Warum es in der Bundesrepublik (noch) keine erfolgreiche rechtspopulistische Partei gibt
»Es finden manchmal die lustigsten und skurrilsten Kontakte statt«, antwortet Karl-Theodor zu Guttenberg auf die Frage, ob er von denjenigen »relativ angesehenen« Konservativen bereits angesprochen worden sei, die laut Auskunft seines Interviewers überlegten, eine neue Partei zu gründen (di Lorenzo/Guttenberg 2011). Die Antwort des ehemaligen Wirtschafts- und Verteidigungsministers ist nicht die erste Äußerung, die Spekulationen über die mögliche Gründung einer neuen Partei in Deutschland rechts der Unionsparteien zu befeuern vermochte. Zu weiteren Spekulationen Anlass gab Ende 2011 die öffentliche Ankündigung des ehemaligen BDI-Vorsitzenden Hans-Olaf Henkel, bei künftigen Wahlen als prominenter Vertreter der »Freien Wähler« aufzutreten.1 Früher unterstützte Henkel die FDP, die sich aber zum selben Zeitpunkt wahl- und koalitionspolitisch im freien Fall befindet. Zuvor hatte Henkel öffentlich über eine Parteineugründung nachgedacht (Stein 2011: 1). Sowohl die gebremste Bereitschaft Henkels, eine solche Neugründung tatsächlich zu organisieren, als auch die monothematische Untermauerung seines Engagements sind für die Schwierigkeiten möglicher rechtspopulistischer Formationen in der Bundesrepublik aussagekräftig. Es sei der politische Umgang von Kanzlerin Merkel mit der Eurokrise, die ihn nicht überzeuge und mit davon überzeugt habe, es jetzt mit einer neuen Parteiformation zu versuchen. Henkel wird Mitglied – allerdings strebt er keinerlei Mandat an. Für ihn, wie auch für zu Guttenberg, gilt, dass sie als charismatische organische Intellektuelle einer neuen Partei nicht taugen, denn beide sind nur bedingt abkehrbereit von den altbekannten Mustern, nach denen sich die Parteipolitik in der Bundesrepublik im Allgemeinen abspielt und die bislang nur durch die Spätwirkungen der 1968er-Revolte und der Wiedervereinigung nachhaltig verändert wurden. Dazu gehörte bislang auch das Faktum, dass sich eine bundesweit erfolgreiche rechtspopulistische Partei, wie es sie in den europäischen Nachbarländern und vielen OECD-Staaten seit langem gibt, hier langfristig nicht durchsetzen konnte.
Wir vertreten die These, dass die Etablierung einer »Rechtspartei« in der Bundesrepublik Deutschland an folgenden fehlenden Voraussetzungen scheiterte:
a) Bislang fehlte der charismatische Führer, der wie Jörg Haider2 oder Pim Fortuyn die Massen fesselt. Erfolge wie die der Schill-Partei in Hamburg blieben temporär; der Versuch Jürgen W. Möllemanns, mit »israelkritischen« (tatsächlich aber antisemitischen) Postionen einen »Klartext«-Wahlkampf zu führen, blieb erfolglos. Wer vom vorhandenen »dissidenten« Block der deutschen Staatsklasse im Zusammenhang mit einer Parteineugründung genannt wurde (Friedrich Merz, Hans-Olaf Henkel, Thilo Sarrazin), war zwar nicht notwendigerweise eine »charismatische« Figur, gilt aber Teilen der öffentlichen Meinung als glaubwürdiger Repräsentant der Gegenelite. Sarrazin wiederum war ebenfalls nur »bedingt abkehrbereit«, zeigte aber in einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, dass er genau gemerkt hatte, inwieweit er als Projektionsfläche jener diente, die Christian Wulffs Weg in die »bunte Republik« nicht folgen wollten. Am 24. Dezember 2010 schrieb Sarrazin in einem vorläufigen Rückblick auf die Debatte: »Mit ein bisschen Michael Kohlhaas im Blut hätte ich eine Staatskrise herbeiführen können.« (Sarrazin 2010: 33)
b) Es gibt für den Parteiaufbau zahlreiche formale Hürden: Es müssen Unterschriften zur Wahlzulassung gesammelt werden, die Partei braucht Sponsoren – und außerdem wäre eine Etablierung in 16 Bundesländern unabdingbar.
c) Das potenzielle Wählermilieu ist derzeit nicht mobilisierbar. Eine Frontstellung gegen die »Islamisierung« Deutschlands mag den Beifall auch jener finden, die sich als Teil der »bürgerlichen Mitte« wähnen – als zentraler Programmpunkt ist es aber doch zu wenig. Insgesamt scheinen die Namen, die im Zusammenhang mit einer »Rechtspartei« zirkulierten, überdies zu widersprüchlich, um eine inhaltliche Kohärenz herzustellen.
d) In Deutschland war bislang eine »Politik der Stigmatisierung« erfolgreich: Der Hinweis auf die teilweise – und im Falle der »Pro-Bewegung« leicht belegbare – Nähe zum organisierten Neonazismus wirkt außerhalb der regionalen Hochburgen immer noch. Neonazis gelten im offiziellen Diskurs als die Parias der politischen Kultur. Nicht ohne Grund zitiert JF-Chefredakteur Dieter Stein das – von ihm als Drohung verstandene – Diktum von Franz-Josef Strauß, wonach es rechts von der Union »keine demokratisch legitimierte Partei« geben dürfe (Stein 2011: 1).
