Die Streikzahlen in Deutschland sind deutlich gestiegen. Außerhalb von Tarif- und Abwehrkämpfen sieht es aber mau aus
1726 Jahre Streik, also seit 287 n. Chr., als der römische Kaiser Maximianus germanische Stämme zurückdrängte, bis heute, wo die deutsche Regierung die Sparpolitik Europas diktiert – so viele Jahre würden die etwa 630.000 Ausfalltage aneinander gereiht ergeben, die es Schätzungen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung zufolge im vergangenen Jahr in Deutschland aufgrund von Streiks gegeben hat. Rund 1,2 Millionen Beschäftigte, vor allem aus der Metallindustrie und dem öffentlichen Dienst, sollen sich dem WSI zufolge 2012 an Streiks und Warnstreiks in Deutschland beteiligt haben, ein deutlicher Anstieg im Vergleich zu lediglich 180.000 Streikenden 2011. Das wirkt beeindruckend, aber natürlich sagt dies wenig aus, zumal auch weniger als einen Tag dauernde Arbeitsniederlegungen gezählt werden.
Doch auch wenn sich das Arbeitskampfvolumen nach einem kurzen Höhepunkt 2006 und 2007 in den letzten drei Jahren wieder erhöht hat, bleibt Deutschland im internationalen Vergleich weiterhin eines der streikärmsten Länder. Der Arbeitskampfforscher Dr. Heiner Dribbusch vom WSI kommt für Deutschland 2012 auf 17 Ausfalltage pro 1000 Beschäftigte, 2011 sollen es nur 8,3 und 2004 bis 2010 im Jahresdurchschnitt 15 Ausfalltage auf 1000 Beschäftigte gewesen sein. Die Bundesagentur für Arbeit (BfA) kommt für Deutschland sogar nur auf durchschnittlich vier Ausfalltage pro Jahr von 2004 bis 2010. Weniger gestreikt als in Deutschland wurde 2004 bis 2010 Statistiken der International Labor Organisation (ILO) zufolge dann nur in der Schweiz (3 Tage) und Österreich (0 Tage), während es beispielsweise in Frankreich (162), Kanada (145) und Dänemark (123) im Durchschnitt weit über 100 Ausfalltage pro Jahr und 1000 Beschäftigte in diesem oder einem vergleichbaren Zeitraum gab.
Die Berechnungen von Dribbusch unterscheiden sich deutlich von denen der BfA, die für jedes Jahr weitaus geringere Zahlen angibt. Die Gründe hierfür sind unterschiedliche Erfassungsgrenzen, die unter anderem mit der Betriebsgröße, Dauer des Streiks und Anzahl der Ausfalltage zusammenhängen. Einige regionale und lokale Warnstreiks werden nicht immer erfasst, wenn sie unter bestimmten Grenzen liegen, oder Streiks werden gar nicht erst gemeldet. Das ist allerdings nicht nur in Deutschland ein Problem, auch in anderen Ländern gibt es Erfassungsgrenzen und Lücken. Je nach Erfassungsmethode dürften die tatsächlichen also von den offiziellen Streikzahlen abweichen. Doch selbst dann dürfte sich an der im internationalen Vergleich schlechten Streikposition Deutschlands wenig ändern. Wichtiger als die Zahl der Streiks und Ausfalltage ist vielmehr, ob sich an den Arbeitsbedingungen der Beschäftigten etwas verbessert hat.
Die realen Tariflöhne sind dem WSI zufolge seit 2000 tatsächlich um 6,9 Prozent gestiegen. Das ist schön für die Beschäftigten, die um Tarifverträge streiken. Da immer mehr Mantel-, Flächen- und sonstige Tarifverträge gekündigt werden, dürfte die Zahl der Streiks um Tarifverträge weiterhin hoch bleiben. Das zeugt aber nicht unbedingt von einer Stärke der Gewerkschaften. In vielen Fällen handelt es sich um sogenannte Abwehrstreiks, bei denen es nur darum geht, weitere Verschlechterungen zu verhindern. Außerhalb von Tarifverhandlungen ist nach dem deutschen Arbeitsrecht kaum ein Streik möglich, denn Streiks, die von keiner tariffähigen Partei, zum Beispiel einer Gewerkschaft, geführt werden, gelten als rechtswidrig. Für durch die Arbeitsniederlegung entstandene Einbußen auf Arbeitgeberseite können unter anderem Schadensersatzforderungen geltend gemacht werden. Vor allem für das Führen von sogenannten politischen Streiks und Generalstreiks ist das ein bedeutendes Problem (siehe Hintergrund-Artikel). Für nicht abhängig Beschäftige und diejenigen, die nicht nach Tariflohn bezahlt werden, sieht es also schlecht aus. Einer Mitteilung des WSI vom Februar zufolge sind die Reallöhne in Deutschland 2012 sogar im Durchschnitt um 1,8 Prozent niedriger als noch 2000, auch wenn seit 2009 einige Verluste wieder ausgeglichen wurden. Wirtschafts- und sozialpolitische Programme und Maßnahmen wie die Agenda 2010 trugen bedeutend zum Sinken der Reallöhne und einer allgemeinen Verschlechterung der Arbeitsbedingungen wie auch der Situation von Erwerbslosen bei. Streiks um Tarifverträge reichen nicht aus, um daran etwas zu ändern.
Dieser Artikel ist erschienen in der Direkten Aktion #217 - Mai / Juni 2013