Erlösung aus der Sklaverei

Zu Dick Boers biblischer Theologie

Trotz alledem

»Erlösung aus der Sklaverei«: diese Worte aus einem Lied der niederländischen Arbeiterbewegung treffen haargenau, worum es in der Bibel geht. Es könnte ein Zitat sein, so nahe kommen sie dem Kernsatz der Tora, die das ›Grundgesetz‹ bildet für das, was die von der Bibel Angesprochenen glauben können, tun sollen und hoffen dürfen. Dieser Kernsatz lautet: »Ich JHWH bin dein Gott, der dich ausziehen ließ aus dem Land Ägypten, aus dem Haus der Sklaverei.« (Exodus 20,2) So beginnt Dick Boer sein Buch (2008, 3),1 dessen Titellosung »Erlösung aus der Sklaverei« das leitende und bestimmende Zentrum bleibt.

Das Werk, das der Niederländer in einem glänzenden und an gelungenen Metaphern reichen Deutsch geschrieben hat, stellt einen eindrucksvollen Beitrag zu einer europäischen Befreiungstheologie dar, die von Theologinnen und Theologen wie Helmut Gollwitzer, Dorothee Sölle, Georges Casalis und den jüngst verstorbenen Giulio Girardi geprägt wurde. Brauchen wir überhaupt noch eine befreiende Theologie für Europa? Wem soll sie Mut machen, wer will sie hören? Sind nicht dank einer unheiligen Allianz von reaktionären politischen Regimen und christlichen Kirchen (wobei sich die vatikanischen Behörden besonders hervorgetan haben) befreiungstheologische Versuche von Beginn an so hartnäckig bekämpft und diffamiert worden, dass sie in den letzten zwanzig Jahren an Wirksamkeit, Strahlkraft und Hoffnungspotenzial bei großen Teilen von Kirche und Gesellschaft beträchtlich eingebüßt haben? Noch schlimmer ist es dem Sozialismus mit seinen verschiedenen Strömungen und Ausprägungen ergangen, der nach 1989 für tot erklärt wurde, wogegen sich auch viele seiner einstigen Anhänger nicht gewehrt haben. Lange Zeit schienen seine siegreichen Gegner den noch verbliebenen bekümmerten Anhängern bestenfalls Trauerarbeit zuzugestehen. Gerade von Christen, die sich zum Sozialismus bekannten und bekennen, wurden in Staat und Kirche nur noch zerknirschte Schuldbekenntnisse oder völliges Schweigen erwartet.

Statt angesichts solch erniedrigender Zumutungen die bittere Lehre einer aufgeklärten Resignation zu ziehen, versucht Boer mit gelehrter Hartnäckigkeit der bekannten jüdischen Weisheit Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung zu neuer Wirksamkeit zu verhelfen. Es geht aber nicht nur um das Erinnern der Befreiung des Volkes Israel aus dem Sklavenhaus Ägypten, sondern auch darum, daraus die Kraft für die Befreiung der Sklaven unserer Zeit zu schöpfen. Denn die Sklaverei ist trotz ihrer juristischen Abschaffung auch heute nicht zu Ende. Erinnert sei, stellvertretend für alle anderen Kapitalverbrechen des Kapitalismus, an die Verhältnisse in der brasilianischen Stadt Cubatao in der Nähe von São Paulo, wo die von ihrem Land vertriebenen Armen bis in die 1990er Jahre in verseuchten Sümpfen lebten, in denen es noch nicht einmal mehr Ratten und Insekten aushielten (McNeill 2003, 294). Der größte Teil der modernen Sklaven arbeitet für internationale Konzerne und die Märkte der Industrieländer. Diese Sklavenarbeit ist der Schlüssel zur Frage, warum es so viel Verlagerung von Arbeitsplätzen und Kapitalflucht aus den Industriestaaten, aber so wenig wirkliche Entwicklung in den sogenannten Entwicklungsländern gibt.2 Zusätzlich hat die augenfällige Sklaverei mit dem modernen High-Tech-Kapitalismus und seinen Medien, die durch ihre »Blödmaschinen« (Seeßlen/Metz 2011) Dummheit technisch perfekt produzieren, neue subtile Formen der Versklavung des Bewusstseins hinzu gewonnen.