Diese Argumentationselemente gilt es im Folgenden neben der Klärung der Angebots- und Nachfragebedingungen näher zu erörtern. Unter der mitunter diffusen Kategorie »Rechtspopulismus« verstehen wir im weiteren keine reine politische Bewegung, keine politische Mentalität oder rhetorische Technik. Schon der »Populismus« als Oberkategorie bedarf einer definitorisch-typologischen Klärung (Priester 2011). Unsere Grundannahmen sind dabei: »Rechtspopulistische« Stimmungen »von unten« werden auch von Politikern der etablierten Parteien aufgenommen. Somit werden die Inhalte Teil der politischen Technik der traditionellen Volksparteien. Wenn zum Beispiel der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer formuliert, »Wie dürfen nicht zum Sozialamt der ganzen Welt werden« (Süddeutsche Zeitung, 16.10.2010), wird die rechte Diktion von jenen Politikern aufgenommen (und legitimiert), die sich selbst zum Teil der bürgerlichen »Mitte« erklären.
Folgende Merkmale sind zur Präzisierung wichtig: Rechtspopulistische Parteien wie »Pro Deutschland« oder »Die Freiheit« distanzieren sich zumindest offiziell von verfassungsfeindlichen Parteien wie der NPD. Sie verorten sich also als Teil der demokratischen Parteien. In ihrer populistischen Rhetorik behaupten sie, das Sprachrohr der wahren Volksmeinung zu sein: »Wir« gegen »die da oben«. Sie inszenieren sich im Namen des gesunden Menschenverstands als Opposition gegen die vermeintlich korrupten Eliten oder – wie im »Fall Sarrazin« – als Kritiker der angeblich politisch korrekten Gutmenschen. Träger dieser Stimmungen – etwa gegen die Präsenz von Muslimen im öffentlichen Leben – sind oftmals Teile des alten und neuen Mittelstands. Dies unterscheidet die rechtspopulistische Klientel von der NPD, die gerade in den neuen Bundesländern primär die unteren Schichten aktiviert. Wie die Äußerung von Horst Seehofer zeigt, ist Populismus auch eine politische Rhetorik, die von Vertretern der etablierten Parteien angewandt wird, um Volksstimmungen – z.B. gegen so genannte Sozialschmarotzer aufzunehmen und zu dirigieren. Nicht aus den Augen verloren werden dürfen dabei die sozio-ökonomischen und mentalitätsspezifischen Voraussetzungen. Der bloße Rekurs auf die charismatische Figur ist keinesfalls ausreichend. So schreibt Karin Priester, der Populismus sei »eine latent immer vorhandene elitenkritische Mentalität mittlerer und unterer sozialer Segmente, die von einer aus dem Volk hervorgegangenen, neureichen Aufsteigerelite mobilisiert werden. Nicht das Charisma als außeralltägliche Eigenschaft prädestiniert zu einem populistischen Führer, sondern die über seine Herkunft beglaubigte Zugehörigkeit zur ›silent majority‹, als deren Sprachrohr er auftritt.« (Priester 2011: 196) Priester wertet den Populismus als »das Syndrom eines umfassenden kulturellen Unbehagens in der Mitte der Gesellschaft, ausgelöst durch die Grenzen und Auswirkungen der ›ersten Moderne‹ (Beck).« (ebd., 197) Wir folgen dieser Eingrenzung, in der die Kernelemente eines als Gesamtphänomen verstandenen Populismus analysiert werden. Der Rechtspopulismus hat als besondere Variante seine Spezifika u.a. darin, dass seine Repräsentanten die autoritäre Lösung bevorzugen und eine Frontstellung gegen Minoritäten (vor allem muslimische Migranten) formulieren.
Die klaffende Lücke – Nachfrage nach einer rechtspopulistischen Partei
Jüngere Debatten über die Einstellungsmuster in der Bevölkerung wurden häufig in Verbindung gebracht mit den Erfolgsmöglichkeiten einer so genannten Rechtspartei. »Wie groß Sarrazins Basis wirklich ist«, titelte Spiegel Online nach Erscheinen der von der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Auftrag gegebenen Studie »Die Mitte in der Krise« (Decker et al. 2010). Nicht erst seit der Präsentation dieser Ergebnisse geistert das Phantom einer neuen Rechtspartei durch die Medien. Die Rahmenbedingungen für ein solches Projekt scheinen auf den ersten Blick günstig: Trotz medialer Euphorie über den Aufschwung in den Auftragsbüchern grassiert die Angst vor dem sozialen Absturz. Und zu dem Zeitpunkt, als Ex-Bundespräsident Christian Wulff die »bunte Republik« ausrief, stimmten 58,4% der 2.411 Personen, die von den Forschern in Ost und West befragt wurden, der Forderung zu, dass man »für Muslime in Deutschland die Religionsausübung erheblich einschränken« solle (ebd., 134). Das Ergebnis der Studie überrascht kaum, denn der grundsätzliche Befund wurde von den Leipziger Forschern schon in den Vorläuferstudien formuliert und ist für Westdeutschland seit Beginn der 1980er Jahre bekannt. Der Titel der 1981 vorgelegten »Sinus-Studie« lautete: »Fünf Millionen Deutsche: ›Wir sollten wieder einen Führer haben…‹« (Greiffenhagen 1981). In der letzten Folge der Langzeitstudie zur »Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit« verzeichnet der Bielefelder Sozialforscher Wilhelm Heitmeyer zudem eine »rohe Bürgerlicheit« und diagnostiziert mit Blick auf die eigenen Erhebungen: »Zivilisierte, tolerante, differenzierende Einstellungen, die in höheren Einkommensgruppen einmal anzutreffen waren, scheinen sich in unzivilisierte, intolerante – ja: verrohte – zu verwandeln.« (Heitmeyer 2012: 35) Angesichts dieser – hier nur skizzierten – Ergebnisse drängt sich die Frage auf, warum in Deutschland trotzdem immer noch keine erfolgreiche Rechtspartei existiert, warum also die Diskrepanzen zwischen Einstellung und Verhalten so enorm sind.
