Ein Interview mit Basar Gerecci von der Stadtteilgruppe Megafonen
Ende Mai kam es in Stockholm zu mehrtägigen Unruhen mit über hundert ausgebrannten Autos, Angriffen auf Polizeidienststellen und nächtelangen Straßenschlachten. Schauplatz waren vor allem migrantische Stadtviertel, in Schweden als „Vororte“ bezeichnet und mit den französischen Banlieues vergleichbar: Siedlungen am Rande der Städte, die von gesellschaftlicher Isolation, hoher Arbeitslosigkeit und mangelnder sozialer Infrastruktur geprägt sind. Die Unruhen im Mai 2013 waren nicht die ersten dieser Art in Schweden, doch hatten sie einige spezielle Merkmale. Zu diesen zählte die Rolle, die in den letzten Jahren gegründete Stadtteilgruppen spielten, vor allem Megafonen in Husby. Megafonen rief am 14. Mai, nachdem in Husby ein 69-jähriger Mann bei einem Polizeieinsatz erschossen worden war, zu einer Demonstration gegen Polizeigewalt auf und fungierte während der Unruhen als eine Art mediales Sprachrohr für die BewohnerInnen des Viertels, von dem sich die Unruhen auf andere Vororte ausdehnten. Für die Direkte Aktion unterhielt sich Gabriel Kuhn mit Basar Gerecci, einem der Mitbegründer der Gruppe.
Der Tod eines eines 69-jährigen Mannes während eines Polizeieinsatzes in Husby wird oft als Anlass für die Unruhen im Mai angeführt. Es vergingen jedoch fünf Tage, bis es zu den ersten Sachbeschädigungen und Auseinandersetzungen mit der Polizei kam.
Das ist richtig. Warum das so war, kann ich nicht genau sagen. In gewisser Hinsicht war der Tod des Mannes sicher der Auslöser der Unruhen, aber die eigentlichen Gründe liegen tiefer. Vielleicht wäre dieser Tod, wie so oft, einfach vergessen worden, hätten wir ihn nicht zum Thema gemacht.
Ihr rieft zu einer Demonstration gegen Polizeigewalt auf. Viele haben euch deshalb für die Unruhen verantwortlich gemacht.
Wenn wir zu einer Demonstration aufrufen, sind wir nicht für das Anzünden von Autos verantwortlich. Die Demonstration und unsere Forderungen nach einer unabhängigen Untersuchungskommission und einer Entschuldigung der Polizei waren angemessen.
Es war nicht das erste Mal, dass es in Schweden zu Unruhen dieser Art kam. Warum war dieses Mal das Medieninteresse so groß?
Erstens spielte sich das Ganze in Stockholm ab, und die Medien sind immer schnell zur Stelle, wenn etwas in der Hauptstadt passiert. Zweitens dehnten sich die Unruhen auf mehr Vororte aus als sonst. Und drittens wollten auch wir eine öffentliche Debatte haben – die Probleme der Vororte müssen diskutiert werden.
Euch wurde vorgeworfen, Öl ins Feuer zu gießen.
Wenn jemand Öl ins Feuer gegossen hat, dann die Polizei. Es war unglaublich, mit welcher Aggressivität sie während der ersten Auseinandersetzungen aufgetreten ist. Viele Menschen waren schockiert. Auch ich. So etwas habe ich mir in Schweden nicht vorstellen können.
Richteten sich die Proteste in erster Linie gegen Polizeigewalt?
Die an den Protesten Beteiligten hatten unterschiedliche Motivationen. Polizeigewalt spielte sicher eine wichtige Rolle. Aber grundlegender sind soziale Probleme.
Die da wären?
Die schwedische Gesellschaft ist enorm gespalten. Schweden ist ein reiches Land und es gibt keine „Ghettos“, wie wir sie von anderen Ländern kennen. Doch es gibt enorme Unterschiede zwischen den Menschen, die Macht und Einfluss haben, und denjenigen, denen jede Macht und jeder Einfluss fehlen. Viele der in Schweden lebenden Menschen fühlen sich nicht wertgeschätzt und aus der schwedischen Gesellschaft ausgeschlossen. Der Sozialabbau, der die Vororte besonders hart trifft, verstärkt dieses Gefühl.
Das entspricht nicht dem Bild von Schweden, das viele Menschen haben.
Dass dieses Bild angekratzt wurde, halte ich für eine der positivsten Konsequenzen der Ereignisse der letzten Wochen. Schweden ist nicht das heile Land allgemeiner Wohlfahrt, für das es oft gehalten wird. Diese Vorstellung ist veraltet.
Die Lage in Schweden hat sich verschlechtert?
Es gibt an der Vergangenheit nichts zu verherrlichen, aber die sozialen Spannungen sind um vieles stärker geworden, seit die Regierung einen streng neoliberalen Kurs verfolgt. Auch der Rassismus ist am Steigen, was nicht zuletzt die Erfolge der Schwedendemokraten bestätigen: sie zogen bei den letzten Wahlen ins Parlament ein und werden ihren Stimmenanteil bei den Wahlen im nächsten Jahr wahrscheinlich vergrößern.