 

Die zentralen Herausforderungen

Dick Boer entfaltet seine im Untertitel angekündigte biblische Theologie als eine systematische Theologie. Das Besondere daran wird nur erkennbar, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die theologischen Fakultäten traditionell in verschiedene Disziplinen eingeteilt sind. Die biblische Theologie befasst sich dabei mit der spezifischen Ausprägung der theologischen Begriffe, Aussagen, Konzeptionen einer bestimmten biblischen Schrift, die systematische Theologie beansprucht, »Glaubenswissenschaft « zu sein, also das Verhältnis von Offenbarung und Vernunft, die Entstehung und Begründbarkeit der Dogmen usw. zu klären und logisch zu entfalten.

Diese Fächertrennung überschreitet Dick Boer. Biblisch ist seine Theologie, weil an ihrem Anfang eine umfassende Lektüre und Auslegung der Bibel steht, systematisch ist sie, weil die Ergebnisse und Erkenntnisse dieser Lektüre analytisch aufbereitet und in einen übergreifenden Zusammenhang gebracht werden. Diese Grundlegung einer erneuerten systematischen Theologie entspringt also nicht der philosophischen Spekulation oder den Humanwissenschaften, sondern dem Ursprungsereignis der Offenbarung im Exodus. Der Neuaufbau der theologischen Disziplinen aus diesem Grundprinzip ist aber nicht das vordringliche Anliegen von Dick Boer, ebenso wenig wie das naheliegende Gespräch mit anderen Wissenschaften. Es geht darum, das Gespräch über den Universitätsbereich und kirchlichen Rahmen hinaus mit Erfahrungen und Denkweisen aus jenen Bewegungen zu ermöglichen, in denen das Interesse an Befreiung konkrete Gestalt annahm. Ziel ist »die Übersetzung der biblischen Botschaft des Exodus aus der Sklaverei in Theorie und Praxis einer modernen Befreiungsbewegung. Biblische Theologie ist der Versuch, die ›Sprache der Botschaft‹ zu ›aktualisieren‹. Sie ist eine Übersetzungsarbeit auf der Suche nach einer Sprache, die Verständnis hat für das, was die Welt von heute bewegt, zugleich aber ›bewahrt‹, was die biblische Sprache in Bewegung gebracht hat.« (3) Was die biblische Sprache in Bewegung gebracht hat, steht im Dekalog und in der Selbstoffenbarung Gottes an Mose aus dem brennenden Dornbusch (Exodus 3, 1-18).

Um diese biblische Offenbarung in die Sprache der modernen sozialistischen Befreiungsbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts zu übersetzen, bedarf es sowohl einer fundierten biblischen Hermeneutik und systematischen Theologie als auch einer sorgfältigen Rezeption von Impulsen aus einem kritischen Marxismus. Natürlich muss auch hier niemand von uns beim Nullpunkt anfangen. Daher seien wenigstens einige der Lehrmeister genannt, in deren Schule Dick Boer gegangen ist: Kornelius Heiko Miskotte und Karl Barth für die Theologie, Louis Althusser, Antonio Gramsci und Wolf Fritz Haug für den Marxismus.

Die vielen Herausforderungen münden ein in die Form einer Gratwanderung zwischen Theologie und Marxismus. Überall lauert die Gefahr des Absturzes in die verschiedenen Gletscherspalten, die sich in der Geschichte von beiden auftun, da ja beide keine reinen Theorien, sondern »Philosophien« einer bestimmten geschichtlich- gesellschaftlichen Praxis sind. Diese Praxis ist beiderseitig eine schwere Hypothek. Erinnert sei an das drohende Scheitern des Exodus am Sinai, als das Volk sich ein goldenes Stierkalb als Gott produziert, weil es die Unsichtbarkeit des Befreier-Gottes nicht mehr aushält, an die Verbrechen der Kirche durch Intoleranz und Inquisition, an das Umbringen von Genossen durch Genossen im Stalinismus. Wer hat da noch Lust auf eine Gratwanderung, wenn er in diese Abgründe schaut?