Von den Faktoren, die nachfrageseitig Spielräume für eine rechtspopulistische Partei eröffnen, sind keineswegs alle ausschließlich von rechtspopulistischer Seite instrumentalisierbar. In der Bundesrepublik konnten in den vergangenen Jahren Menschen, die mit ihrem Votum in der Wahlkabine ihrer Unzufriedenheit mit den neoliberalen Eliten Ausdruck verleihen wollten, dies durch Wahl der LINKEN tun. Tatsächlich verdankt sich der Erfolg der LINKEN auch maßgeblich der Unzufriedenheit mit sozialen Ungleichheiten und dem Unwillen der übrigen Parteien, etwas gegen diese zu unternehmen (vgl. Boywer/Vail 2011: 698ff.). Insofern mag sich DIE LINKE zumindest zum Teil zu Recht dafür verantwortlich betrachten, zur Verhinderung einer erfolgreichen rechtspopulistischen Parteigründung beigetragen zu haben, während parallel derartige Formationen in ganz Europa Siegeszüge feiern konnten. Interessant ist dabei, dass DIE LINKE den Protest gegen den Neoliberalismus auf Grundlage einer antirassistischen und antifaschistischen Programmgrundlage partiell bündeln konnte.
Strukturprobleme des Rechtspopulismus in der Bundesrepublik
Das Nicht-Ereignis3 einer rechtspopulistischen Parteigründung in der Bundesrepublik hängt mit internen Problemen auf der »angebotspolitischen Seite« des politischen Prozesses zusammen, auf die ein derartiges Vorhaben derzeit noch immer träfe. Wir erörtern in diesem Zusammenhang drei ideologische und vier organisationspolitische Faktoren, die sich verdichtet als klaffende Lücke zwischen dem Vorhandensein eines WählerInnenpotenzials und dem Fehlen eines Angebots (»organizational gap«) bzw. zwischen dem Vorhandensein kleinerer radikal rechter Gruppierungen und ihrem Scheitern trotz ansprechbarer rechter Dispositionen in Teilen der Bevölkerung (»electoral success gap«) niederschlagen.
Ideologische Faktoren
Die Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus 2011 haben gezeigt: Die Partei »Die Freiheit« des ehemaligen CDU-Abgeordneten René Stadtkewitz, der als deutscher Geert Wilders reüssieren wollte, erhielt nur ein Prozent der Stimmen. Dabei behauptete die Partei, das Programm von Thilo Sarrazin ins Abgeordnetenhaus zu bringen. Für die geplante bundesweite Ausdehnung war dies ein katastrophales Signal. »Pro Deutschland« erhielt unter dem Vorsitz von Manfred Rouhs nur magere 1,2% der Stimmen – obwohl die Partei nach eigenen Angaben über 1,2 Millionen Postwurfsendungen unter die Leute gebracht hatte. Schlussfolgerung: Das potenzielle Wählermilieu ist derzeit nicht mobilisierbar und auch in sich zu widersprüchlich.
Wir betonen die Frage des Elitenpersonals einer möglichen rechtspopulistischen Partei mit Nachdruck. Jedoch: Nicht nur der charismatische Führer ist wichtig, sondern vor allem die Glaubwürdigkeit der Gegenelite und der assoziierten Intellektuellen. Notwendiges Element für die Konstitution jedes kollektiven Akteurs, so die heute mehr denn je zutreffende These von Antonio Gramsci, sind organische Intellektuelle.4 Sie sind diejenigen Individuen oder Kollektive, die einer sozialen Gruppe »Homogenität und Bewusstheit der eigenen Funktion nicht nur im ökonomischen, sondern auch im politischen und gesellschaftlichen Bereich geben« (Gramsci 1994 [1932]: 1497). Intellektuelle sind für die Handlungsfähigkeit organisierter politischer Gruppen heute eher noch wichtiger als zu Zeiten Gramscis, und eine rechtspopulistische Gruppierung bedürfte ihrer noch mehr als die etablierten Parteien. Denn erstens bedürfte es einer Ideologie, welche die durchaus heterogene Basis einer solchen zu gründenden Partei wirksam zusammenschweißt und mobilisiert. Eine Idee, so wusste schon der junge Marx, ist nur dann politisch wirksam, wenn sie »die Massen ergreift«, d.h. sie mit Deutungsmustern, Feindbildern und Handlungsansätzen ausstattet, die glaubwürdig und sinnstrukturierend sind (MEW 1: 385). Zweitens – das ergibt sich aus dem tiefen anti-elitären Affekt des Rechtspopulismus – müssten die intellektuellen Leitfiguren glaubhaft eine Alternative zu »denen da oben« verkörpern, also die Ablehnung der ungeliebten politischen Klasse müsste gleichsam in einer charismatischen Person verkörpert sein, wie es bei Jörg Haider oder Pim Fortuyn gelungen war. Auffällig ist hier, dass der Affekt auf eigentümliche Weise dem konkreten Inhalt widerspricht, bleibt die Kritik doch stets dem elitären Denken verhaftet und auf die Forderung nach einer Gegenelite beschränkt. Drittens muss dem ideologisch-politischen Führungspersonal heutzutage ein schwieriger Balanceakt gelingen, will es nicht nur kurzfristige mediale und elektorale Erfolge ermöglichen, sondern auch langfristig bei Aufbau und Stabilisierung der Partei reüssieren. Denn neben dem für die mediale Repräsentation der Partei benötigten Charisma bedarf es auch des Verhandlungsgeschicks und der Fähigkeit, bei Streitfragen innerhalb der Partei oder mit BündnispartnerInnen hinter verschlossenen Türen Differenzen kleinzuarbeiten (vgl. Grande 2000: 303f.).
