Kontextualisierte Epigenetik

In den letzten Jahren mehren sich Studien, die versuchen, epigenetische Unterschiede zwischen Menschen ausfindig zu machen und mithilfe von Datenbanken zu systematisieren. Darunter finden sich auch Versuche, Unterschiede in Bezug auf Geschlecht und Ethnizität epigenetisch zu klassifizieren.

Auch wenn das Stichwort Epigenetik anderes vermuten lässt: Über simple Gen-Krankheits-Korrelationen hinauszugehen und stattdessen komplexe Wechselwirkungen - beispielsweise zwischen sozialer Umwelt, epigenetischer Codierung und Gesundheitszustand - nachzuvollziehen, kommt auch nach dem Ende des Gen-Determinismus eher selten vor. Eines der wenigen Beispiele ist die groß angelegte North Texas Healthy Heart Study. Mittels Interviews und physiologischen Messungen wird hier untersucht, wie sich Lebensstil, Ernährung, Drogenkonsum und Diskriminierungserfahrungen auf die Gesundheit auswirken. Dafür werden epigenetische Differenzen entlang der Parameter Gender, Race, Ethnicity und Age erhoben.(1) Erste Ergebnisse liegen inzwischen vor, und die haben es in sich: Die DNA von Personen der Gruppen female gender und non-hispanic blacks beispielsweise wies im Vergleich zu den anderen Gruppen auffällige epigenetische Veränderungen auf. Das Methylierungsmuster war ausgerechnet in jenen Bereichen der DNA-Sequenz verändert, die als Anzeiger für ein erhöhtes Krebsrisiko gelten.(2) Außerdem korrelierte das Ausmaß von Herz-Kreislauf-Krankheiten mit Diskriminierungserfahrungen: Je intensiver zum Beispiel rassistische Herabwürdigungen erfahren worden waren, desto stärker litten Menschen aufgrund spezifischer epigenetischer Muster an Arterienverkalkung und Bluthochdruck.(3)

„Anti-rassistische“ Epigenetik als Modell

Die HumanbiologInnen Christopher Kuzawa und Elizabeth Sweet meinen, dass es durch solche epigenetisch erweiterten, sozioepidemiologischen Studien zu einer veränderten Sicht auf Race komme. Dies könne helfen, die bisherigen rassistischen Vorstellungen in der Biologie zu überwinden und zwar zugunsten einer bio-sozialen Perspektive des Embodiment (vgl. den Kasten auf Seite 34). Kuzawa und Sweet betonen, dass ihr Modell nicht essentialistisch ausgerichtet sei und deshalb auch nicht einfach das Konzept einer genetischen durch das einer epigenetischen Rasse ersetzen würde. Es zeige vielmehr, wie das auf konstruierten und sozial zugeschriebenen ethnischen Identitäten basierende gesellschaftliche Umfeld Entwicklungsprozesse bestimmt. Die gesellschaftliche Umgebung schreibt sich als biologisches Muster, das Krankheit und Gesundheit beeinflusst, in den Körper regelrecht ein. „Debatten über die Ursachen gesundheitlicher Ungleichheit verschiedener Ethnien“, so die beiden BiologInnen weiter, „werden traditionellerweise entlang des klassischen Modells der Krankheitsursachen geführt, das den gegensätzlichen Einfluss von ererbten Genen und dynamischer, kulturell geformter Umgebung betont. Das aufkommende epigenetische Modell der Epidemiologie chronischer Krankheiten zeigt, warum diese Perspektive unvollständig ist und erweitert werden muss - jedenfalls, wenn sie auch den beständigeren Einfluss erklären soll, den die Umgebung zu einem frühen Zeitpunkt des Lebens auf biologische und gesundheitliche Muster hat.“(4)

Eine solche Konzeption epigenetischer Verkörperlichung sozialer Einflüsse legt die Überlegung nahe, dass epigenetische Differenzforschung auch neue Möglichkeiten für komplexe, bio-soziale Perspektiven auf Geschlechterverhältnisse eröffnen könnte. So könnte untersucht werden, in welcher Weise sich die geschlechtsspezifische Sozialisation, aber auch die alltäglichen Erfahrungen geschlechtsspezifischer sozialer Ungleichverhältnisse und Doppelstandards auf epigenetische Prozesse auswirken. Indem geschlechtsspezifische körperliche Prozesse dabei nicht mehr einfach auf ein genetisch festgelegtes Geschlecht, sondern auf durch gegenderte Lebenserfahrungen beeinflusste epigenetische Prozesse bezogen würden, könnten neue komplexe Zusammenhänge erschlossen und daraus möglicherweise sogar sozialpolitische Konsequenzen gezogen werden.