 

Das Projekt Übersetzung

Kehren wir zum Übersetzungsproblem zurück, das sich als ein dreifaches erweist: Es gilt a) die Sprache der Bibel zu verstehen, ihre Vorstellungen, Bilder und Denkformen, was b) die linguistisch korrekte Übersetzung in eine lebende aktuelle Sprache erforderlich macht, wonach dann c) die vom Autor beabsichtigte Übersetzung in die Sprache der heutigen Befreiungsbewegungen erfolgen soll.

Dass Dick Boer diese komplexe Aufgabe gelungen ist, will ich am Beispiel der Rede von der Schöpfung als Werk Gottes, ausgehend vom Buch Genesis und endend mit der Apokalypse des Johannes, aufzeigen (vgl. 133-166). Wenn Gott im ersten Satz der Bibel »im Anfang [...] den Himmel und die Erde [schuf]« (Genesis 1,1), bezieht sich das hebräische Wort bara (für »schaffen« bzw. »erschaffen«) auf die einmalige Tat Gottes und kommt daher einzig und allein mit Gott als Subjekt vor.

Der Schöpfungsakt vollzieht sich als das Sprechen Gottes. Sein Wort ist im wahrsten Sinne ein Tätigkeitswort.3 Im Unterschied zu dem, was Handwerker, Künstler und Ingenieure an Werkzeugen haben und verwenden, ist diese Wortgewalt einmalig wie auch die durch das Wort geschaffene Wirklichkeit uneingeschränkt als sehr gut qualifiziert wird. Doch ist nicht unsere Erfahrung der Welt genau umgekehrt: Garnichts ist gut, Naturkatastrophen, Fressen und Gefressenwerden im Tierreich, Verlorensein des Menschen in einem teilnahmslosen Weltall? Das leugnen weder Dick Boer noch das Buch Genesis, das vielmehr eine Gegenwirklichkeit formuliert, auf die hin die vorhandene verändert werden muss: Gottes Wort bändigt das Chaos und macht die Welt zum Lebensraum (vgl. Genesis 1, 2-3). »Das Leben ist kein Sein-zum-Tode, sondern dazu bestimmt fruchtbar zu sein.« (158). Gott bleibt unvergleichlich, daher darf man sich kein Bild von ihm machen. Es darf keine Götzen geben und keine gottgleichen Potentaten. Die Reihe der »Protestationen gegen das Elend« lässt sich fortsetzen. So kommt Dick Boer zu der Kernaussage, dass die Welt kein Ort ist, an dem ein blindes Schicksal waltet, sondern Befreiung und Heilwerden möglich, ja sogar aufgegeben sind. Die Aussagen über die Schöpfung in der Bibel sind weder empirische Beschreibungen noch theoretische Erklärungen, sie sind Interventionen in den ideologischen Kampf um die Köpfe und Herzen der Menschen, sie sind ein Beitrag zum »ideologischen Klassenkampf«, würde Althusser sagen. Dieser Kampf hat dem Heil, der Erlösung, der Rettung zu dienen.

 

Das Kanonproblem

Im Kanonproblem taucht die traditionelle Frage auf, welche Reihenfolge der biblischen Schriften die richtige und maßgebliche ist und warum. Welche Schriften sollen überhaupt unter die wegweisenden gerechnet werden? Dabei ergibt sich ein weiteres Problem: Ist die Reihenfolge der Schriften deckungsgleich mit dem Ablauf der realen Geschichte, oder wird deren Verlauf in der kanonischen Anordnung neu bestimmt? Wie greifen die in der biblischen Literatur konstruierte Geschichte und die in der profanen Geschichtsschreibung – falls sie an die benötigten Daten überhaupt herankommt – erfassbare Geschichte ineinander?