An allen drei Fronten allerdings sehen wir beim bekannten Personal eines möglichen Parteienprojekts erhebliche Defizite. Hans-Olaf Henkel zum Beispiel ist kein prototypischer Rechtsintellektueller, der jenseits des Euros plastische Feindbilder wider Flüchtlinge etc. mobilisieren könnte. Henkel, der mehrfach Kampagnen von »Pro Asyl« unterstützt hat, verkörpert eher einen liberalen Typus, in dem sich Humanismus und Kapitallogik koppeln. Seine Ideologie wäre – überspitzt formuliert – die Freiheit des farbenblinden Unternehmers, der die Ware Arbeitskraft nicht nach völkischen Kriterien beurteilt. Insofern wäre Henkel kein »Rechter«. Thilo Sarrazin ist zwar nicht um mitunter menschenfeindliche Etikettierung ganzer Bevölkerungsgruppen und auch nicht um die Entlarvung der politischen Elite als wirklichkeitsfremde Kaste verlegen, denen er die betriebswirtschaftlich sezierte Negativbilanz der BRD entgegenhält (vgl. Gebhardt 2010: 862f.). Allerdings kann er kaum zur Leitfigur einer Partei avancieren, weil er als organischer Intellektueller eigentümlich halbiert bleibt. Gramsci warnte vor einer intellektuellen Kaste, deren Bezug zur Politik wegen der mangelnden Anbindung an reale soziale Praxen zum bloß bürokratisch-formalen Akt verkomme. »Das volkshafte Element ›fühlt‹, aber versteht oder weiß nicht immer, das intellektuelle Element ›weiß‹, aber es versteht und vor allem ›fühlt‹ nicht immer. Die beiden Extreme sind folglich Pedanterie und Spießbürgertum auf der einen Seite und blinde Leidenschaft und Sektierertum auf der anderen« (Gramsci 1994 [1932-33]: 1490). Thilo Sarrazin ist geradezu der Idealtyp des spießbürgerlich-pedantischen Gelehrten, der sich mit Buch- und Statistikwissen über die Masse erhebt. Um sich zum Vertreter der alltäglichen Sorgen und Nöte einer rechtspopulistischer Basis zu machen, fehlte ihm selbst bei ausreichendem Willen jede »street credibility«. Sarrazin ist der eigentümliche Typus des Elitenkritikers, der damit jedoch die vermeintlich linken »68er« der Republik meint und dessen »Gesellschaftskritik« selbst wiederum einer elitären Logik folgt. Den modernen Unterklassen hat der ehemalige Berliner Finanzsenator neben einer Politik des Ressentiments jedoch nur einen Bundesarbeitsdienst zu bieten.
Nicht Sarrazin, sondern viel eher die BILD-Zeitung ist das »fühlende Element«, ein »Seismograph der deutschen Befindlichkeiten« (Kai Dieckmann im Spiegel-Interview, Spiegel 9/2011: 142); weder Henkel, noch Sarrazin oder zu Guttenberg wären zumindest derzeit bereit, sich diesen Befindlichkeiten als Lautsprecher anzudienen. Zudem ist fraglich, ob es den Genannten und anderen möglichen rechtspopulistischen Führungsfiguren gelingt, nach erfolgter Initiierung einer Aktion auch in den Mühen der Ebene am Ball zu bleiben. Konkret: Auch Rechtspopulisten müssten jenseits der großen medialen Auftritts in Hinterzimmern dicke Bretter bohren.
Organisationspolitische Faktoren
Frühere BeobachterInnen verwiesen auf formale Regelungen des politischen Systems in der Bundesrepublik als Grund für wahlpolitische Probleme rechtspopulistischer Formationen. Sicherlich: Es gibt einige Hürden, die insbesondere eine Gründung ex nihilo zum aufwendigen, anstrengenden und mitunter teuren Unternehmen machen. Es müssen Unterschriften zur Wahlzulassung gesammelt werden, und schon auf der lokalen Ebene benötigt eine Partei Sponsoren. Für eine Etablierung auf bundespolitischer Ebene bleibt es im förderal organisierten Deutschland des Weiteren notwendig, in genügend Bundesländern Fuß zu fassen, um auf das gesamte Bundesgebiet berechnet die Fünf-Prozent-Hürde zu überwinden. Allerdings bietet diese im internationalen Vergleich geringe Hürde für Wahlerfolge und das Vorhandensein kleinerer Bundesländer durchaus auch günstige Startbedingungen für eine Teiletablierung. Europawahlen stellen dank der jüngst abgeschafften Fünf-Prozent-Hürde z.B. auch künftig eine Chance für kleinere Parteien dar. Und tatsächlich gelang mehrfach radikal rechten Formationen, auch in die Länderparlamente einzuziehen (REPublikaner, DVU etc.); ihre Wiederwahl indes scheiterte beinahe regelmäßig an der mangelnden Fähigkeit, den eigenen Erfolg zu konsolidieren (vgl. Bornschier 2011: 5).
Mit den Bündnisgrünen seit den späten 1970er Jahren, der PDS bzw. der LINKEN seit den 1990er Jahren und möglicherweisen den PIRATEN seit 2011 (auf kommunaler Ebene schon seit 2009) gibt es mittlerweile drei Formationen, denen trotz existierender formaler Hürden die Etablierung gelungen ist bzw. diese sich gegenwärtig abzeichnet. Bei rechtspopulistischen Gründungsprojekten allerdings treten spezifische Probleme auf: Zur Verdeutlichung skizzieren wir mögliche Gründungsszenarien.
1) Bereits mehrfach gescheitert ist die Gründung einer neuen Formation als rechtspopulistische Partei. Im Falle von Pro Köln bzw. Pro NRW konnten die AkteurInnen zwar einige Wahlerfolge auf lokaler Ebene und eine beachtliche Vernetzung mit den bereits bestehenden rechtspopulistischen Parteien Österreichs, Belgiens und der Niederlande verbuchen. Das einigende Band zwischen diesen Gruppierungen bildete das hinter dem anti-islamischen Kreuzzug nur dürftig getarnte rassistische Ressentiment. Allerdings hatte diese Formation von Beginn an schlechte Voraussetzungen für einen Erfolg außerhalb eines sehr überschaubaren Milieus, weil bei Pro NRW nicht allein die Kernideologie des Anti-Islamismus, sondern das gesamte Projekt allzu leicht als oberflächliche Tarnung einer extremen Rechten unter populistischer Flagge zu erkennen ist. Daher sollte PRO Köln besser als das bezeichnet werden, was diese lokale Variante des deutschen Neofaschismus tatsächlich darstellt: eine modernisierte Spielart der organisierten extremen Rechten, die an die auch von der NPD bekannte Strategie anknüpft, als »braune Caritas« (bei den Nationaldemokraten zählen dazu Nachbarschafts- und Hausaufgabenhilfe oder z.B. eine völkische Arbeitslosenberatung) den öffentlichen Raum zu besetzen und so zunächst unverdächtig in die »Mitte der Gesellschaft« einzudringen.
