Diese Entwicklung, in der BRD gerne als „Jobwunder“ betitelt, koppelte einen immer größeren Teil der lohnabhängig Beschäftigten vom Produktivitätszuwachs ab und bildete die Basis des größten Teils des deutschen Wachstums der letzten zehn Jahre. Durch die flächendeckende Lohnsenkung sanken die Preise deutscher Produkte im europäischen Vergleich erheblich, was den Exportboom der letzten Jahre fast gänzlich erklärt. Gleichzeitig nahm die Kaufkraft in diesem Zeitraum nicht mehr zu. Getrieben durch den Export billiger Waren, vor allem nach Europa, wuchs die deutsche Wirtschaft über dem europäischen Durchschnitt und sicherte sich immer größere Marktanteile. Die Stagnation der Binnennachfrage ist seitdem ungebrochen. Die neuesten Zahlen des statistischen Bundesamtes veranschaulichen in diesem Zusammenhang die Absurdität der Vorgänge: Im ersten Quartal 2013 sanken die deutschen Reallöhne um 0,1%, das zweite Quartal erreichte lediglich eine Stagnation bei 0%, während die Reallöhne im dritten Quartal erneut 0,3% unter dem Niveau des Vorjahres lagen. Wenn man die einhellige Meinung in Europa bedenkt, dass die „peripheren“ Länder ein preislich begründetes Wettbewerbsproblem vor allem gegenüber der BRD haben, ist diese Lohnentwicklung ein völliges Desaster. Es ist ein Desaster für sämtliche Lohnabhängigen in Europa, da die noch immer sinkenden deutschen Reallöhne erheblichen Druck auf alle umliegenden Länder und deren Lohnpolitik ausüben.
Fassen wir also kurz zusammen: Während die südeuropäischen Staaten im Vergleich zu Deutschland wesentlich höhere Lohnabschlüsse zu verzeichnen hatten, übten sich ArbeitnehmerInnen in der BRD in erzwungener Lohnzurückhaltung. Dies führte zu massiven Konkurrenzvorteilen der deutschen Wirtschaft und vergrößerte ihre Marktanteile. Statistisch schlägt sich dieser Vorgang in erheblichen Leistungsbilanzüberschüssen4 Deutschlands und starken Leistungsbilanzdefiziten der peripheren Länder nieder. Der Mythos von einer besonderen „deutschen Produktivität“ und hoch technisierten Wirtschaft ist statistisch im Übrigen nicht belegbar. Beispielsweise verglichen mit der französischen Volkswirtschaft sind weder ein höheres absolutes Produktivitätsniveau, noch eine stärkere Produktivitätssteigerung messbar. Als Erklärung für den Gewinn von Marktanteilen gegenüber Frankreich finden sich alleine die Lohnzurückhaltung und die daraus resultierenden relativ niedrigeren Preise des deutschen Wirtschaftsraumes.
Das „deutsche Modell“ wird exportiert
Da es unter den europäischen Staaten also eine völlig ungleich verteilte Wettbewerbsfähigkeit vor allem zur BRD gibt, existieren nun im Grunde aus systemstabilisierender Perspektive zwei Wege, dieses Problem zu lösen. Entweder die BRD senkt ihre Wettbewerbsfähigkeit, indem es die Löhne und damit die Preise ihrer Produkte erhöht. Dies würde automatisch zu steigender Wettbewerbsfähigkeit der Nachbarstaaten führen. Oder die jetzigen Krisenstaaten gehen denselben Weg wie in der BRD und erhöhen ihre Wettbewerbsfähigkeit, indem sie ihre Löhne und damit ihre Preise senken. In Europa wird zurzeit konsequent der zweite Weg gewählt. Das „deutsche Modell“ zum Vorbild nehmend, diktiert die Troika den südlichen Staaten Europas drakonische Umbaumaßnahmen der lokalen Arbeitsmärkte und sozialen Sicherungssysteme. Griechenland befindet sich seit Beginn seiner „Rettung“ in einer permanenten Depression: seit 2008 schrumpfte die griechische Wirtschaft jährlich um 4-8%. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 27%, die Jugendarbeitslosigkeit bei 55%. Und trotz (in Rekordzeit) fallender Löhne ist die griechische Wirtschaft dennoch weit davon entfernt, auch nur ein Promille Konkurrenzvorteil zu gewinnen. Dabei hat das vergleichsweise kleine Griechenland prinzipiell dieselben Wettbewerbsprobleme gegenüber der BRD wie die wirtschaftlichen Schwergewichte Spanien, Italien und Frankreich. Und natürlich haben die Flexibilisierungen und Deregulierungen dort sehr ähnliche Auswirkungen wie in Griechenland: Die Rechte der lohnabhängig Beschäftigten werden massiv beschnitten, das allgemeine Lohnniveau ist rückläufig und die Arbeitslosenzahlen eilen von Rekordhoch zu Rekordhoch (Spanien 26,7%; Italien 12,5; Frankreich 11,0%).