Dick Boer entscheidet sich für die seit Gerhard von Rad nicht ungewöhnliche Lösung, im Buche Exodus und seiner Gottesoffenbarung das generative Zentrum zu sehen. Den Gegensatz und die Differenz zwischen empirisch erfassbarer Geschichte und der in der Bibel als Gegengeschichte des Volkes Israel konstruierten Befreiungsgeschichte arbeitet er, im Unterschied zu den gängigen biblischen Theologien, präzise heraus und macht die ihm immanente Logik nachvollziehbar (59-68). »So geht die biblische Geschichte ihren eigenen ›unhistorischen‹ Weg durch die allgemeine Geschichte – um in dieser und keiner anderen Geschichte zu schreiben«. (68) Die Frage, ob alles wirklich so stattgefunden hat, wie es in der Bibel steht, verliert damit ihren letztbestimmenden Rang und auch die von ihr ausgehende Irritation.

Da der Exodus die Logik des Kanons und damit das Konstruktionsprinzip der Bibel hervorbringt und so auch die Logik des Buches von Dick Boer bestimmt, gibt er in allen thematischen Entfaltungen die Grundperspektive an und bestimmt auch die systematische Grundstruktur der Kapitel IV bis VIII: Bund; Schöpfung; Anthropologie; Einzug; das real existierende Israel. Bleiben wir kurz beim Thema Schöpfung. Die konsequente Einhaltung der Konzeption des Buches führt zur Grundaussage: JHWH macht die Welt so, dass in ihr Befreiung möglich ist. Aber warum wurde diese überhaupt nötig? Um dies zu erklären, musste dann das Buch Genesis vorgeschaltet werden. Die Exodus-Erfahrung erzeugt also eine Sicht der Welt als ganzer, Kosmos und Geschichte inbegriffen, die den Gott, der aus der Sklaverei führt, auch als Herrn der Welt insgesamt begreift. Rückblickend ist der Kanon also keine Zwingklammer, sondern eine Hilfe, die Stolpersteine der realen Geschichte in Wegweiser der historischen Logik zu verwandeln.

 

Die Gottesfrage

Ob sich die Rede von Gott in der Bibel überhaupt in eine nachaufgeklärte Sprache übersetzen lässt, kann nicht abstrakt beantwortet werden. Denn begrifflich allgemein kann Gott alles und nichts bedeuten, seine Existenz bejaht, verneint oder mit agnostischem Achselzucken beantwortet werden. Die biblische Rede von Gott aber ist konkret. Diesen fundamentalen Gegensatz hatte bereits Blaise Pascal in seinem Memorial präzise formuliert (1954, 553f): Es geht nicht um den Gott der Philosophen, sondern um den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der der Gott Israels und damit notwendig auch der Gott des Messias Jesus ist.

Was in der Bibel Gott genannt wird, definiert sich durch einen Namen, der sich grundsätzlich unterscheidet von allem, was anderswo Gott heißen mag. Dieser Name lautet: Ich werde da sein, als der ich da sein werde (Exodus 3,14). (11)

Dick Boer zufolge kommt es genau auf das »als der ich da sein werde« an:

Ein Gott, der das ›mit‹ so versteht, dass er ohne dieses Volk überhaupt nicht Gott sein will. Die von ihm begonnene Erlösung aus der Sklaverei ist ein gemeinsames Unternehmen und es hängt nicht nur von ihm ab, ob es gelingen wird. Es ist also (in der Tat, Marx!) die historische Aufgabe des Volkes, die ›Wahrheit des Diesseits‹ zu etablieren. (11)

Auch wenn »Gott« als ein Wort unserer Sprache zur Bezeichnung der Unbegreiflichkeit des Daseins nicht notwendig oder eilfertig identifiziert werden darf mit dem »Namen« des befreienden Gottes des Exodus, und auch wenn die historische Kluft zwischen damals und heute nicht einfach bekenntnishaft übersprungen werden kann, bleibt doch die Anforderung an die Mühe des Begreifens, die Anforderung, beides zusammen denken zu können. Aber wie soll das geschehen? Gerade bei der Gottesfrage zeigt sich, dass die Denkweise von Dick Boer dialektisch ist. In jeder Sache, in jedem Begriff, in jedem Theorem werden die Ambivalenz, die Tendenz zur Widersprüchlichkeit oder im Ernstfall auch der manifeste Widerspruch aufgedeckt und beherzigt, nicht aber, um enttäuscht aufzugeben oder gar darüber zu jammern, dass alles so ausweglos und schwierig ist, sondern um tapfer und klug weiter zu denken, wobei bisweilen der Weg auch das Ziel zu ändern vermag.