2) Die Transformation einer bestehenden Partei zu einer rechtspopulistischen Formation (Vorbild: FPÖ) ist nicht vielversprechend. Die FDP verfügt dafür nicht über die notwendige soziale Basis, sie stützt sich im Unterschied zu ihrer Frühphase nicht mehr auf ehemalige NS-Funktionäre, sondern auf mittelständische Unternehmende und ständisch organisierte Berufsgruppen (die sprichwörtlichen Ärzte, Apotheker, Anwälte und Architekten). In diesen Berufsgruppen finden sich heute genug Anschlusspunkte für kosmopolitische Orientierungen, die in Deutschland nicht bruchlos mit einem rechtspopulistischen Profil zusammengehen. Die FDP wäre mit einem solchen Profil ohnehin allenfalls mit Jürgen W. Möllemann glaubwürdig gewesen. Gegenwärtig aber hätte ein Wiedergänger von dessen dezidiert pro-palästinensischer Politik schlechte Chancen, die eher »philosemitischen« und aktuell dezidiert pro-israelischen Strömungen der populistischen Rechten zu integrieren.
3) Das Modell der Abspaltung eines Teils einer Partei scheint ungewiss. Auftrieb in diese Richtung erhielten Gerüchte zuletzt wegen des (freiwillig gewählten oder durch öffentlichen Druck erzwungenen) Rückzugs konservativer Aushängeschilder wie Friedrich Merz und zu Guttenberg von politischen Führungsämtern. Zwar wären beide Kandidaten mit durchaus ausreichend Charisma versehen, um eine Rechtsabspaltung von der Union dauerhaft mit medialer Aufmerksamkeit zu versorgen. Allerdings liefen sie dabei Gefahr, am Ende als »Feldherrn ohne Truppen« dazustehen. Die nahezu vernichtend geringe Resonanz der Parteigründung »DIE FREIHEIT«, ebenso wie der trotz massiven Aderlasses der SPD an Mitgliedern seit Gerhard Schröders Regierungszeit (zumindest auf Funktionärsebene) geringe Zulauf von SozialdemokratInnen zur Partei DIE LINKE zeigen (vgl. dazu die Angaben bei Stoy/Schmid 2011: 363f.): In der Bundesrepublik wird im Unterschied etwa zu Frankreich die Bereitschaft, das Wagnis des Parteiwechsels oder gar der Abspaltung einzugehen, noch immer mit großer Skepsis betrachtet. Auch DIE LINKE-Quellpartei WASG kann, anders als bisweilen in der Literatur behauptet, nicht monokausal als Abspaltung der SPD interpretiert werden; zu heterogen fiel deren Basis aus, zu zurückhaltend verhielten sich selbst linke SozialdemokratInnen ihr gegenüber und – s.o. – zu gering blieb ihr Anteil an der Mitgliedschaft im Vergleich zu jenen, die ihrem Protest gegen die Agenda 2010-Politik durch Austritt Ausdruck verliehen.
4) Schließlich bliebe das Modell einer Fusion zwischen zwei Formationen, das eine vorherige Abspaltung zur Voraussetzung hat. Als Beispiel für dieses Modell kann die Entstehung der Partei DIE LINKE gelten (und ebenso die der Bündnisgrünen in ihrer heutigen Form). Allerdings träfe eine mögliche Fusion aus mehreren Gründen auf andere politische Gelegenheitsstrukturen sowohl im Vergleich zu ähnlichen Formationen im europäischen Ausland als auch zur anderen Seite des politischen Spektrums. Im Unterschied etwa zum französischen und italienischen Ausland hätte eine neue »rechtspopulistische« Formation den Vorteil des Alleinstellungsmerkmals. Dieser Vorteil könnte gerade in der Anfangsphase von einiger Bedeutung sein. Allerdings würde sich dieser Vorteil auch schnell in eine Schwäche umkehren. Denn Chancen auf eine Konstitution als Partei hätte die Fusion mehrerer Teilformationen nur dann, würde sie maßgeblich etwa aus früheren FunktionärInnen der Unionsparteien und der FDP gebildet, die über ausreichend Erfahrung und Durchhaltevermögen verfügen.5
Zwischenfazit
1) Solange in Deutschland die »Politik der Stigmatisierung« – d.h. die zumindest rhetorisch-strategisch errichtete Trennlinie zwischen »bürgerlicher Mitte« und der extremen Rechten – erfolgreich fortgesetzt wird und breite gesellschaftliche Kreise einen symbolischen »cordon sanitaire« um völkisch-rassistische Positionen ziehen, werden Neugründungen aus dem extrem rechten Spektrum wie auch rechtspopulistische Abspaltungen des christdemokratischen Konservatismus ohne Erfolg bleiben. Die Anonymität der Wahlkabine reicht noch nicht aus, um die oben erörterten gruppenbezogen-menschenfeindlichen Dispositionen bei Teilen der Bevölkerung so zu mobilisieren, dass die latente Einstellung in manifestes (Wahl-)Verhalten umschlägt. Diese klaffende Lücke bezeichnen wir als »electoral success gap« der populistischen deutschen Rechten. Unübersehbar ist die strukturelle Unfähigkeit, vorhandene günstige Dispositionen durch Mobilisierung in aktives Wahlverhalten zu überführen. Allerdings besteht hier in mehrfacher Hinsicht kein Grund zur Entwarnung. Denn einerseits ist die »Politik der Stigmatisierung« in ihrer jetzigen hegemonialen Position keine Selbstverständlichkeit, sondern eine Errungenschaft von mehreren Jahrzehnten antifaschistischer Mobilisierung, in denen es immer wieder Rückschläge gegeben hat. Diese Politik ist nicht ohne Widersprüche, folgt sie doch häufig einer Rhetorik, in der mit Verweis auf das Ansehen im Ausland vor der »Gefahr von rechts« gewarnt wird. Andererseits gab es unbeschadet der erfolgreichen antifaschistischen Politik auch keine erfolgversprechende Gelegenheit zur Gründung einer rechtspopulistischen Formation, weil die beiden Volksparteien deren zentrales Thema – die soziale Position der MigrantInnen – nur bedingt auf der politischen Agenda zuließen. Die Unionsparteien thematisierten migrations- und integrationspolitische Fragen in opportunistischer Weise nur dann, wenn sie sich davon elektorale Erfolge versprachen. Doch auch die SPD verzichtete nach dem sog. Anwerbestopp von 1973 darauf, die sich aufgrund der Sozialstruktur der Zugewanderten absehbar kumulierenden sozialen Probleme unter sozialdemokratischen Prämissen zu politisieren (vgl. Bornschier 2011: 18).
