Arbeitssoziologie: Jenaer Soziologenkonferenz sucht das „revolutionäre Subjekt“

[zuerst in: »die neue linke«, Weimar, Ausgabe 12, Juli/August 2011]

In Jena debattierten vom 8. bis 10. Juni 2011 Forscher über Strukturwandel und »Arbeitsbewußtsein«. Anfang der 1980er Jahre hieß es noch, der »Arbeitsgesellschaft« gehe die Arbeit aus. Tatsächlich ist die altbekannte, in sozialen Auseinandersetzungen dominante Arbeiterklasse inzwischen unauffindbar.

Das Wissen um die von Arbeitsrechtprofessor Ulrich Mückenberger Mitte der achtziger Jahre diagnostizierte »Krise des Normalarbeitsverhältnisses« ist inzwischen Allgemeingut. Weltweit machen Kernbelegschaften nur noch 20 Prozent aller Arbeitskräfte aus, so auf der Jenaer Tagung deren Mitveranstalter Klaus Dörre (eingeladen hatten das Jenaer Zentrum für interdisziplinäre Gesellschaftsforschung, das Verbundprojekt »Externe Flexibilität und interne Stabilität im Wertschöpfungssystem Automobil« und dem Sonderforschungsbereich 580 der Uni Jena).

Jenaer Forscher präsentierten ihr Befragungsergebnis, es gäbe in Großbetrieb-­Stammbelegschaften ein gespaltenes Bewußtsein (»Guter Betrieb – schlechte Gesellschaft«). Vielleicht verabsolutierten sie da das Sonderbewußtsein, das im Carl-Zeiss-Betriebsmodell vorherrscht; das schon Karl Korsch imponierte und das auch die DDR-Jahr­zehnte überdauerte. Jedenfalls relativierte Stephan Voswinkel (Institut für Sozialforschung, Frankfurt/Main) jenen systemkritisch anmutenden Befund: Das Unbehagen an der Gesell­schaft sei nämlich »nicht verbunden mit der Vorstellung einer grundsätzlichen Veränderbar­keit«. Auch »die These vom guten Betrieb« müsse relativiert werden, setzte Hilde Wagner von der Tarifabteilung der IG Metall noch eins drauf: »Die Identifikation mit dem Betrieb geht eher zurück, die Kritik an der Unternehmensführung wird größer.« Wolfgang Menz (Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung, München) ergänzte: »Der Betrieb ist im Gegenteil zentraler Ort tiefgreifender Ohnmächtigkeitserfahrungen.« Weil der Betrieb kein Adressat für Protest sei, würde Kritik – oft nur verbalradikal – auf das Gesamtsystem, auf Politik und Staat verschoben.

Der Wandel des Forschungsinteresses, vom »Arbeiter-« zum »Arbeitsbewußtsein«, den die Jenaer Tagung reflektierte, macht die Lektüre alter Schriften, etwa zu Serge Mallets Theorie der Neuen Arbeiterklasse, wieder interessant (Frank Deppe: »Das Bewußtsein der Arbeiter – Studien zur politischen Soziologie des Arbeiterbewußtseins«, Köln 1971); wobei der gu­ten alten marxistischen Lehre verpflichtete »Widerlegungen« von Mallet, Horst Kern, Michael Schumann oder Martin Baethge heute mitunter fragwürdiger erscheinen als jene damals immerhin neue Entwicklungen aufspürende Autoren (Frank Deppe erinnerte in Jena auch noch an Bruno Trentin). In Ernst Jüngers »Adnoten zum ‚Arbeiter‘« hätte man, verglichen mit manchem damaligen Traktat von links, geradezu Hellsichtiges entdecken können: »Der Arbeitstag zählt vierund­zwanzig Stunden; demgegenüber bleibt die Unterscheidung von Arbeits- und Freizeit se­kundär. … Daß sich innerhalb derselben Ordnung die Leistung mehren und die individuelle Arbeitszeit verkürzen kann, ändert nichts an ihrem Rhythmus und dessen wachsender Ra­sanz. Es fördert sie sogar.« Das liest sich als würde es aus den Beschleunigungsanalysen von Dörres Jenaer Soziologiekollegen Hartmut Rosa stammen.

Diskutiert wurde in Jena sodann, inwiefern das scheinbare »Verschwinden der Arbeit« hier­zulande (prognostiziert von Hannah Arendt Anfang der sechziger Jahre, skizziert von Her­mann Glaser: »Das Verschwinden der Arbeit – Die Chancen der neuen Tätigkeitsgesell­schaft«, Düsseldorf/Wien/New York 1988) mit einer neuen internationalen Arbeitsteilung zusammenhängt. Wer Michael Glawoggers Dokumentarfilm aus dem Jahr 2005 über harte Jobs im Zeitalter der Globalisierung »Workingman’s Death« gesehen hat, weiß, wie in an­deren Weltregionen noch geschuftet wird; Birgit Mahnkopf erinnerte in Jena an diese inter­nationale Arbeitsteilung und Frank Deppe spekulierte über die »Wiederherstellung einer neuen Arbeiterklasse in China«. Zwar erscheinen inzwischen wieder Buchtitel wie »Kein Ende der Arbeitsgesellschaft« (Gert Schmidt, Berlin 1999), aber Arbeiter-, nicht Arbeits­bewußtseinsforscher Michael Schumann konstatierte den Verlust des revolutionären Sub­jekts hierzulande: »Für die Revolution hat keiner mehr eine Perspektive, also wird sie nicht kommen«. Was bleibt?

