Umkämpftes Wikipedia

Wikipedia ist der Versuch, Wissen für viele frei zugänglich zu machen - und die Hoffnung, das subjektive Wissen der Einzelnen durch die Mitarbeit der Vielen objektiver zu machen. Was ist aber, wenn Wissen und finanzielle Interessen kollidieren? Auch in Wikipedia ist Zeit Geld oder Geld Zeit: Wer am meisten mitarbeitet, kann auch am meisten beeinflussen.

Ein Beispiel vorneweg: Wer im deutschsprachigen Wikipedia „gentechnisch veränderte Pflanze“ eingibt, wird auf „Grüne Gentechnik“ umgeleitet - anders als im englischsprachigen Wikipedia, wo tatsächlich „genetically modified plant“ erklärt wird. Dass sich der Begriff „Grüne Gentechnik“ mit seinem hübschen Klang durchgesetzt hat (1,6 Millionen Treffer bei Google statt circa 0,5 Millionen für die „gentechnisch veränderte Pflanze“) ist an sich schon ein Erfolg der Agro-Gentechnik. Wikipedia spiegelt diesen Erfolg nur wider. Interessant ist aber, welche Informationen zur Grünen Gentechnik angeboten werden - doch davon später...

Wikipedia und „Astroturfing“

Laut Wikipedia bezeichnet Astroturfing, „auch Kunstrasenbewegung genannt, insbesondere im US-amerikanischen Sprachraum politische Public-Relation und kommerzielle Werbeprojekte, die darauf abzielen, den Eindruck einer spontanen Graswurzelbewegung vorzutäuschen“. Wikipedia ist eine solche spontane Graswurzelbewegung, und wer sich heute über ein Sachgebiet informieren will und Zugang zum Internet hat, tut dies oft zunächst bei Wikipedia. Diesen ersten Eindruck von einem Thema zu kontrollieren ist für PR-Zwecke höchst interessant. Denn tatsächlich bietet Wikipedia für viele Sachgebiete, meistens unter der Überschrift „Kritik“, gleich schon die Kontroversen und Streitfragen innerhalb eines Sachgebietes mit an. Wer ein Interesse daran hat, diese Kontroversen unter den Teppich zu kehren, kann versuchen, das, was in Wikipedia zu einem Thema gesagt wird, zu beeinflussen - durch Astroturfing.

Bei Wikipedia funktioniert das nur durch subtile Beeinflussung, nämlich durch Mitarbeit beim Projekt. Wikipedia finanziert sich über Spenden, hat sich Transparenz auf die Fahnen geschrieben und baut auf unzählige freiwillige und unbezahlte MitarbeiterInnen. Die „Währung“, die bei Wikipedia zählt, ist Arbeitszeit und Fachwissen. Wer sich als konstante MitarbeiterIn erweist, steigt innerhalb der Hierarchie auf und bekommt erweiterte AdministratorInnen-Rechte. Ein System von gegenseitiger Kontrolle soll die Unabhängigkeit und Objektivität der gebotenen Informationen herstellen und bewahren. Wenn man sich die Bearbeitungsgeschichte einzelner, besonders umkämpfter Begriffe anschaut, findet man ein ständiges Hin und Her von Editierungen und Löschungen. Wer die Arbeitszeit von ExpertInnen bezahlen kann, ist damit im Vorteil gegenüber den unzähligen FreizeiteditorInnen. Dass dies tatsächlich ein Problem ist, verrät ein Blick auf die Liste der so genannten „Beobachtungskandidaten für Vandalismus“ bei Wikipedia.(1) Unter der Rubrik „Verdacht auf Astroturfing“ sind viele Begriffe zu finden, die für Groß-Industrien wie die Agrar-, Atom- oder Ölindustrie interessant sind: Zum Beispiel Globale Erwärmung, Land Grabbing, Kernenergie (nicht Atomenergie!), Anti-Atomkraft-Bewegung Deutschland, globales Ölfördermaximum, Energiesparlampen und so weiter. Wikipedia merkt dabei selbst an, dass dies Stichworte sind, „bei denen einzelne Nutzer ganze Arbeitswochen darauf verwenden, die Positionen einiger nicht sehr umweltfreundlicher Industriezweige zu propagieren, und anderweitiges Quellenmaterial häufig gelöscht wird“.(2)

Wikipedia und Gentechnik

Dass Begriffe im Themenfeld der Gentechnik umkämpft sind, ist daran abzulesen, dass einige von ihnen auf der Liste der Wikipedia-Beobachtungskandidaten stehen: Glyphosat, der Saatgutkonzern Monsanto, Gentechnik und Grüne Gentechnik gehören dazu.