Zum einen ignoriert diese Politik die sozialen Folgen, welche die so genannten Reformen mit sich bringen. Zum anderen lassen sich die Mechanismen der BRD mit ihrem exportgetriebenen Wachstum nicht einfach auf Wirtschaftsräume übertragen, deren Wachstum deutlich stärker von der Binnennachfrage abhängt. Lohndumping zerstört dabei die Lebensgrundlage lohnabhängiger Menschen, was wiederum den Binnenmarkt negativ beeinflusst, von dem gerade diese Wirtschaftsräume in erheblichem Maße abhängig sind. Diese Politik bewirkt also nicht nur nicht was sie bewirken soll, sie stellt auch das „deutsche Modell“ des permanenten Exportüberschusses in Frage: Wenn ein Land in einer Währungsunion ständig Wettbewerbsvorteile akkumuliert und dauerhafte Leistungsbilanzüberschüsse produziert, müssen zwingend die umliegenden Länder, die darüber hinaus die wichtigsten Handelspartner darstellen, permanente Leistungsbilanzdefizite verbuchen. Das erklärte Ziel über Reformmaßnahmen, die Wettbewerbsfähigkeit der südeuropäischen Länder zu stärken, um die Leistungsbilanzsalden wieder ausgeglichener zu gestalten, kann also nur in einer arbeitspolitischen Abwärtsspirale münden. D.h. der Druck in Land A auf die Löhne nimmt zu, um über sinkende Preise Wettbewerbsvorteile gegenüber Land B zu generieren. Der Prozess steigender Wettbewerbsvorteile in Land A übt nun wiederum Druck auf Land B aus, welches den Verlust der Wettbewerbsvorteile mit erhöhtem Druck auf die Löhne und damit Preise zu kompensieren versucht.
Genau diese Abwärtsspirale ist zurzeit in Europa zu beobachten. Die südeuropäischen Staaten und Irland nutzen die komplette Palette der politischen Mittel, um zum einen die Staatsverschuldung zu verringern und zum anderen ihre Wettbewerbsfähigkeit angebotsseitig zu steigern. Weitreichende Flexibilisierungen der Arbeitsmärkte, Ausweitung der Niedriglohnsektoren, Lohnkürzungen sowie Erhöhung des Renteneintrittsalters und tiefe Einschnitte in die sozialen Sicherungssysteme sind Maßnahmen, die der Internationale Währungsfonds von sämtlichen betroffenen Staaten fordert. Diese werden unter dem Druck von Troika und steigender Zinsen auf Staatspapiere zu Lasten der Lohnabhängigen auch nach und nach umgesetzt. Und zur selben Zeit sind die Zuwächse des Nominallohns im wirtschaftlich konkurrenzfähigsten Land der Europäischen Union – der BRD – so minimal, dass nach Abzug der Inflation ein Reallohnverlust zu Buche steht. An dem erwartbaren Höhepunkt der deutschen Lohnentwicklung, nämlich an dem Punkt, an dem über jahrelanges Lohndumping auf dem Rücken der lohnabhängig beschäftigten Menschen die umliegenden Volkswirtschaften systematisch in die Pleite konkurriert wurden, sind die Reallöhne also rückläufig. Die Lächerlichkeit dieses Umstands ist kaum zu überbieten.
Geldpolitisch bewegt sich Europa gerade hart am Rande zur Deflation. Das sinkende Lohnniveau hat den Druck auf die Preise erhöht, diese sind im Fallen begriffen. Da Deflation wirtschaftspolitisch verheerende Auswirkungen u. a. auf die Investitionstätigkeit hat, versucht die EZB mit der lockersten Geldpolitik seit ihrem Bestehen gegenzusteuern. Trotz extrem niedriger Zentralbankzinsen und einer Vollzuteilungspolitik von Krediten nimmt die Investitionstätigkeit allerdings keineswegs zu. Die Idee, einen negativen Zinssatz der so genannten Einlagefazilität5 festzulegen, um die Banken so dazu zu bewegen, mehr Kredite zu vergeben und damit Investitionen anzuregen, hat den Beigeschmack von aufkommender Angst und Ratlosigkeit.