Wann und warum wurde Megafonen gegründet?
Wir gründeten uns im Jahr 2010, als immer deutlicher wurde, dass die Politiker an der Lösung der sozialen Probleme, mit denen wir in den Vororten zu kämpfen haben, nicht interessiert waren. Wir versuchen daher, selbst zu positiven Veränderungen beizutragen, aber auch Druck auf die Politiker auszuüben, damit sie ihrer Verpflichtung nachkommen: nämlich den Menschen, die sie gewählt haben, zu dienen.
Habt ihr damit Erfolg?
Ja, aber es ist ein harter Kampf. Auf jeden Fall hat sich das Diskussionsklima verändert. Das zeigte auch die Situation während der Unruhen.
Es wurden immer wieder Distanzierungen von den Brandstiftungen und den Straßenschlachten von euch eingefordert. Ihr habt dies verweigert. Warum?
Solche Distanzierungen sind leere Gesten. Sie sind Teil des politischen Spiels, aber sie ändern nichts. Was uns interessiert, ist eine Auseinandersetzung mit den Gründen, die zu dem führen, was wir im Mai erlebt haben. Warum kann so etwas geschehen? Und was muss getan werden, damit es nicht notwendig ist, Autos anzuzünden, um auf soziale Probleme aufmerksam zu machen? Wer sich darüber unterhalten will, mit dem sprechen wir gerne.
Ihr habt in Zusammenhang mit den Unruhen von einer „Revolte“ gesprochen. Was meintet ihr damit?
Wir wollten klar machen, dass die Ereignisse in einem politischen Kontext zu verstehen sind. Zu sagen, dass es sich nur um „Hooliganismus“ oder „Zerstörungswut“ handelt, ist Quatsch und hilft niemandem weiter.
Welche Rolle spielte Megafonen während der Unruhen?
Wir waren vor allem medial aktiv. Es war wichtig, Perspektiven aus den Vororten in die öffentliche Debatte miteinzubringen.
Damit wart ihr sehr erfolgreich.
Ja, wir sind recht zufrieden. Der Druck war enorm. Auf einen Medienansturm dieser Art waren wir nicht vorbereitet. Expressen und Aftonbladet, die zwei größten schwedischen Tageszeitungen, sendeten tagelang im Web-TV live aus Husby. Wir bekamen Interviewanfragen aus der ganzen Welt. Aber wir haben uns durchgekämpft und sind als Organisation gewachsen und stärker geworden.
Was sind jetzt, nachdem die Unruhen abgeklungen sind, eure nächsten Ziele?
Einerseits wollen wir einfach die Arbeit weitermachen, die wir bisher getan haben: die Verteidigung der sozialen und gemeinschaftlichen Strukturen in unserem Vorort, die Organisierung von Aktivitäten für Jugendliche und von öffentlichen Diskussionsveranstaltungen sowie unabhängige Medienarbeit. Megafonen ist mittlerweile nicht nur in Husby aktiv, sondern in mehreren Vororten Stockholms. Andererseits haben wir aufgrund der Aufmerksamkeit, die uns während der Unruhen zukam, zukünftig auch die Möglichkeiten, uns in breitere politische Diskussionen einzuschalten.
Welche Themen sind dabei für euch von besonderer Bedeutung?
Persönlich bin ich davon überzeugt, dass sich die grundlegenden Probleme, mit denen wir es zu tun haben, nicht mithilfe von Reformen beseitigen lassen. Wenn wir uns jedoch an den bestehenden politischen Rahmen halten, dann sind die Prioritäten Ausbildung und Arbeitsplätze. Die Schulen in den Vororten sind eine Katastrophe, und es ist für viele Menschen unserer Stadtviertel unmöglich, eine Anstellung zu finden. Wie soll das Gefühl der gesellschaftlichen Isolation verschwinden, wenn sich das nicht ändert?
Hat die Rolle, die ihr während der Unruhen gespielt habt, eure Position lokal gestärkt?
Alles in allem ja, glaube ich, obwohl dies kompliziert ist. Natürlich gibt es auch in Husby Menschen, die unsere Haltung nicht teilten. Aber ich glaube, es gibt im Allgemeinen viel Respekt für das, was wir getan haben. Gleichzeitig liegen die Ereignisse noch nicht einmal zwei Wochen zurück, und wir müssen noch viel diskutieren und analysieren, bevor wir Genaueres dazu sagen können.
Zum Weiterlesen:
In der Nr. 31 (Juli) der Gâi Dào erscheint ein allgemeiner Überblick über die Ereignisse in Stockholm.
In der Nr. 585 von analyse & kritik (ak) erscheint der Text „An eine Nation in Flammen“, den die Gruppe Pantrarna, die „Schwesterorganisation“ von Megafonen in Göteborg, anlässlich der Unruhen verfasst hat.
Auf www.alpineanarchist.org findet sich (auf Englisch) auch ein Interview mit Mitgliedern der Pantrarna zu den neuen migrantischen Stadtviertelgruppen in Schweden und deren politischer Bedeutung.
Das Interview ist zuerst erschienen in der Direkten Aktion #218 - Juli / August 2013