Geschlecht als bio-soziale Kategorie?

Dieser positiven Einschätzung der Potentiale der epigenetischen Forschung für die emanzipative Differenzforschung stehen allerdings zahlreiche Bedenken entgegen. Die Kulturwissenschaftlerin Ute Kalender warnt beispielsweise davor, sich allzu leichtfertig der Hoffnung hinzugeben, durch die Epigenetik würden Interaktionen zwischen Umweltfaktoren und Genen grundsätzlich intensiver berücksichtigt. Der Begriff der Umwelt sei in den meisten biologischen Untersuchungen bisher sehr reduziert verstanden worden und bezeichne entweder nur die organismusinterne Zellumgebung oder aber eine sehr eingeschränkte individualisierte Umgebung einzelner Personen. Damit würden also weniger gesellschaftlich verantwortete Einflüsse in den Blick genommen als vielmehr persönliche Verhaltensweisen wie Ernährung und Rauchen, die nun noch stärker mit einer wissenschaftsinformierten Verantwortung überfrachtet werden.(5)

Thomas Brückmann, Franziska Maetzky und Tino Plümecke sehen in den Versuchen, epigenetische Differenzen systematisch in Datenbanken zu erfassen, ein weiteres Problem: Sie befürchten, dass solche Mapping-Projekte kulturell organisierte Differenzkategorien biologistisch fortführen und damit zur weiteren Verfestigung problematischer Kategorisierungen wie „Schwarze“, „Weiße“, „Kaukasier“ oder „Asiaten“ und daran anknüpfender Stigmatisierungen beitragen. Die AutorInnen beziehen sich dabei auf zahlreiche Beispiele aus der genetischen Forensik und der Abstammungsermittlung, aber auch auf Kampagnen pharmazeutischer Unternehmen, die für Subpopulationen mit spezifischen, genetisch charakterisierten Krankheitsrisiken so genannte maßgeschneiderte Medikamente abzusetzen versuchen.(6) Aber auch sozialepidemiologische Studien, die auf der Basis von Embodiment-Ansätzen körperliche Auswirkungen sozialer Stratifizierungen in den Blick nehmen, müssten sich, so das AutorInnenteam, grundsätzlich fragen lassen, mit welchen althergebrachten Gruppenstereotypisierungen sie möglicherweise operieren.

Differenzkategorien als Mittel der Analyse

Der amerikanische Soziologe Troy Duster plädiert hingegen für die Beibehaltung von spezifischen, auch althergebrachten Differenzkategorien wie Race in Epidemiologie, Medizin und Soziologie. Solche Kategorien könnten nämlich wichtige analytische Dienste leisten, wenn sie - hinreichend reflexiv - zur Aufklärung von Wechselwirkungsprozessen eingesetzt werden, bei denen sich soziale Strukturen in Körpern manifestieren und als biologische Variablen messbar werden. Dabei sei aber darauf zu achten, nicht einfach bei Korrelationen zwischen biologischen und sozialen Daten stehen zu bleiben.

Solche Korrelationen allein erklärten noch nichts, so Duster, zögen aber oftmals leichtfertige assoziative Interpretationen nach sich, weil sie mit dem Anschein exakter Messung ausgestattet sind. Stattdessen, so Dusters Plädoyer, sollten wir unser Wissen darüber vertiefen „auf welche Weise Race immer ein komplexes Zusammenspiel von sozialen und biologischen Wirklichkeiten mit Ideologien und Mythen sein wird.“(7)

In eine ähnliche Richtung argumentiert auch die Biologin Anne Fausto-Sterling. Kursierende Bedenken, dass die genetischen Untersuchungen von Differenz neue stigmatisierte Populationen hervorbringen und möglicherweise sogar zu genetischer Diskriminierung am Arbeitsplatz führen, zumindest aber bestehende Vorurteile bestärken könnten, hält sie für berechtigt. Das zentrale Problem sieht Fausto-Sterling aber woanders: „Wir müssen [...] anfangen, Gene als Teil von Gen-Umwelt-Systemen zu begreifen, die innerhalb von Netzwerken operieren, die in der Reaktion auf gesellschaftliche Umstände neue Physiologien produzieren. [...] Mit einem solchen Verständnis der Beziehungen zwischen dem Sozialen und dem Biologischen ergeben sich neue epistemologische Anhaltspunkte, von denen ausgehend wir nach gesellschaftlichen Lösungen für Gesundheitsunterschiede suchen könnten.”(8)

Mit Epigenetik gegen die Soziobiologie

Ich halte es für möglich und sinnvoll, diese Positionen produktiv zusammenzudenken und umzusetzen. Das bio-soziale Embodiment-Konzept im Sinne Dusters und Fausto-Sterlings sollte biologischen und medizinischen Forschungen zu menschlichen Differenzen zugrunde gelegt werden. Die kausalen Zusammenhänge zwischen dem Biologischen und dem Sozialen müssten allerdings dabei auf Gruppenbezeichnungen bezogen werden, die als heuristische Termini verstanden und einer ständigen interdisziplinären Reflexion ausgesetzt werden müssen.