An dieser Stelle ist zu beobachten wohin, der Export jenes angebotsorientierten Dogmas führt. Die weitreichenden Flexibilisierungen, die Lohn- und damit Preissenkungen in großem Umfange führen geradewegs in die Deflation – ein Paradebeispiel für den Irrationalismus der herrschenden wirtschaftspolitischen Ideologie.
Die Währungsunion und ihr zentrales Thema: Die Inflation
Wenn man über die Idee einer Währungsunion nachdenkt, kommt man um das Thema der Inflation nicht umhin. Inflationsraten berechnen sich über den sich jährlich verändernden Wert eines Warenkorbes. Dessen Einzelposten sollen die durchschnittlichen Ausgaben eines durchschnittlichen Haushaltes widerspiegeln. Die wichtigste Größe zur Bestimmung der Inflation sind also die Preise für Produkte und Dienstleistungen. Der zentralste Bezugspunkt der Preise für Produkte und Dienstleistungen sind wiederum die Löhne, die zur Herstellung der Güter gezahlt werden, da die Veränderung von Lohnkosten die Veränderung der Preise am schnellsten und nachhaltigsten beeinflusst. Daraus folgt, dass die Inflationsrate über die Preise für Produkte vor allem von der Lohnentwicklung abhängen sollte.6 Sind die Steigerungen des Nominallohns so gering, dass nach Abzug der Inflation ein Reallohnverlust zu Buche steht, sinkt das Einkommen. ArbeitnehmerInnen können auf sinkende Einkommen nur reagieren indem sie ihre Ausgaben senken – die gesamtwirtschaftliche Nachfrage schrumpft.
Die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft eines Landes bemisst sich vor allem am Preis der angebotenen Güter und Dienstleistungen auf dem Weltmarkt. Sind also die Preise für Güter und Dienstleistungen in Land A höher als in Land B, so hat Land A beim Verkauf vergleichbarer Güter das Nachsehen. Die Wettbewerbsfähigkeit von Land A ist niedriger als die von Land B. Daraus folgt, dass die Wettbewerbsfähigkeit von Wirtschaftsräumen über die Lohnpolitik stark beeinflusst werden kann. Die Unterschiede des Lohnniveaus und damit der Wettbewerbsfähigkeit können zwischen Wirtschaftsräumen unterschiedlicher Währungen mit Hilfe des Wechselkurses abgefedert und gesteuert werden. Sind die Preise eines Landes so stark gestiegen, dass die Wettbewerbsfähigkeit leidet, hat es die Möglichkeit, den Wert der eigenen Währung abzuwerten, um so Wettbewerbsfähigkeit zurückzugewinnen. Diese Option haben Länder einer Währungsunion allerdings nicht mehr.
Hätten die „Väter“ (und wenigen Mütter) der Währungsunion die Idee einer gemeinsamen Währung zu Ende gedacht, wäre augenfällig geworden, dass eine gemeinsame Inflation von ca. 2% ohne massiven Verlust von Wettbewerbsfähigkeit untereinander nur erreicht worden wäre, wenn jedes Land seine Lohnentwicklung an diesem 2%-Inflationsziel (und zwar oberhalb der eigenen Produktivitätsrate) ausgerichtet hätte. Das Problem des europäischen Inflationsziels liegt in seiner Berechnung: Zwar wies die EZB in der Zeit der Währungsunion zumeist passgenaue Inflationsraten von ca. 2% für ganz Europa aus, jedoch bemisst sich diese Zahl am Durchschnitt aller Länder. Über die Inflation des einzelnen Landes sagt diese Zahl nichts aus. Im Zuge der Währungsunion kam es dadurch zwar zu einer etwa zweiprozentigen Inflationsrate im europäischen Durchschnitt, die Lohnentwicklungen und damit die Preisentwicklungen einzelner Länder wichen aber stark von diesem Ziel ab. In südeuropäischen Staaten, vor allem in Griechenland, wurden die Löhne zwar tendenziell (vor allem im Staatsektor) recht schnell erhöht. Dies stellte so lange kein Problem dar, wie sich der griechische Staat wegen der stark gesunkenen Zinsen für Staatsanleihen sehr billig verschulden konnte. Als im Zuge der Finanzkrise die Zinsaufschläge auf Staatsanleihen Höhen um 15-40% erreichten, war eine staatliche Refinanzierung über Staatsanleihen nicht mehr möglich. Bis zu diesem Zeitpunkt war die allgemeine Lohnquote im wirtschaftlich stärksten Land der Union, der BRD, allerdings bereits enorm gefallen, was die erwähnten Wettbewerbsvorteile maßgeblich beeinflusste. Das Problem, die fehlende Wettbewerbsfähigkeit von Staaten heute allein auf falsche Lohnpolitik in den peripheren Staaten zurückzuführen, ist daher einseitig und verkürzt.