2) »Das wird man ja wohl noch sagen dürfen…«, lautet die BILD-Schlagzeile vom 4. September 2010, die zum Inbegriff der politischen Leerstelle geworden ist, die in anderen Ländern von rechtspopulistischen Parteien gefüllt wird. Wie oben ausgeführt, erfüllt BILD bald die wichtigsten Voraussetzungen für das »fühlende« Element eines organischen Intellektuellen der populistischen Rechten. Tatsächlich vermuteten nicht wenige Beobachter angesichts der Interventionen von BILD zugunsten von Sarrazin und zu Guttenberg, dass hier Führungsfiguren einer noch nicht existierenden politischen Rechten »gemacht« oder »verteidigt« werden sollten. »Durch solche Kampagnen«, zitiert der »Spiegel« den ehemaligen Bild am Sonntag-Chefredakteur und späteren Stoiber-Wahlkampfmanager Michael Spreng, »wird publizistisch der rote Teppich ausgerollt für eine Partei, die noch nicht gegründet ist, geführt von einem deutschen Jörg Haider« (Brauck et al./Spiegel 2011: 135).
Allerdings, so unsere These, kann auch BILD als Sprachrohr gruppenbezogen-menschenfeindlicher Ressentiments nicht das ausgleichen, was wir als »organizational gap« des deutschen Rechtspopulismus bezeichnen. Erstens bleibt der BILD-Populismus gesellschaftspolitisch halbiert – agitiert wird gegen »Ausländer«, »Sozialschmarotzer« und die politische Elite, aber die sichtbare Funktionselite der kapitalistischen Wirtschaft bleibt außen vor –, obwohl die Verkünder von Mindestverzinsungsansprüchen, von Arbeitsplatzabbau oder Standortverlagerungen nicht selten am sprichwörtlichen »Stammtisch« aufgerufen werden.6 Hinsichtlich der sozial-demagogischen Komponente hätten rechtspopulistische Kräfte wenig Inspiration, geschweige denn Unterstützung von BILD zu erhoffen. Zweitens mag es BILD und der restlichen Springer-Presse mitunter gelingen, kurzfristig Formationen auf 19,4% »hochzuschreiben« wie seinerzeit die SCHILL-Partei.
Vor allem jedoch zeigen das unprofessionelle Agieren und der rasche Zerfall von Schills »Partei Rechtsstaatlicher Offensive«, wie wenig selbst überragende Ergebnisse auf dem Terrain der Mediendemokratie mittel- und langfristig tragen, wenn nicht eine konsolidierte Organisation sie durch Kompetenzen in den »Mühen der Ebene« verhandlungsdemokratischer Arenen ergänzt (vgl. Grande 2000: 315f.). Deutlich günstiger als der korporatistisch und föderalistisch geprägte politische Prozess der Bundesrepublik käme dem manichäischen Weltbild des Rechtspopulismus eine plebiszitäre Demokratie entgegen (vgl. Rydgren 2007: 246). Bei einem Referendum eröffnet sich eher die Möglichkeit, unter Absehung der Komplexität des Sachverhalts, der unterschiedlichen Betroffenheiten, legitimen Interessenlagen und mittel- bis langfristigen Folgewirkungen politische Mobilisierungsfähigkeit zu erlangen (vgl. kritisch Sartori 1975: 157f.). Dieses indes steht in Deutschland nur selten, und auf Bundesebene bislang überhaupt nicht zur Verfügung. Es bleibt die Frage, ob die organisationspolitische Lücke der populistischen Rechten durch ein Thema mit ausreichend Polarisierungspotenzial überbrückt werden kann.
Schwäbische Hausfrau gegen »Pleite-Griechen«: Rechtspopulistisches Wiedersehen in Europa?
Die Eurokrise von 2010ff. eröffnet ein Gelegenheitsfenster für eine rechtspopulistische Formation in Europa. Ob dieses tatsächlich von rechtspopulistischen Kräften genutzt werden kann, ist nicht eindeutig vorherzusagen. Allerdings hat die (Fehl)Konstruktion der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion zusammen mit den Deutungsmustern, welche die politische Elite zur Krise etabliert hat, die Erfolgschancen eines solchen Projektes erhöht.
Es regiert in der Bundesrepublik weithin der elitäre (und empirisch nicht haltbaren Vorurteilen folgende) Reflex, Kritik an der Europäischen Integration stets mit Nationalismus, Protektionismus oder anderen negativ konnotierten Zuschreibungen zu belegen. Politische Eliten verweigerten sich bis auf wenige Ausnahmefälle, den starken von der EU auf die Mitgliedsstaaten ausgehenden Liberalisierungsdrang zu thematisieren (vgl. Höpner/Schäfer 2008: 40; Haller 2009: 443f.).