Ein Klick auf den Link „Diskussion“, den es für jeden der Begriffe gibt, macht deutlich, welche Fragen umstritten sind:

Bei Glyphosat ist es die Gefährlichkeit, bei Monsanto ist es die Außendarstellung des Konzerns im weitesten Sinn, bei der Gentechnik fehlt der Punkt Kritik gleich ganz. Bei dem besonders interessanten Fall des Begriffs Grüne Gentechnik wird Kritik nur als Unterpunkt, nämlich als „Kritik an der Restriktion“ (also der strengen Gesetzgebung) aufgenommen. Der überlange Artikel (40 gedruckte Seiten) behandelt die eigentliche Kritik an der Technologie ganz am Rande mit ausgesucht schwachen Quellen, stellt demgegenüber aber ausführlich Wirtschaftsdaten der beteiligten Firmen dar. Ein besonderer Witz ist das Kapitel „Umweltauswirkungen“, das mit dem Unterkapitel „Umweltschutz“ und mit folgendem ersten Satz beginnt: „Transgene Pflanzen können den Umweltschutz verbessern, was bereits in Anbauländern nachgewiesen wurde.“ Na dann Prost, Monsanto.

Wiederum anders als bei Grüne Gentechnik funktioniert es bei dem Begriff Gentechnikfreie Region: Er findet sich nicht als eigenes Stichwort in Wikipedia, obwohl er der verbreitetere Begriff ist (circa 300.000 Treffer bei Google), während Gentechnikfreie Zone (175.000 Treffer bei Google) sehr wohl in Wikipedia vertreten ist. Der Lexikon-Eintrag beginnt mit der tendenziösen und irreführenden Aussage: „Gentechnikfreie Zone ist ein Begriff, der im politischen Meinungskampf eingesetzt wird.“(3)

Der Fall Katach

Astrorturfing oder nicht? Es ist oft stark zu vermuten, aber wohl fast nie zu beweisen. Der Administrator „Katach“ leistete bei Wikipedia im breiten Themenfeld Agarindustrie über zwei Jahre im wahrsten Sinne des Wortes ganze Arbeit. Auch ein Leser der Wochenzeitschrift Freitag merkte zu einem (übrigens sehr interessanten) Artikel zum genannten Thema Astroturfing als Kommentar an: „Astroturfing ist definitiv auch in der deutschen Wikipedia ein Problem. Beispiel zum Stichwort ‚Monsanto‘: Da gibt es einen Benutzer mit Kennung Katach, der in eben diesem Artikel aggressiv ausgesprochen konzernfreundliche Positionen vertritt. Wenn man sich die Liste der Benutzerbeiträge von ‚Katach‘ über eine längere Zeit anschaut, dann erstellt diese Kennung fünf Tage die Woche, montags bis freitags, tagsüber derartige Beiträge. Am Wochenende hat diese Person anscheinend frei.“(4)

Katach ging konsequent und sprachlich subtil vor, löschte kritische Quellen mit dem Argument der „Wissenschaftlichkeit“, zitierte aber Befürworter. Insgesamt lief es nach dem Muster: Vorteile der Technologie sind Tatsachen, Nachteile sind nur Vermutungen.

Andere Themen, in denen dieser Wikipedianer seinen Beitrag leistete, waren neben Grüner Gentechnik: Gentechnik, Monsanto, Transgene Baumwolle, Transgener Raps, Transgener Mais, Transgene Sojabohne, Biopatent und viele weitere. Im November 2011, nach „Vandalismus“-Vorwürfen und dem mehrfach geäußerten Verdacht auf heimliche Lobbyarbeit, ließ Katach sich auf eigenen Wunsch sperren und sein Benutzerkonto löschen.

Jetzt editieren! Grüne Gentechnik, Monsanto, Glyphosat

Und wie weiter? Nachdem der umtriebige Katach gesperrt ist (wenn er nicht unter einem anderen Namen weitermacht), lohnt es sich also wieder, Energie zu investieren, um die Breite von Themen wie Grüne Gentechnik oder Monsanto zu gewährleisten. Dass die Informationen in Wikipedia sich im Fluss befinden und in der Informationsgesellschaft eine umkämpfte Ware darstellen, ist schon einmal ein guter Anfang und sollte als Chance gesehen werden, der Öffentlichkeit relevante und kritische Informationen zur Verfügung zu stellen. Jede/r kann sofort mitmachen! (Abgesehen von den ersten Hürden: der Anmeldung, der Freischaltung nach vier Tagen und dem Pensum an Mitarbeit, das geleistet werden will, um in der Hierarchie aufzusteigen.)

Auf jeden Fall sollten Meldungen wie: „Die Neutralität dieses Artikels oder Abschnitts ist umstritten.“ wirklich ernst genommen werden. Sie sind ein erster Hinweis darauf, dass die Informationen zu einem Begriff umkämpft sind. Dann ist es angezeigt, sich auch die Wikipedia-Diskussionsseite zu einem Begriff anzusehen, um die strittigen Punkte zu finden.

 

Uwe Wendling ist Mitarbeiter des Gen-ethischen Netzwerk.

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Fußnoten:

(1)            http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Beobachtungskandidaten#Verdacht_auf_Astroturfing (abgerufen am 20.01.2012).

(2)            Ebenda.

(3)            http://de.wikipedia.org/wiki/Gentechnikfreie_Zone (abgerufen am 20.01.2012).

(4)            www.freitag.de/wissen/1049-nieder-mit-dem-kunstrasen (abgerufen am 20.01.2012).