Interessanterweise führt die Überlegung über Inflation und Lohnpolitik in einer Währungsunion dazu, dass ein zentraler Baustein des neoliberalen Dogmas, nämlich die gegenseitige Konkurrenz, ad absurdum geführt wird. Da der Auf- und Abwertungsmechanismus innerhalb einer Währungsunion nicht mehr existent ist, verbietet sich der gegenseitige Konkurrenzkampf über Lohnpolitik bereits durch logische Erwägungen. Die einzige Konkurrenz, die noch bestehen dürfte, ist die um Produktivität. Diese könnte jeder Wirtschaftsraum auf individuelle Weise nutzen, denkbar sind Lohnerhöhungen oder Arbeitszeitverkürzungen. Jeder andere Konkurrenzkampf erzeugt unweigerlich eben jene ungleich verteilten Leistungsbilanzsalden, die als zentrales Problem der Wettbewerbsfähigkeit heute so aktuell sind.
Aus der wirtschaftskooperativen Perspektive der „sozialen“ Marktwirtschaft wäre es daher „vernünftig“7 gewesen, wenn jedes Land zur Erreichung von knapp unter 2% Inflation der Währungsunion, seine Löhne um eben jene ca. 2% (über der Produktivitätssteigerung) erhöht hätte. So hätten weder übertrieben inflationäre Tendenzen auftreten, noch deflationäre Tendenzen über schwindende Kaufkraft den jeweiligen Binnenmarkt zerstören können. Als einziges Land der Währungsunion hat Frankreich diese Logik erkannt und fast auf den Prozentpunkt genau umgesetzt. Wegen des Lohndumpings des deutschen Nachbarstaates steht heute dennoch ein massiver Verlust an Wettbewerbsfähigkeit zu Buche.
Der Arbeitsmarkt – Die Bankrotterklärung der Neoklassik8
Die Grundannahme, die den so genannten Reformen auf dem Arbeitsmarkt zu Grunde liegt, ist, dass sich Arbeitsmärkte modellhaft genau so verhalten wie Gütermärkte. Das bedeutet, dass sich Angebot und Nachfrage am Markt treffen und sich ein optimales Gleichgewicht herausbilden sollen. Die den Flexibilisierungen zu Grunde liegende These ist, dass Unternehmen bei einer Absenkung des Preises für Arbeit zunächst beginnen, arbeitsintensiver zu produzieren, was die Beschäftigung erhöht. Weiter lehrt dieses Dogma, dass die Produktion ausgeweitet würde, was sich angeblich ebenfalls positiv auf die Arbeitsmärkte wirken soll. Auf Gütermärkten mag die Idee, dass ein sinkender Preis zu erhöhter Nachfrage führt, noch einleuchtend sein. Wie sich allerdings ein sinkender Preis für Arbeit (also sinkende Löhne) positiv auf die Nachfrage nach produzierten Gütern auswirken soll, sodass Unternehmen auf Grund der Erwartung eines höheren Absatzvolumens ihre Produktion ausweiten und Beschäftigung schaffen, ist der Mythos der Neoklassik. Angebot und Nachfrage scheinen auf dem Arbeitsmarkt also in umgekehrter Reihenfolge voneinander abzuhängen. Nur wenn der Preis für Arbeit prinzipiell im Steigen begriffen ist, ist überhaupt erwartbar, dass der private Konsum steigen und somit Impulse zur Ausweitung von Produktion und Beschäftigung geben kann.