Die bisher noch kaum vorhandene, genderbezogene epigenetische Embodiment-Forschung sollte dabei nicht nur umfassend die Fragen bearbeiten, ob sich die geschlechtsspezifischen sozialen Ungleichverhältnisse möglicherweise auf epigenetische Prozesse auswirken und welche gesellschaftlichen Konsequenzen sich gegebenenfalls daraus ziehen lassen. Notwendig ist es auch, soziobiologischen Geschlechtermodellen aus epigenetischer Sicht erneut eine Absage zu erteilen. Schon bisher galt es mehr als überkommen, aus der genetischen Fixierung der Geschlechterrollen in pleistozänen Jäger-Sammler-Gesellschaften heutiges geschlechtsspezifisches Verhalten abzuleiten. Für die vorausgesetzte urzeitliche Arbeitsteilung zwischen Geschlechtern fehlen Belege, und die diesen Modellen eigene reduktionistische und zirkuläre Interpretation heutiger Rollenverhältnisse ist auch methodisch nicht haltbar. Solche Geschlechtermodelle sind nun auch theoretisch überholt, weil sie aus epigenetischer Sicht auf veralteten genetischen und evolutionstheoretischen Konzepten beruhen. Eine Evolutionstheorie der Geschlechterverhältnisse müsste vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse noch einmal ganz neu entwickelt werden.

 

Kerstin Palm arbeitet als Genderforscherin der Naturwissenschaften an der Universität Basel.

Modifizierter Kurzauszug des Artikels „Gene als Bioarchive sozialer Positionierungen? Gendertheoretische Betrachtungen neuer biologischer Embodimenttheorien“ in: H. Zettelbauer, I. Aiglsperger, S. Benedikt, N. Kogler, K. Sonnleitner (Hrg.). embodiment | Verkörperungen (im Erscheinen).

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Fußnoten:

(1)            Die Begriffe „Race“ und „Gender“ sind Fachbegriffe. „Race“ bedeutet nicht Rasse, da der deutsche Begriff eine ausschließlich biologistische Dimension hat, Gender bedeutet nicht Geschlecht, da auch dieses im Deutschen biologistisch ausgelegt wird. „Race“ beziehungsweise „Gender“ meinen hingegen eine soziale beziehungsweise kulturelle, historisch und lokal variable Konstruktion, die zu hierarchisierenden (das heißt sexistischen beziehungsweise rassistischen) Gesellschaftsordnungen führt.

(2)            F. F. Zhang et al.: Significant differences in global genomic DNA methylation by gender and race/ethnicity in peripheral blood, in: Epigenetics 6/5 (2011), S. 623-629.

(3)            R. Cardarelli et al.: Self-reported racial discrimination, response to unfair treatment, and coronary calcification in asymptomatic adults - the North Texas Healthy Heart study, in: BioMedCentral Public Health 10/285 (2010),www.biomedcentral.com/ 1471-2458/10/285 (11.2.2012); C. W. Kuzawa, E. Sweet: Epigenetics and the embodiment of race: developmental origins of US racial disparities in cardiovascular health, in: American Journal of Human Biology 10 (2008), DOI 10.1002/ajhb.20822.

(4)            C. Kuzawa, E. Sweet: Epigenetics, S. 10.

(5)            U. Kalender: Möglichkeiten für eine sozialere Biomedizin?, in: Soziale Technik 2/29 (2010), S. 10-12.

(6)            T. Brückmann, F. Maetzky, T. Plümecke: Rassifizierte Gene: Zur Aktualität biologischer „Rasse“- Konzepte in den neuen Lebenswissenschaften, in: AG gegen Rassismus in den Lebenswissenschaften (Hg.), Gemachte Differenz. Kontinuitäten biologischer „Rasse“- Konzepte, Münster 2009, S. 21-65; ähnlich der Artikel von Susanne Bauer in demselben Band.

(7)            T. Duster: Lebendig begraben. Race-Konzepte in den Wissenschaften, ebda., S. 302-325.

(8)            A. Fausto-Sterling: Die Neugestaltung von Race: DNA und die Politiken der Gesundheit, ebda., S. 124.