Im Zuge der Eurokrise kann sich dieser Reflex zunehmend als Falle für etablierte Eliten und als Einfallstor für eine rechtspopulistische Formation erweisen. Denn das Deutungsmuster, mit dem die Merkel-Regierung, in abgeschwächter Form auch die rot-grüne Opposition, diese Krise für die Bevölkerung begreiflich macht, ist geeignet, von einer möglichen neuen rechtspopulistischen Partei als ihre ureigene Plattform instrumentalisiert zu werden. Die Parteien mit Ausnahme der LINKEN, aber auch ein Großteil der hiesigen Presse, unterbreiten der Bevölkerung ein Deutungsmuster zur Eurokrise, indem die strukturell durch die Architektur der Währungsunion verstärkten wirtschaftlichen Ungleichgewichte keine Rolle spielen. Wenn die BILD-Zeitung ab 2010 immer wieder mit hetzerischen Titeln auftrat wie »Griechen streiten und streiken, statt zu sparen«; »So verbrennen die Griechen die schönen Euros«; »Kein Geld für Griechenland!«, »Ihr griecht nix von uns!« etc. (zitiert nach Brauck et al./Spiegel 2011: 135), so artikulierte sie im Grunde nur eine polemische Verstärkung jener Politik, die maßgeblich unter Führung von Angela Merkel und Nicolas Sarkozy gegen die Defizitstaaten durchgesetzt wurde. Mit dem Deutungsmuster der »schwäbischen Hausfrau« wurde ein Feindbild konstruiert, demzufolge die Haushaltsdefizite der krisengebeutelten Länder vor allem auf Misswirtschaft und zu großzügige Wohlfahrtsstaatlichkeit zurückzuführen seien (vgl. CDU 2011, 5ff.). Strukturelle Faktoren wie die wirtschaftlichen Ungleichgewichte, die massiv durch Lohndumping-getriebene deutsche Exportüberschüsse ermöglicht wurden, kamen dabei ebenso wenig zur Sprache wie die »anonyme Gewalt« der Kapitalmärkte. Hatte man die Finanzmärkte nach dem Ausbruch der Wirtschaftskrise 2008ff. noch als Gefahrenquelle gegeißelt, sollte ihre strukturelle Gewalt über demokratisch gewählte Regierungen unbedingt erhalten bleiben.7 Spricht die politische Elite davon, man müsse »das Vertrauen der Märkte« erhalten, ist damit nichts anderes gemeint als der Zwang der Euro-Länder, ihre Kreditwürdigkeit gegenüber den liquiden Kapitalbesitzenden dauerhaft unter Beweis zu stellen. Allerdings musste Angela Merkel schon mehrfach den Rückzug von zuvor verteidigten Positionen bekanntgeben – es zeigten sich zunehmend Risse im bürgerlichen Lager. Gegen Merkels anfänglichen Widerstand wurde doch eine Griechenland-Hilfe bewilligt, wurde trotz No Bailout-Klausel im EU-Vertrag doch ein »Euro-Rettungsschirm« geschaffen und soll nun als Europäischer Stabilitätsmechanismus (ESM) dauerhaft institutionalisiert werden.
Das bisherige Deutungsmuster, wonach ein fleißig (neoliberal) reformiertes, ordentlich haushaltendes Deutschland als Hilfszahler für undisziplinierte ausgabenfreundliche Schuldenstaaten fungiert, eröffnet den politischen Raum für einen »Überschussland«-Rechtspopulismus. Ähnlich wie von den »Wahren Finnen« bei der Parlamentswahl 2011 erfolgreich praktiziert, ließe sich mobilisieren gegen eine EU, in der anscheinend finanziell unverantwortliche Staaten, die »über ihre Verhältnisse leben«, und gegen eine abgehobene Elite, die wider eigenen Grundsätzen und Verlautbarungen diesen Ländern immer wieder zu Hilfe eilt. Absehbar wird die rigide Austeritätspolitik nicht zur Erholung, sondern zur weiteren Schrumpfung der Wirtschaft in Griechenland, Irland, Portugal und Spanien führen. Die Konsequenz: Diese Länder werden noch länger auf finanzielle Hilfe angewiesen bleiben; das bisher geplante Volumen des Rettungsschirms wird nicht ausreichen, weitere Belastungsproben für die finanzpolitisch konservativen Teile des Bürgertums sind absehbar. Eine rechtspopulistische Kritik könnte sich eine ganze Weile allein mit einem lauten »Nein!« gegen die immer stärkere Machtaneignung der neuen autoritären und intransparenten Euro-Verteilungsarchitektur als glaubwürdige Verteidigerin demokratischer Souveränität profilieren.