Die ständig geforderten Flexibilisierungen führen im besten Fall dazu, dass die vorhandene Arbeit anders verteilt wird. Dies geht mit dem Abbau von Vollzeitstellen und der massiven Ausweitung prekärer Formen von Arbeit einher. Dass nach diesem postfordistischen Transformationsprozess angeblich formal statistisch mehr Menschen eine Arbeitsstelle haben, sagt weder etwas über die Qualität der Beschäftigung aus, noch darüber, ob sich das Arbeitsvolumen generell erhöht hat. So hat sich bei der Teilung einer Vollzeitarbeitsstelle in zwei Teilzeitstellen die Menge an Arbeitsstellen zwar formal verdoppelt – das Arbeitsvolumen ist allerdings völlig gleich geblieben. Gleichzeitig wurden der Marktdruck allerdings an die Beschäftigten weitergegeben (schlechterer Kündigungsschutz etc.) und die Kosten der Arbeit (also die Löhne) generell gesenkt. Dies führt folgerichtig zu einem erneuten Rückgang der Nachfrage, was wiederum den Ruf nach erneuten Flexibilisierungen laut werden lässt.
Es gibt zahlreiche Statistiken über die insgesamt in einem Wirtschaftsraum geleisteten Arbeitsstunden. Wenn die Theorie, dass ein niedrigerer Preis für Arbeit und besondere Flexibilität zu einer generellen Steigerung des Arbeitsvolumens führt, richtig wäre, müsste sich die Arbeitsstundenzahl zumindest tendenziell erhöhen. Dennoch ist das Arbeitsvolumen selbst in Zeiten des „deutschen Jobwunders“ ständig rückläufig. Und da die jährlichen Produktivitätssteigerungen (ca. 1,5%), in der Vergangenheit fast nie zur Arbeitszeitverkürzung genutzt wurden, können sie diese Beobachtung nur ansatzweise erklären. An der stagnierenden Binnennachfrage ist dieselbe Tendenz ablesbar. Seit der Flexibilisierungsoffensive ab 1998 ist die Binnennachfrage in der BRD nicht mehr gestiegen. Dies ist ein eindeutiges Indiz dafür, dass sich die Senkung des Preises für Arbeit (der Löhne) massiv auf die Güternachfrage ausgewirkt hat. Man kann sagen, dass deutsche ArbeiterInnen in Zeiten des „Jobwunders“ lohntechnisch weit unter ihren Verhältnissen gelebt haben. Der Mythos, dass sich ein Rückgang des Lohnes nicht auf die Binnennachfrage auswirkt, kann nur dann aufgehen, wenn der Lohnausfall auf andere Weise kompensiert wird. Diese Kompensation könnte nur über massenweise Ausweitung von Kredit, also privater Verschuldung, erfolgen. Bedenkt man, dass die US-amerikanische Immobilienkrise sowie die Verschuldungsprobleme in Irland und Spanien vor allem die private Verschuldung zur Ursache hatten, so gewinnt man einen Eindruck davon, wie pathologisch der Glaube an die Neoklassik ist.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die neoklassische Theorie bezogen auf Arbeitsmärkte völlig versagt. Die Senkung von Löhnen und Gehältern und die Flexibilisierungen führen nicht wie gewünscht zu einer Ausweitung des Angebots von Arbeit, da die Senkung des Lohns einen generellen Nachfragerückgang bedingt und sich damit keine Impulse zur Produktionssteigerung ergeben. Einzig die Exporte können in dieser Wirkungskette profitieren, da sich die preisliche Konkurrenzfähigkeit der produzierten Waren erhöht. Dass allerdings die starre Fokussierung von Volkswirtschaften auf den Warenexport in einer Währungsunion aber auch im Weltmaßstab kein Konzept sein kann, ist einleuchtend. Es ist schlicht unmöglich, dass sämtliche Wirtschaftsräume einen positiven Außenhandelsbeitrag zum Bruttosozialprodukt aufweisen, da jedem Güterverkäufer (welcher den Verkauf positiv in seiner Leistungsbilanz verbucht) auch immer ein Käufer gegenüberstehen muss (dessen Leistungsbilanz und haargenau denselben Betrag negativ ist).