Die Dialektik des Gottesnamens entfaltet sich als Spannungsverhältnis zwischen der Sicherheit des »dass« des Daseins JHWH’s und der Art und Weise, »wie« er da sein wird. Gleichzeitig wird somit eingeräumt, dass die Gotteserkenntnis seitens des erkennenden Subjekts immer kontextuell bestimmt ist, daher nie ontologisch zeitlos und eindeutig ist (bes. 45, 72, 73, 188). In diesem Zusammenhang formuliert Dick Boer auch seine Kritik an der berühmten Passage aus der Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie, in der Marx Erlösung als Antwort auf den »Seufzer der bedrängten Kreatur« als »das Jenseits der Wahrheit« interpretiert, gegen das es »die Wahrheit des Diesseits zu etablieren« gilt (MEW 1, 378f; vgl. Boer 2010). Marx könne die Erlösung als Tat Gottes nicht zusammendenken mit Befreiung als Gebot menschlichen Handelns, weil er genau an dieser Stelle seiner Religionskritik von der Bibel abstrahiert und in die Falle der Fundamentalopposition von Gott Israels versus Gott der Philosophen tappt. Der Gott des Exodus führt sein Volk nicht aus der Welt, sondern aus dem Sklavenhaus hinaus, damit es in seiner Geschichte und auf dieser Erde in Selbstverantwortung handelnd sein Heil suchen und finden kann und etabliert damit gerade eine neue Wahrheit des Diesseits. Ohne intellektuelle Verrenkungen könnte auch der kategorische Imperativ von Marx »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist« (MEW 1, 385) als praktische Interpretation des Gottesnamens aufgefasst werden.

Gibt es einen Widerspruch zwischen dem geschichtlichen Heilshandeln Gottes und seiner Unvergleichlichkeit und Unnahbarkeit? Bei aller Ehrfurcht vor dem unaussprechlichen Geheimnis Gottes darf nicht der Fehlschluss begangen werden, dass dieser selbst deswegen kein erlösendes Wort sprechen oder nicht angesprochen werden kann, Gebet also unmöglich sei. Das Unaussprechliche spricht uns an und schweigt sich nicht aus, wenn es um unsere Erlösung geht, denn er hat die Schreie seines Volkes im Sklavenhaus gehört und beschlossen hinabzusteigen, um sein Volk zu befreien (vgl. Exodus 3, 7-11). Nicht zufällig gehört dieser Bibeltext zu den zentralen Impulstexten in der Gründungsphase der lateinamerikanischen Befreiungstheologie. Die bahnbrechende Gesamtkonferenz der katholischen Bischöfe Lateinamerikas 1968 in Medellín/Kolumbien (Sekretariat, 1985) hat von hier aus in ihren Dokumenten den Begriff ›Entwicklung‹ durch den Begriff Befreiung ersetzt und eine umfassende und eindeutige Kapitalismuskritik entfaltet, die bis heute in ihrer Entschiedenheit und Klarheit von keinem Dokument der römisch-katholischen Kirche übertroffen wurde.