Bei manchen, im Hinblick auf aktuelle Jugendproteste in Spanien, die Hoffnung auf »spani­sche« oder »französische Verhältnisse«, die seit Heinrich Heines ebenso betitelter Veröffentlichung von 1833 hierzulande legendär sind. Man entdeckt erschreckend uninformierte Politiker und Intellektuelle, die sehnsüchtig nach Spanien gucken oder sich »französische Verhältnis­se« wünschen, obwohl sie sogar bei ihren Mallorca-Trips oder Provence-Reisen erfahren könnten, wie korrupt es (nicht nur) auf der Baleareninsel zugeht, wie autoritär und inflexi­bel Staat und Betriebe in Frankreich strukturiert sind, so daß Widerspruch auf die Straße verlagert und nicht von Institutionen absorbiert wird. Dabei gilt Friedrich Engels' Diktum 1895 aus der Einleitung zu Karl Marx »Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850«, daß sich der »Schwerpunkt« der europäischen Bewegung »von Frankreich nach Deutschland verlegt« habe, weil hier modernere Staatsformen zum «instrument d'émancipation» zur Verfügung stehen, weiterhin. Schon damals war »Moses Heß' Projekt einer deutsch-französischen Arbeitsteilung« (Wolfgang Eßbach, in: Marianne - Germania / Deutsch-französischer Kulturtransfer im europäischen Kontext 1789-1914, Leipzig 1998) gescheitert, das aber offenbar in den Köpfen nicht weniger Linker weiterwabert. Dabei hatte - Eßbach zitiert das in seinem Essay - Moses Heß durchaus gewarnt: »Deutschland darf seinen eigenen Maßstab nicht an Frankreich und England legen«, und Eßbach zitiert auch Proudhons Brief an Marx vom 17. Mai 1846, ein Plädoyer wider die Intronisierung eines Gesellschaftsmodells als »das« Modell der sozialien Bewegung und mithin implicite die Absage des Franzosen an jenes Modell einer deutsch-französischen Arbeitsteilung: »Doch, bei Gott! denken wir unsererseits nicht daran, das Volk von neuem zu schulmeistern, nachdem wir a priori allen Dogmatismus zerstört haben [...] geben wir der Welt das Beispiel einer weisen und vorausblickenden Toleranz; versuchen wir nicht, weil wir an der Spitze der Bewegung stehen, uns zu Führern einer neuen Unduldsamkeit zu machen.«

In Artikel 34 der französischen Verfassung ist festgelegt, welches die Gesetzgebungskompetenzen sind. Alles andere kann mit Dekreten des Präsidenten geregelt werden, was der Staatsrechtslehrer Stéphane Pierre-Caps erläutert: »Frankreich hat kein parlamentarisches System wie Deutschland.«  Verglichen mit der Residenz des Prä­fekten im Département Pas de Calais verfügt, wie Peer Steinbrück als einstiger Minister­präsident des größten Bundeslandes Nordrhein-Westfalen einmal sagte, der NRW-­Ministerpräsident nur über eine Art Dixi-Klo, gleichzeitig kennzeichnet Frankreichs Arbeitsleben der »unterentwickelte soziale Dialog« (CFDT-Gewerkschafter Jean Kaspar vis-à-vis des »Bossnappings« in »Le Monde«); daß nach französischem Wahlrecht der Wille von 40 Prozent der Wähler im Parlament nicht vertreten ist und daß französische Parlamentsabgeordnete in ihrer schwachen Position, beispielsweise, überhaupt erst seit 2007 ihre Ta­gesordnung selbst festlegen dürfen, weil Sarkozy sein Recht hierzu abgab, all das scheinen die deutschen Französische-Verhältnisse-Träumer nicht zu wissen oder jedenfalls nicht einzukalkulieren.

Andere »Mosaiklinke« (Klaus Dörre) revitalisierten Fritz Naphtalis sozialdemokratisches »Wirtschaftsdemokratie«-Konzept von 1928. Angesichts des modernen, subjektiv internali­sierten Arbeitszwangs (mit hohen psychischen Kosten; Burnout erreicht auch die »selbst­bestimmte« IT-Branche) verdient die Gewerkschaftsinitiative »Gute Arbeit« Beachtung. So wird ein gewerkschaftlicher Vorstoß aus der sozialliberalen Ära der siebzi­ger Jahre (Hans Matthöfer: »Humanisierung der Arbeit und Produktivität in der Industriegesellschaft«, Köln – Frankfurt/Main 1977) anders, als kollektive Lösung bei individueller Ansprache, revitali­siert. Bewußtseinsforscher Dieter Sauer updatete das Kollektiv: »Es geht Veränderung nur, wenn sie durch das Nadelöhr individuellen Interesses geht«.