Politische Folgen in Europa – Der Rechtsruck
Kleinbürgertum und Bourgeoisie, ständig um den Erhalt ihrer Privilegien bedacht, vollziehen die rechte Wende. So kann es, den gegenwärtigen Entwicklungen nach zu urteilen, keinen Zweifel geben, dass die politischen Gewinner der skizzierten Tendenzen im rechten Parteienspektrum zu suchen sein werden. Diese Tendenz ist schon heute klar erkennbar: Die goldene Morgenröte in Griechenland ist mit knapp 8% im Parlament vertreten. In Österreich stellen rechte Parteien um die FPÖ 30% der Stimmen und Geert Wilders Rechtsaußenpartei ist mit 10% eine weiterhin relevante Kraft. Ganz ähnliche Tendenzen sind in Norwegen (FrP 16,3%)*, Schweden (SD 5,7%)*, Finnland (PERUS 19,1%), Dänemark (DF 12,3%) und Belgien (Vlaams Belang 7,7%) auszumachen. In Frankreich erfreut sich der Front National (bei Präsidentschaftswahlen 17,9%) unter Marine Le Pen wachsender Unterstützung – zuletzt wurden Wahlen in Südfrankreich und einem Pariser Arrondissement gewonnen. Und in Deutschland errang die CSU in Bayern bei der diesjährigen Landtagswahl mit 47,7% die absolute Mehrheit, welche die CDU/CSU-Fraktion9 auf Bundesebene mit 41,5% nur knapp verfehlte. Der Einzug der neu gegründeten marktradikal-sozialchauvinistischen AfD ist mit 4,7% gerade noch gescheitert. Auch auf europäischer Ebene ist der Rechtsruck nicht zu übersehen: Ein Zusammenschluss rechter Parteien auf europäischer Ebene mit der Gründung einer Rechtsaußenfraktion im europäischen Parlament wird zurzeit in Angriff genommen. Die Bildung dieser antisemitischen, antiziganistischen und generell fremdenfeindlichen Koalition im europäischen Parlament gilt als wahrscheinlich, ein allgemeines Erstarken nationalistischer Tendenzen ist jedenfalls ohne Zweifel auszumachen.
Da der Export des deutschen Dumpinglohnmodells (mit all seinen Auswirkungen auf lokale Arbeitsmärkte) auf ganz Europa in vollem Gange ist, besteht leider Grund zur Annahme, dass die Bauernfänger des rechten Parteienspektrums mit ihren grundlegend falschen und verkürzten Schuldzuweisungen (vor allem in Richtung von marginalisierten Bevölkerungsgruppen) auch weiterhin profitieren werden. Es ist sicher nicht vollständig von der Hand zu weisen, dass die deutsche Politik diese Entwicklungen mit ihrer vehementen Forderung nach Deregulierung und so genannter Flexibilisierung in besonderer Weise befeuert.
Kapitalistische Kontinuität: die bürgerliche Klasse revolutioniert die Produktionsbedingungen
Die europäische Krise begann als eine Krise des Finanzsystems. Die konsequente Vergemeinschaftung der aufgelaufenen Schuldtitel hat letztlich auch Staaten an den Rand des Bankrotts getrieben. Auf diese Weise traten die vor allem durch das deutsche Lohndumping verursachten immensen Wettbewerbsunterschiede zu Tage. Wird das Dumpinglohnmodell in Zukunft auf die europäischen Nachbarstaaten übertragen, droht die Finanzkrise zu einer europaweiten Krise der lohnabhängigen Bevölkerung zu werden. Wir erleben zurzeit eine fortwährende Revolution der Produktionsbedingungen. Getrieben durch das Bedürfnis, die eigenen Privilegien zu sichern und zu vergrößern, ist es erneut die bürgerlich-reaktionäre Klasse, die die Veränderungen der Produktionsbedingungen diktiert und vorantreibt. Die Klasse der Lohnabhängigen trägt in diesem Prozess sämtliche Lasten, ihr Einfluss ist geringer denn je.