 

Auf dem Weg zu einer linken Spiritualität

Spiritualität ist allgemein jener Ort, an dem Motivationen, Haltungen, Optionen gebildet werden. Die Quellen und Traditionen, aus denen sie schöpft, können dabei sehr unterschiedlich und entgegengesetzt sein, also konservative, reaktionäre und auch linke Wirkungen haben. Was man als ›linke Spiritualität‹ bezeichnen könnte, macht Dick Boer in seinem gesamten Werk, ohne ihr ein ausdrückliches Kapitel zu widmen, erfahrbar. Es ist die aus dem Herzen (coeur) kommende und durch die Vernunft (raison) gespeiste Begeisterung und Leidenschaft für eine Praxis und Lebensweise, in der der Vorschein der Erlösung, die nicht mehr zerstörbare Einheit des Menschen mit seinem Ziel, sichtbar wird, eine Haltung, die immer wieder gegen den bösen Schein des Scheiterns an das Erreichen des Guten glaubt und trotz Niederlagen weiterkämpft. Sie speist sich aus jener vor allem im Judentum beheimateten Klugheit, die aus der Trauer und dem Mitleiden, der compassion, kommt und daher eine bessere Lehrmeisterin ist als der ebenfalls notwendige, aber nicht hinreichende, weil oft in schierer Verzweiflung mündende Wille zum Widerstand.

Dass hier ein Ort gegeben ist, an dem sich Christen und Marxisten treffen könnten, um gemeinsam zwischen Kampf und Kontemplation eine Einheit herzustellen, kann an der Verwendung von »Erlösung« verdeutlicht werden. In der Arbeiterbewegung war das Wort »Erlösung« trotz einer oft ebenso rigiden wie banalen Religionskritik nie so verfemt, dass es nicht auch zustimmend verwendet worden wäre. Dass es auch eine kommunistische Spiritualität gab, zeigt z.B. Karl Liebknecht, der in seiner letzten Veröffentlichung vom 15. Januar 1919 sich nicht scheute, den Erlösungsbegriff zu verwenden: »Noch ist der Golgathaweg der deutschen Arbeiterklasse nicht beendet – aber der Tag der Erlösung naht. [...] Und ob wir dann noch leben werden, wenn es [das Ziel] erreicht wird – leben wird unser Programm; es wird die Welt der erlösten Menschheit beherrschen. Trotz alledem!« (Liebknecht 1976, 132) Wer am Tag seiner Ermordung solche Worte findet, sollte all jene ermutigen, die aus einer falsch verstandenen Religionskritik heraus sich vor religiöser Sprache scheuen und es ihrerseits trotz alledem versuchen.

 

Literatur

Boer, Dick, Erlösung aus der Sklaverei. Versuch einer biblischen Theologie im Dienste der Befreiung, Münster 2008

Boer, Dick, »Die Sprache der Bibel und die Sprache der modernen Arbeiterbewegung«, in: Marxistische Blätter, 48. Jg., 2010, H. 5, 61-65

Liebknecht, Karl, Gedanke und Tat, hgg. v. O.K.Flechtheim, Frankfurt/M-Berlin-Wien 1976

McNeill, John R., Blue Planet. Die Geschichte der Umwelt im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M 2003

Pascal, Blaise, Oeuvres completes, (Bibl. de la Peiade), Paris 1954

Rad, Gerhard von, Theologie des Alten Testaments, Bd. 1. u. 2, München 1957/1967

Seeßlen, Georg, u. Markus Metz, Blödmaschinen – Die Fabrikation der Stupidität, Frankfurt/M 2011

Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Die Kirche Lateinamerikas. Dokumente der II. u. III. Generalversammlung des lateinamerikanischen Episkopats in Medellín (06. Sept. 1968) und Puebla (13.Febr. 1979), Stimmen der Weltkirche 8, Bonn 1985

Taxacher, Gregor, Apokalypse ist jetzt. Vom Schweigen der Theologie im Angesicht der Endzeit, Gütersloh 2012

 

1 Die weiteren Zitate aus diesem Buch werden durch direkte Seitenangabe ausgewiesen.

2 Vgl. hierzu die beeindruckenden theologischen Überlegungen zur neuen Synthese von Kolonialismus und Kannibalismus von Taxacher 2012 (bes. 69-87).

3 Wenn die Welt (Kosmos, Natur, Umwelt) als Schöpfung bezeichnet wird, geht es also nicht um ein wissenschaftliches Konkurrenzunternehmen zur Evolutionstheorie und zur Urknallhypothese. 

 

DAS ARGUMENT 299/2012 ©