Die EU erschien der Bevölkerung schon lange als ein anonymer Machtkomplex und keinesfalls so positiv besetzt wie den Entscheidungseliten (vgl. Haller 2009: 46). Die daraus gespeiste Ablehnung wird absehbar durch die Eurokrise verstärkt. Sie eignet sich hervorragend für eine Politisierung von rechts, vor allem solange die Mitte-Links-Parteien sich mit Einwänden am strukturell neoliberalen Wirtschaftsregime der EU zurückhalten und der Bevölkerung kein alternatives Deutungsmuster anbieten, mit dem die EU auf demokratischer statt nationalistischer Grundlage kritisiert werden kann. Dass zuerst Frank Schirrmacher (FAZ, 1.11.2011) als aufgeklärter Konservativer den strukturellen Bankrott der bürgerlichen Demokratie vor der »anonymen Macht« der Kapitalmärkte öffentlichkeitswirksam thematisierte, muss als Hinweis dafür gelesen werden, wie wenig politische Orientierung die etablierten Parteien in dieser Frage zu vermitteln vermögen und wie wenig die Widersprüche des Topos von der Macht der Finanzmärkte reflektiert werden. Bislang trieb die erfolgreiche »Politik der Stigmatisierung« den Preis für das Wagnis einer Partei rechts der Union in die Höhe, Migrationspolitik wurde als Thema auf Kosten der Betroffenen kleingearbeitet, unterbrochen durch rassistische Ausbrüche wie die Neonazi-Anschläge Anfang der 1990er Jahre und die politisch-institutionell bislang folgenlose Sarrazin-Debatte. In der Konsequenz zeigten sich mögliche Wort- und Anführer einer zu gründenden Rechtspartei nur bedingt abkehrbereit von der Art, wie Politik in der Bundesrepublik von der Rechten bislang betrieben wird. Der britische Journalist David Goodhart hat – trotz der affirmativen Tendenz seiner Argumentation – anschaulich gezeigt, wie in der Sarrazin-Debatte das diffuse populistische Potenzial von der »bürgerlichen Mitte« – noch! – absorbiert werden konnte. Er zeigt, wie die offizielle Politik durch die o.g. Interventionen von Seehofer, Merkel und anderen eine Angleichung an »Volkes Stimme« vorgenommen hat, und schlussfolgert, »[…] dass dieses Buch trotz seiner Provokationen einen solchen Einfluss ausübte, bedeutet für Deutschland einen wichtigen Schritt vorwärts − nicht nur bei der Konfrontation mit bisherigen Versäumnissen der Einwanderungspolitik, sondern auch bei der Überbrückung der großen Kluft zwischen der öffentlichen Meinung und der politischen Klasse und folglich bei der Verhinderung eines deutschen Haider« (Goodhart 2010). Noch kann die »klaffende Lücke« überbrückt werden, noch verabschieden sich Teile des Publikums in die Apathie, noch sind breite Teil der Kritiker der Regierung nicht bereit, den organisatorischen Kraftakt zu vollziehen. Aber dies ist keine Garantie für die Zukunft: Die Eurokrise liefert eine Gelegenheit, ein Deutungsmuster, ein Publikum, ein Feindbild und vielleicht demnächst auch ein Personal, um die Abkehrbereitschaft zu erhöhen.
Alban Werner ist Doktorand der Politikwissenschaft an der RWTH Aachen und Redakteur der Zeitschrift »Das Argument«. Richard Gebhardt ist Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft der RWTH Aachen.
In einer anderen Version erscheint dieser Beitrag im Sammelband »Die neuen Rechten in Europa zwischen Neoliberalismus und Rassismus« in der Reihe »Texte der Rosa-Luxemburg-Stiftung« bei Karl Dietz, Berlin. Wir danken den HerausgeberInnen Anke Hoffstadt und Peter Bathke für die Möglichkeit der Vorveröffentlichung dieser Fassung.
1 Der unter dem Titel »Bürgerliche Absetzbewegung« (JF 52/2011-1/2012) veröffentlichte Leitkommentar des Chefredakteurs der Jungen Freiheit, Dieter Stein, ist dabei symptomatisch für die in diesem Lager dominante Einschätzung, warum konservative Repräsentanten des öffentlichen Lebens nur »bedingt abkehrbereit« sind: »Derjenige, der aus dem Kartell [gemeint sind die etablierten Parteien, d.V.] ausschert, wird fallengelassen.« (Stein 2011: 1).
2 Es wäre eine interessante (hier jedoch nicht zu klärende) sozialpsychologische Frage, warum die Anführer der »Rechtspopulisten« häufig so schillernde Figuren sind (Haider, Möllemann, Fortuyn, Wilders et al.).
3 Auf methodologische Vorsichtsgebote zu »Nicht-Ereignissen« können wir hier nicht näher eingehen; vgl. dazu Huber 2007: 214 sowie Geser 1986: 646f.
4 Außerhalb des überschaubaren Spektrums einer intellektuellen »Neuen« Rechten im Umfeld des Instituts für Staatspolitik oder der Jungen Freiheit, hat bislang nur der Berliner Philosoph Norbert Bolz die Gründung einer neuen »konservativen« Partei offen befürwortet (Bolz 2010).
5 »Da der Erfolg von Parteien [...] wesentlich von einer Mindestanzahl an Mitgliedern abhängt, lässt sich argumentieren, dass die Gründung einer neuen Partei von hochrangigen Parteimitgliedern initiiert werden muss, denn nur diese verfügen über eine ausreichende Anzahl an Unterstützern, die ihnen zu einer neuen Partei folgen würden. Zudem sind bekannte und erfahrene Politiker für junge Parteien unerlässlich, da sie Medienpräsenz garantieren und ihre Erfahrungen einbringen können.« (Stoy/Schmid 2011: 354)
6 Diesen wichtigen Hinweis verdanken wir Aram Ziai.
7 Womit wir keinesfalls einer empirisch nicht haltbaren starren Entgegensetzung von Staat vs. Finanzmarkt das Wort reden wollen. Nicht nur durch das unter der Regentschaft von Rot-Grün verabschiedete »Finanzmarktförderungsgesetz« wurden diese »anonymen Märkte« politisch von den Repräsentanten jener Staatsklasse gefördert, die nun wohlfeil ihre »Machtlosigkeit« beklagt. Auch die CDU begründet ihre Ablehnung europäischer Gemeinschaftsanleihen ausdrücklich damit, dass die Haushaltspolitik demokratischer Staaten eben durch die ansonsten gegeißelten »Finanzmärkte« diszipliniert werden solle: »Wir vertreten den Grundsatz, dass jeder Staat für die Entwicklung seiner Verschuldung letztendlich selbst verantwortlich sein muss. Dazu zählt, dass die Entwicklung der Verschuldung für die Staaten auch über die entsprechend zu zahlenden Anleihezinsen spürbar sein muss. Das ist ein zentrales Element funktionierender Finanzmärkte.« (CDU 2011: 20)
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