Um wenigstens den schlimmsten Folgen dieser Transformation zu entgehen, ist eine Kehrtwende nötig. Die bedeutet aus dem Blickwinkel des Ordoliberalismus, dass es, zur Ausgleichung der Wettbewerbsunterschiede, massive Lohnerhöhungen der ArbeiterInnen in der BRD10 geben muss. Gleichzeitig müssen Verbesserungen der Lebensstandards der übrigen Länder angegangen werden. Der Weg, das skizzierte Dumpinglohnmodell zu europäisieren, führt zu sozialer Not und Elend – Umverteilungen von oben nach unten sind zwingend geboten. Dass diese Forderungen weit entfernt davon sind, echte Systemkritik zu üben und die Produktionsbedingungen grundlegend zu ändern, sondern lediglich Symptome lindern können, ist leider richtig und benennt die Schwäche dieses Textes. Dennoch muss klar sein, dass eine „Reform der Reformen“, unmöglich ist – der Ordoliberalismus kann nie die Lösung sein. Dieses bürgerlich links-liberale Mantra muss überwunden werden. Das kapitalistische System ist mitnichten nur krisenanfällig, es ist die Krise selbst. Dabei zeigt sich der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit am Beispiel der Eurokrise mal wieder mustergültig. Alleine der sozialrevolutionäre Zusammenschluss der Arbeiterklasse kann es leisten die unvernünftige und konkurrenzgetriebene kapitalistische Produktionsweise zu beenden und die Klassengegensätze aufzuheben.
Anmerkungen:
[1] ↑ Die „No-Bail Out“-Klausel wurde in Art. 125 des Vertrags über die Arbeitsweise der europäischen Union eingefügt. Sie besagt, dass ein Euro-Teilnehmerland nicht für die Verbindlichkeiten eines anderen Landes aufkommen darf. Diese Klausel wurde von Anfang an nicht ernst genommen. Potentielle „InvestorInnen“ spekulierten von Beginn an darauf, dass diese Vertragsklausel nicht eingehalten und Verluste sozialisiert werden würden. Dadurch kam es dazu, dass die Zinsen für Staatspapiere sämtlicher Euroländer, trotz unterschiedlichster Rahmenbedingungen, auf dasselbe niedrige Niveau fielen.
[2] ↑ Etwa: Eine Politik die zum Ziel hat, „seine Nachbarn auszuplündern“. Darunter versteht man den Versuch eines Landes, möglichst große Exportüberschüsse zu generieren. Dies geht zu Lasten der Handelspartner, da diese nun einen Importüberhang aufweisen. Diese Politik kann verheerende Folgen für die lokalen Arbeitsmärkte und die Verschuldungsquote von Staaten haben.
[3] ↑ Reallohn: Misst die Kaufkraft des Lohnes. Er berechnet sich über den Nominallohn abzüglich der Inflation. Nominallohn: Der tatsächlich ausbezahlte Lohn.
[4] ↑ Mit der Leistungsbilanz werden alle Bewegungen von Waren und Dienstleistungen zwischen Ländern gemessen. Sie stellt also dar, wie viel von einem Wirtschaftsraum importiert bzw. exportiert wurde.
[5] ↑ Ein Zins, den Banken von der EZB bekommen, wenn sie überschüssige Liquidität dort parken (zurzeit 0%)
[6] ↑ Die hier gewählte Darstellung bezieht sich lediglich auf ordoliberale Wirtschaftsvorstellungen, gibt daher in keinem Fall das angestrebte „Ideal“ wider.
[7] ↑ „Vernünftig“ ist hier nicht aus sozialrevolutionärer Perspektive zu verstehen, sondern spiegelt lediglich die scheinbare Logik, von ordoliberalen Wirtschaftsvorstellungen ausgehend, wieder.
[8] ↑ Unter Neoklassik versteht man verschiedene wirtschaftswissenschaftliche Ansätze ab der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Neoklassische Modelle unterstellen in aller Regel „vollkommene Märkte“ und das Dogma des „homo oeconomicus“.
[9] ↑ Gerade die CDU/CSU tut sich im Rahmen der bevorstehenden erweiterten Freizügigkeit der EU mit besonderer Hetze gegen MigrantInnen aus Rumänien und Bulgarien hervor. Sprachlich werden hier antiziganistische Vorurteile mit der „Unfinanzierbarkeit von Einwanderung in das deutsche Sozialsystem“ verkleidet.
[10] ↑ Der beschlossene Mindestlohn in Deutschland ist in diesem Zusammenhang nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Der einzige Hoffnungsschimmer ist, dass er zum Vorbild dienen und generell höhere Lohnabschlüsse einleiten könnte. Diese Hoffnung erscheint angesichts der herrschenden Machtverteilung leider verschwindend gering.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Direkten Aktion #221 - Januar / Februar 2014